Bilanz der 1. Legislaturperiode von Mitsotakis – Stationen einer turbulenten Zeit?
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Wenige Monate nachdem Kyriakos Mitsotakis 2019 die Regierung des Landes übernahm, war Griechenland mit einer in den letzten 80 Jahren noch nie dagewesenen Situation konfrontiert: Am 22. März 2020 verkündete der Regierungschef offiziell den ersten Corona-Lockdown im Land. Das nationale Gesundheitssystem, welches sich bereits damals in einer schwierigen Situation befand und immer noch befindet, wurde auf eine harte Probe gestellt und war enormem Druck ausgesetzt. Die psychologischen und mentalen Folgen der Abriegelung trafen die Gesellschaft hart und die wirtschaftlichen Auswirkungen auf Griechenland waren erheblich; das Land, in dem sich das Leben auf der Straße abspielt, stand plötzlich still. Aber die Regierung Mitsotakis manövrierte die Hellenen besser als andere EU-Staaten durch diese Krise.
Die Tendenz für eine wirtschaftliche Erholung und Entspannung nach der Corona-Krise wurde durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine abrupt gestoppt. Mitsotakis stand der Ukraine von Anfang an mit humanitärer und verteidigungspolitischer Unterstützung zur Seite und setzte die gesamteuropäischen Sanktionen gegen Russland vollständig um, obwohl viele Griechen eine positive Haltung zu Russland haben. Die russische Invasion verschärfte eine sich bereits abzeichnende Energiekrise. Diese Krise hat sowohl die Europäische Union als auch Griechenland schwer getroffen, da die steigenden Energiepreise im Winter für viele Griechen mit einem Durchschnittslohn von 1.100 bis 1.300 Euro schwer zu bewältigen waren. Aber auch durch die Energie- und Inflationskrise steuerte die Regierung die Hellenen mit Subventionen der Energiepreise, mit Hilfe von Lebensmittelgutscheinen sowie mit Verhandlungen mit Unternehmen, sodass die Inflation 2022 und im 1. Halbjahr 2023 in Griechenland im EU-Vergleich eine der niedrigsten war.
Dieses Mosaik von Entwicklungen wurde außenpolitisch noch durch die konstant provokative Haltung der Türkei gegenüber Griechenland komplettiert. Der östliche Nachbar verletzte in den letzten Jahren systematisch den griechischen Luftraum durch Überflüge. Allein im Jahr 2022 wurden über 10.000 türkische Luftraumverletzungen registriert. Hinzu kam, dass die politische Rhetorik Erdogans und seiner Regierung durchweg provokativ war: Äußerungen wie „Athen verfolgt eine expansionistische und aggressive Politik, die Instabilität schürt“ oder Griechenlands „feindselige“ Haltung „zeigt, dass es über die Maßen arrogant geworden ist, dass es die grundlegenden Prinzipien und Werte der NATO ignoriert.“ (Türkischer Verteidigungsminister Houloussi Akar, 2022). Der türkische Präsident drohte darüber hinaus mit einem Raketenangriff auf Athen oder mit der Besetzung von Inseln in der Ägäis. Nicht zuletzt instrumentalisierte die Türkei die Migrationsfrage, indem sie u. a. irreguläre Migranten an die griechische Grenze drängt. Gleichzeitig ertönt aus dem Mund des damaligen türkischen Außenministers Mevlut Cavusoglu: „Es gibt bereits einen systematischen Angriff auf das Leben von Migranten, zum Beispiel Griechenlands Pushbacks in der Ägäis – mit dem Ergebnis, dass viele Menschenleben verloren gegangen sind. Gleichzeitig ist es äußerst bedauerlich zu sehen, dass die Frontex zu all diesen Aktivitäten beigetragen hat." Es gibt immer wieder Anschuldigungen von Nichtregierungsorganisationen wegen angeblicher illegaler Zurückweisungen aus Griechenland. Diese Vorwürfe sind nie eindeutig belegt worden, werden aber von der Türkei benutzt, um Griechenland angeblicher Menschenrechtsverletzungen zu beschuldigen.
Die Regierung von Mitsotakis reduzierte die Zahl der illegal eingereisten Person im Jahr 2022 auf 13.500; Maßnahmen wie eine verstärkte Kontrolle der Seegrenze, Rückführungen und der Zaunbau am Evros stießen schon immer auf breite Zustimmung; diese ist in den letzten Jahren noch gewachsen.
Schließlich sei noch auf das Zugunglück in Tempi hingewiesen, das sich am 28. Februar 2023 ereignete und bei dem es zu einem Frontalzusammenstoß zwischen einem Personenzug der Hellenic Train und einem Güterzug kam. Nach offiziellen Angaben kamen bei dem Unfall 57 Menschen ums Leben. Das Unglück führte zu einer Reihe von politischen Konsequenzen. In Griechenland wurde eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen, der damalige Minister für Infrastruktur und Verkehr, Konstantinos Karamanlis, trat zurück, und der jetzige Außenminister Georgios Gerapetritis übernahm dessen Amt. Mehrere Wochen lang war der Vorfall Gegenstand heftiger politischer Kontroversen; zahlreiche Kundgebungen und Demonstrationen wurden organisiert. Die Regierung führte einen neuen institutionellen Rahmen mit Verbesserungen für die Eisenbahnsicherheit ein und somit hatte das Zugunglück keinen unmittelbaren Einfluss mehr auf die Parlamentswahlen im Mai und danach im Juni.
Es lohnt sich, im Folgenden die Gründe zu analysieren, warum es Kyriakos Mitsotakis trotz der objektiv ungünstigen Bedingungen gelungen ist, sich politisch durchzusetzen, das Bündnis der Radikalen Linken (SYRIZA) strategisch zu besiegen und die griechischen Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, dass er der am besten geeignete Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten sei.
Die Ergebnisse im Einzelnen
Am 25. Juni 2023 errang Kyriakos Mitsotakis mit seiner NEA DIMOKRATIA (ND) einen klaren Sieg über die Partei SYRIZA von Alexis Tsipras. Mit 40,6% der Stimmen stellt sie künftig 158 von 300 Abgeordneten im griechischen Parlament. Demgegenüber kam SYRIZA auf 17,8% und 48 Sitze. Der Unterschied von fast 23 Prozentpunkten ist damit dreimal so groß wie der Unterschied bei den Wahlen 2019. In dieser Tatsache manifestiert sich nicht nur die politische Dominanz der ND, sondern auch eine strategische Niederlage für SYRIZA. Außerdem ist es ein seltenes Phänomen in der griechischen Politik, dass eine regierende Partei ihren Anteil nach einer ersten Amtszeit erhöhen kann (ein ähnliches Ergebnis wurde seit 1974 nicht mehr erreicht).
Die sozialistische Partei (PASOK) und die kommunistische Partei (ΚΚΕ) konnten ihre Anteile gegenüber der letzten Wahl (21.5.2023) leicht auf 11,8% bzw. 7,7% steigern. Die politische Aufmerksamkeit konzentriert sich unterdessen auf den Wahlerfolg der neu gegründeten rechtsextremen Partei „Spartiates“ sowie auf den Einzug von zwei weiteren rechten Parteien in die „Vouli“ (Parlament). Die „Spartiates“ sind zu einer politischen Kraft geworden, da der Oberste Gerichtshof im Vorfeld der Wahlen eine andere rechtsextreme Partei, die „Griechen“, verboten hatte und ihr inhaftierter Gründer, Ilias Kasidiaris (Golden Dawn / Goldene Morgenröte), die „Spartiates“ unterstützte. Zusammen mit der nationalistischen „Elliniki Lysi“ (Griechische Lösung) und der ultrakonservativen/-orthodoxen „Niki“ erhielten diese drei Parteien fast 13% der Stimmen und 34 Sitze.
Die Ausnahme – Die muslimische Minderheit in Rodopi
Der Sieg von Kyriakos Mitsotakis war in allen Wahlkreisen Griechenlands überwältigend, die einzige Ausnahme bildete der Wahlkreis Rodopi (siehe Karte unten), in welchem SYRIZA mit 33,6% vor der ND (28,9%) lag. Laut Beobachtern ist Erfolg von SYRIZA in Rodopi mit dem Einfluss des türkischen Konsulats in Komotini auf die muslimische Minderheit in Thrakien zu erklären. Der „auserwählte Abgeordnete“ des türkischen Konsulats in Komotini, Özgur Ferhat (SYRIZA), wurde bei den letzten Wahlen mit 12.208 Stimmen zum Abgeordneten von Rodopi gewählt. Der bisherige Abgeordnete Dimitris Haritou (SYRIZA) kam nur noch auf 3.902 Stimmen, ein Abstand von 8.306 Stimmen. Haritou war in "Ungnade" beim Konsulat gefallen und so gehen die meisten Beobachter davon aus, dass es aus dem Konsulat entsprechende Wahlhinweise an die muslimische Gemeinschaft zur Wahl von Özgur gab. Die Kritik an der völkerrechtswidrigen Einflussnahme des Konsulats kam dabei auch aus den Reihen von SYRIZA selbst: Eleni Laftsis (ein prominentes SYRIZA-Mitglied in Rodopi) bezeichnete Özgur Ferhat als „treuen Anhänger des türkischen Konsuls in Komotini“.
Warum hat Kyriakos Mitsotakis gewonnen?
1. Gute Wirtschaftszahlen. Mitsotakis hat für seine positive Agenda klare Maßnahmen vorgestellt und kann auf objektiv gute Rahmenbedingungen verweisen: 3 bis 5% Wirtschaftswachstum (über dem EU-Durchschnitt), deutlicher Anstieg ausländischer Investitionen, Rückkehr an die internationalen Finanzmärkte und ein starker Rückgang der Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig haben die Arbeitsmarktreformen und die Digitalisierung des Staates (ein typisches Beispiel ist der Impfprozess während der Pandemiezeit) das Ansehen der Regierung gestärkt.
2. Die Wiederherstellung des Ansehens des Landes im Ausland. Das Image Griechenlands ist heute nicht mehr so wie in den 2010er Jahren: Die Haltung der Regierung in der Ukraine-Frage, die rationalen und moderaten Antworten auf türkische Provokationen und die entsprechenden Investitionen in die Sicherheit des Landes, die hervorragende Vertretung im Ausland (z.B. der Einfluss innerhalb der EVP oder auch die Rede des Premierministers vor dem US-Kongress). Dies kommt auch im Land an und schafft neues Selbstvertrauen und Motivation.
3. Stabiles Narrativ und Fokus auf das Morgen. Das Endergebnis hat die Strategie von Kyriakos Mitsotakis voll bestätigt, der vom ersten Moment des Wahlkampfes darauf bestand, über die Zukunft des Landes und die Perspektiven zu sprechen, die sich mit einem klaren Sieg der ND eröffnen würden. Er ging das Risiko ein, klar zu erklären, dass er mit keiner anderen Partei zusammenarbeiten werde, und er lehnte von Anfang an das System des einfachen Verhältniswahlrechts ab, das unter der SYRIZA-Regierung verabschiedet worden war. (Dieses System galt beim ersten Urnengang am 21. Mai. Dadurch wurde verhindert, dass Mitsotakis schon damals eine Regierung bilden konnte)
4. Persönliches Auftreten. Mitsotakis ist es gelungen, auf allen Kommunikationskanälen und in der Öffentlichkeit stark präsent zu sein. Dem jeweiligen Medium angepasst trat er authentisch, offen und freundlich auf. Er tourte durch viele kleine Orte und war auf der „Platia“ sehr zugänglich (Umarmungen, hand shakes, usw.). Insbesondere seine TikTok-Videos erreichten viele neue und Erst-Wähler. In alle Umfragen lag Mitsotakis bei den Persönlichkeitswerten mit über 30% Abstand vor Alexis Tsipras.
5. Das Fehlen einer ernsthaften Opposition von SYRIZA. Während der letzten Wahlperiode gab es kein Bündel von Maßnahmen oder Vorschlägen von SYRIZA mit etwaigen Ideen und Vorschlägen, wie man das Land führen und gestalten wolle. Mit teils harten Worten arbeitete man sich allein an der bisherigen Regierung ab. Die Stärkung der PASOK als Oppositionskraft hängt mit dieser fehlenden konstruktiven Oppositionsarbeit durch SYRIZA zusammen.
SYRIZA befindet sich in einer Phase der Selbstorientierung – Tsipras' Rücktritt
Nach den beiden Niederlagen bei den Parlamentswahlen im Mai und Juni trat Alexis Tsipras von der SYRIZA-Führung zurück. Die kommenden Monate werden für SYRIZA eine Zeit der Introversion sein, in denen viele Spitzenpolitiker wie der ehemalige Finanzminister Efklidis (Euklid) Tsakalotos oder die ehemalige Arbeitsministerin Efi Achtsioglou um die Führung von SYRIZA kämpfen werden. Der Termin für die Wahl eines neuen Parteivorsitzenden wird voraussichtlich im September sein, einige Wochen vor den Kommunal- und Regionalwahlen in Griechenland, die am 8. Oktober 2023 stattfinden werden.
Die Herausforderungen der neuen Regierung – Ein Ausblick
Die neue Regierung
Wie ein CEO verteilte Premierminister Kyriakos Mitsotakis an alle seine Minister einen blauen Umschlag mit den Zielen für jedes Ministerium, dem Aktionsplan bis Dezember 2023 und einem Sechs-Monatsplan für Initiativen. Zudem betonte er via Twitter, dass „die Regierung nach strengen Zeitplänen und mit einer kontinuierlichen Bewertung arbeiten wird“.
Die neue Regierung hat 63 Mitglieder, davon 18 Nicht-Parlamentarier. Das Durchschnittsalter liegt bei 53 Jahren. In der neuen Regierung gibt es 15 Frauen; rund 25% der Mitglieder: Vier Ministerinnen, eine stellvertretende Ministerin und zehn Staatssekretärinnen. Im Vergleich zu den neun Frauen in der Vorgängerregierung ist der Anteil der Frauen in der Regierung um 66% gestiegen (Mitsotakis hatte eine Erhöhung ihrer Zahl im Vergleich zur vorherigen Regierung angekündigt).
Die Herausforderungen für die neue Regierung sind vielfältig, fünf Prioritätenfelder sind bereits klar erkennbar:
1. Nationales Gesundheitssystem. Das erste Ziel ist die Reform und Modernisierung des nationalen Gesundheitssystems, u.a. durch die Einstellung von Ärzten und Krankenschwestern, die Modernisierung von Krankenhäusern und, die Stärkung des Rettungsdienstes „EKAV“.
2. Nationales Bildungssystem. Die zweite Säule ist die Aufwertung des Bildungswesens mit einer Bewertung der pädagogischen Arbeit und der Lehrkräfte in der Primar- und Sekundarstufe, mit der Digitalisierung der pädagogischen Instrumente und mit der für griechische Verhältnisse radikalsten Verpflichtung aus der Zeit vor den Wahlen, dass die Eltern die Schule, die ihre Kinder besuchen sollen, frei wählen können. Es ist kein Zufall, dass Kyriakos Pierrakakis zum neuen Bildungsminister auserkoren wurde: Er ist der frühere Minister für Digital Governance, dem ein Großteil des Erfolgs der Digitalisierung des griechischen Staates zugeschrieben wird.
3. Reformen der Justiz. Ein seit langem bestehendes Problem des griechischen Staates sind die Verzögerungen in der Justizverwaltung – ein vielseitiges Problem, das von internationalen Gremien, der Weltbank, Richtern und Anwälten immer wieder hervorgehoben wurde und die wohl größte Herausforderung für die neue Regierung darstellt.
4. Investment Grade und grünes Wachstum. Das anhaltende Wachstum der griechischen Wirtschaft, die Anziehung ausländischer Investitionen und die Erlangung des „Investment Grade“ (Einstufung durch eine Rating Agentur für einen Schuldner mit geringer Ausfallwahrscheinlichkeit) sowie die Nutzung von Mitteln aus der EU-Aufbau- und Resilienzfazilität für einen grüneren Übergang sind ein weiterer Schwerpunkt der Regierungsarbeit.
5. Stärkung der Jugend und der Familie. Das schwerwiegende demografische Problem in Griechenland, die nahezu unüberwindbaren Probleme für junge Menschen, eine günstige Wohnung zu finden, und die Aufwertung des Lebens von Menschen mit Behinderung sind ernste Probleme in Griechenland, mit denen sich das neu gegründete Ministerium für Familie und sozialen Zusammenhalt befassen muss.
Ausblick
Insgesamt kann festgestellt werden, dass der Wahlsieg der ND größer ausgefallen ist, als alle Umfrageinstitute erwartet hatten – der Lohn für einen kontinuierlichen Reformweg Griechenlands. Begonnen wurde dies zum Teil bereits unter Tsipras, Mitsotakis hat diesen Weg konsequent weiter beschritten, er hat wichtige Maßnahmen ergänzt und diese vor allem umgesetzt.
In den nächsten Monaten ihrer neuen Amtszeit wird die Regierung einige schwierige Entscheidungen im Bereich Gesundheit, staatliche Verwaltung (zum Beispiel Post) und in anderen Bereichen treffen müssen. Diese Maßnahmen werden nicht überall auf Zustimmung stoßen, sind aber notwendig, um die noch problematischen Bereiche innerhalb des Landes zu verbessern.
Griechenland hat es damit insgesamt in den letzten Jahren geschafft, sich vom Sorgenkind Europas zu einer festen Säule der Stabilität im östlichen Mittelmeer zu entwickeln und gilt damit in jeglicher Hinsicht als verlässlicher Partner, nicht nur in Fragen der Türkei, sondern insgesamt, wenn es um die das östliche Mittelmeer und den Balkan geht. Mitsotakis hat es geschafft, das politische Denken und Miteinander sowie den Stil des Regierens zu verändern, und er steht damit für eine neue Ära im Land.