Nach zweijähriger Pandemie, Lockdown und Isolation war den Teilnehmerinnen und Teilnehmern das Bedürfnis nach persönlichem Austausch und Gespräch anzumerken. Zahlreiche Gäste aus Politik, Kirche, Medien, Wissenschaft und Verbänden sowie viele interessierte Kirchentagsbesucher nutzten die Gelegenheit zur Diskussion und zum Austausch. Thema des Abends war die Frage: Stimmt angesichts von Krieg, Klimawandel und sozialer Spaltung unser Wertekompass noch?
Auf die unterschiedlichen Transformationsprozesse, die ein erneutes Nachdenken über das Verhältnis von Werten, Glauben, Kirche, Politik und Gesellschaft notwendig machten, wies Prof. Dr. Norbert Lammert, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestages, in seiner Begrüßung hin. Als wichtigster dieser Prozesse benannte er den empirischen Befund, dass in diesem Jahr die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland erstmals weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung betrage. „Dies ist nicht allein durch den demographischen Wandel begründbar, sondern auch geprägt von einer Zögerlichkeit, neue Bindungen einzugehen“, sagte Lammert.
Akteure der politischen Bildung wie die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Hanns-Seidel-Stiftung stünden in einer besonderen Verantwortung, das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften neu zu begründen und dabei auch Foren wie den Katholikentag zu nutzen. „Denn für uns ist die Frage nach der religiösen Verfassung einer Gesellschaft nicht weniger wichtig als die nach der wirtschaftlichen und politischen Verfassung“, so Lammert.
Das anschließende moderierte Gespräch thematisierte die Frage nach Wertorientierungen angesichts globaler sicherheitspolitischer Herausforderungen. Im Fokus stand hierbei natürlich der russische Angriff auf die Ukraine. Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, wertete es als starkes solidarisches Zeichen, dass 27 EU-Staaten an der Seite der Ukraine stünden. Vor allem die große Aufnahmebereitschaft für ukrainische Flüchtlinge überall in Europa zeige „das Gesicht und den Wertekompass der Menschen.“ Gleichzeitig zeige aber auch das Ringen um Waffenlieferungen die Unterschiede in Wahrnehmungen und Herangehensweisen beim gemeinsamen Ziel der Friedenssicherung. Bürokratische Prozesse, so Weber weiter, dürften hier kein Hindernis sein. Dort, wo solche Prozesse Entscheidungen und Reformen verlangsamten und behinderten, sei es Auftrag der europäischen Politik die „Architektur zu prüfen“.
Die Präsidentin des deutschen Caritasverbands, Eva Welskop-Deffaa, wies im Anschluss darauf hin, dass die kriegsbedingten Preissteigerungen im Bereich der Lebenserhaltungskosten vor allem sozial Schwache träfen. „Wir müssen dafür sorgen, dass dies nicht zu Spannungen führt und die gesellschaftliche Solidarität dauerhaft gefährdet“, mahnte Welskop-Deffaa. Eine wichtige Aufgabe ihres Verbandes sei es daher, auf eine soziale Abfederung der Preisentwicklungen hinzuwirken. Dies sei nicht zuletzt Gebot eines christlich orientierten Wertekompasses. Der Katholikentag böte vielfältige Gelegenheiten über diese Fragen nachzudenken und dabei auch den Freiheitsbegriff zu diskutieren. Dieser müsse gemäß dem Leitwort „leben teilen“ „sozial orientiert, mit Leben gefüllt und neu begründet“ werden.
Diesen Gedanken führte Dr. Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) fort und machte darauf aufmerksam, dass Politik sich an Wertegrundlagen der christlich sozialen Idee orientieren solle. „Es bedarf die Lebenswirklichkeit der Menschen zu erkennen und anzuerkennen, um politische Entscheidungen treffen zu können“, so die ZdK-Präsidentin. Der Katholikentag sei das richtige Forum um Erfahrungen, politische Auffassungen und Argumente zu teilen. Dazu gehöre es aber auch Widerspruch auszuhalten und neue Konzepte zu entwickeln. Markus Ferber, Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung, wies abschließend darauf hin, dass die Neujustierung eines Wertekompasses keine leichte Aufgabe sei und „schnell politisierend“ werde. Die Frage nach dem Wertekompass müsse deshalb immer im Kontext der Debatte um die Art und Weise wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen, gestellt und beantwortet werden.
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