Zypern steht an einem Scheideweg: Es wählt einen Präsidenten. Fest steht, nach 10 Jahren prägender Präsidentschaft von Nikos Anastasiadis (DISY) beginnt für das Land ein neuer politischer Zeitabschnitt. Das Land ist in der EU angekommen und hat sich als stabiler erwiesen. Nun gibt es neue Herausforderungen und es gilt für den neuen Präsidenten drängende Probleme anzugehen: Das ungelöste Zypernproblem, Korruption, Reformen in der Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung, Nachhaltigkeit, Migration, die Exploration der Gasfelder, usw.
Am 05. und 12. Februar 2023 (sollte ein zweiter Wahlgang notwendig sein) werden die Menschen in der Republik Zypern (nur im „Südteil“, etwa 561.000 registrierte Wähler) den nächsten Staatspräsidenten aus 14 Kandidaten wählen. Nur drei Kandidaten sind den Umfragen zufolge ernst zu nehmen: Der Vorsitzende der Regierungspartei DISY, Averof Neophytou, der ehemalige Außenminister der DISY, Nikos Christodoulides, der jedoch nun unabhängig gegen seine ehemalige Partei antritt sowie der Kandidat der Oppositionspartei AKEL, Andreas Mavroyiannis. Sie kommen laut der letzten RIK-Umfrage vom 12. Januar 2023 auf 29,5%, 21,5% bzw. 20,5%. Der Ausgang ist so offen, wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Zypern-Problem im Zentrum der Aufmerksamkeit
Ein Hauptthema im Wahlkampf war und ist die Zypernfrage. Die drei Kandidaten sind hier im Kern jedoch nicht weit voneinander entfernt. Sie bevorzugen grundsätzlich eine bizonale/bikommunale Föderation. Diese Lösung wird von den beiden großen Parteien DISY und AKEL favorisiert. Innerhalb der kleinen Oppositionsparteien EDEK, Solidarität und DIPA, die Christodoulides unterstützen, ist das Bild geteilt. Denn viele ihrer Wähler bevorzugen eine „absolute“ Lösung, nämlich den vollständigen Rückzug der Türkei aus dem Norden. Daher hat sich Christodoulides im Wahlkampf nicht vollkommen klar für ein Föderationsmodell ausgesprochen, obwohl er als ehemaliger Außenminister durchaus glaubhaft für diesen Lösungsansatz stand. Damit bleibt lediglich Neophytou als offener und konsistenter Verfechter einer gemeinsamen Föderation, die im Falle seiner Wahl entscheidend legitimiert wäre.
Die bisherigen Umfragen scheinen jedoch das Szenario eines Wahlsiegs von Averof Neophytou im zweiten Wahlgang (noch) nicht zu bestätigen. Die einzige Möglichkeit besteht darin, dass die großen Parteien der Rechten (DISY) und der Linken (AKEL) sich gemeinsam dafür entscheiden, Neophytou zu unterstützen, sofern er in die zweite Runde kommt und gegen Nikos Christodoulides antreten wird. Ein solches Szenario scheint politisch unwahrscheinlich, auch wenn es auf Grundlage der gemeinsamen Haltung der großen Parteien zur Zypernfrage theoretisch möglich erscheint. Denn daneben könnten auch junge und unentschlossene Wähler auch von der klar pro-europäischen Grundausrichtung Neophytous angezogen werden.
Prioritäten für die Wirtschaft
Neben der Zypernfrage spielen auch Fragen wirtschaftlicher Reformen und nachhaltiger Entwicklung eine Rolle: Alle drei Kandidaten konzentrieren sich im Wahlkampf auf Maßnahmen zur Senkung der Lebenshaltungskosten, um die Inflation zu begrenzen und sozial schwache Gruppen zu unterstützen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Neophytou und seinen Mitkandidaten, insbesondere zum von der linken AKEL unterstützten Mavroyiannis, besteht darin, dass er die Rolle Europas (über den Konjunkturfonds) bei der Schaffung einer wettbewerbsfähigen, produktiven, nachhaltigen und umweltfreundlicheren Wirtschaft, zum Beispiel über den Konjunkturfonds, besonders betont. Es ist bemerkenswert, dass sein Mitbewerber Nikos Christodoulides, der ursprünglich ebenfalls von der DISY kommt, versucht, einen Teil der wirtschaftlichen Erfolge der Regierung über die letzten Jahre für sich zu nutzen und sich auf erneuerbare Energiequellen und die Förderung der Elektrifizierung Zyperns konzentriert. Hier wird der heikle Balanceakt deutlich, welchen Christodoulides versucht, um Wähler der DISY als auch anderer, konkurrierender Bewegungen anzusprechen.
Illegale Migration: berechtigte Sorgen in der Bevölkerung
Eines der wichtigsten Themen im Wahlkampf ist die illegale Migration. Die Republik Zypern verzeichnet aktuell die höchste Zahl von illegal Eingereisten und Asylbewerben pro Kopf in der EU. Die Lösungsansätze der Kandidaten scheinen sich dabei im Wahlkampf angenähert zu haben. Man ist sich einig, dass es sich um ein sensibles, komplexes und kompliziertes Thema handelt, das eine umfassende Antwort erfordert. Damit soll das Problem an der Wurzel gepackt werden. Oppositionskandidat Mavroyiannis findet jedoch auch Raum, um die beiden anderen Kandidaten in dieser Frage scharf zu kritisieren. Im Gegenteil dazu verweisen Neophytou und Christodoulides auf die Rolle Europas. Sie betonen auch immer wieder das die Türkei Menschen instrumentalisiere, indem sie ständig illegale Einwanderer über die an vielen Stellen passierbare Trennlinie auf der Insel schiebt.
Ausblick und Einschätzung
Der Wahlkampf in Zypern ist seit Jahrzehnten wieder lebendig und der Ausgang mehr als offen. Insbesondere vor dem Hintergrund der fast gleichzeitigen Wahlen in Griechenland (April/Mai) und der Türkei (14. Mai) bietet sich eventuell ab der 2. Jahreshälfte die Möglichkeit für wirkliche Gespräche über die Zypernfrage. Aktuell sind bereits fünf Schlussfolgerungen aus diesem Wahlkampf absehbar:
1. Christodoulides und Neophytou verurteilen den Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine in vollem Umfang, während Mavroyiannis - offenbar aufgrund der Unterstützung durch AKEL – sich eher zurückhaltend äußert und auf die seit langem bestehende positive Haltung Russlands gegenüber der zyprischen Sache verweist.
2. Der einzige Kandidat, der sich in seinem Wahlkampf offen für die NATO-Mitgliedschaft Zyperns ausspricht ist Neophytou. Diese Frage kann aber nur im Zusammenhang mit der Zypernfrage beantwortet werden. Geostrategisch wäre die Mitgliedschaft Zyperns in der NATO für das Bündnis von sehr großem Nutzen und würde auch die russische Position im östlichen Mittelmeer unter Druck setzen.
3. Der Wahlkampf ist nicht durch große Spannungen und Polarisierung gekennzeichnet, was auf das Verhältnis der drei Kandidaten zur Regierung des scheidenden Präsidenten Anastasiades zurückzuführen ist. Dadurch sind die politischen „Urteile“ über die aktuelle Präsidentschaft eher zurückhaltend.
4. Von politischem Interesse ist die grundsätzliche Position von Averof Neophytou, dass die DISY im Falle einer Niederlage im Parlament in die Opposition gehen wird. Dies ist aus zwei Gründen interessant: Erstens, weil Neophytou, damit dem Narrativ Christodoulides' entgegentritt, dieser könne im Falle seines Sieges eine Regierungsmehrheit im Parlament mit der DISY bilden. Und zweitens, weil diese harte Haltung von Neophytou bei den meisten wichtigen Multiplikatoren/Politikern der DISY durchaus nicht willkommen zu sein scheint. Neophytou muss aber bei dieser klaren Positionierung bleiben, wenn er im 2. Wahlgang eine Chance haben möchte.
5. Aus griechischer Perspektive ist interessant, dass dort die Präsidentschaftswahl in Zypern weitgehend unbeachtet bleibt und wenige Tage vor den Wahlen in der öffentlichen Debatte nicht vorkommt. Angesichts der Tatsache, dass es in der Vergangenheit immer wieder erfolglose Versuche und Gespräche rund um die Zypernfrage gab, glauben viele Menschen, dass auch ein neuer Anlauf nirgendwo hinführen würde. Unter diesem Gesichtspunkt ist das fehlende Interesse in Griechenland und Europa verständlich. Aktuell scheint es aber, dass sich, je nach Ausgang der Wahl durchaus ein neues Fenster für Verhandlungen und weiteren Möglichkeiten ergeben kann.
Die Entwicklungen auf Zypern sind auch aus deutscher und europäischer Sicht bei weitem keine Randnotiz. Das Land ist ein entscheidender geostrategischer Faktor in der Region und trotz der Teilung des Landes ein Hort der Stabilität und Sicherheit. Die Energieversorgung Europas, die regelbasierte internationale Ordnung, Migrationsströme – für all diese Themen ist Zypern von entscheidender Bedeutung. Es ist an der Zeit, dass man dies in den Hauptstädten Europas erkennt und nach den Wahlen in der Region einen starken Anlauf zur Lösung eines jahrzehntealten Konfliktes unternimmt. Dabei wird es entscheidend sein, wer auf Anastasiadis folgt. Mit dem neuen Präsidenten werden wir alle diese Themen bearbeiten müssen.
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