Issue: 582/2023
Die älteste Demokratie der Welt ist aktuell auch im Hinblick auf ihre höchsten Entscheidungsträger die älteste. Der einst jüngste Senator der USA, Joe Biden, ist mit heute achtzig Jahren der älteste Präsident der USA, der jemals regiert hat; im Falle seiner Wiederwahl würde er das Weiße Haus im Alter von 86 Jahren verlassen. Der führende republikanische Kandidat Donald Trump ist nur drei Jahre jünger. Bill Clinton (vor drei Jahrzehnten Präsident), George W. Bush (vor zwei Jahrzehnten Präsident) und Barack Obama (vor einem Jahrzehnt Präsident) sind alle jünger als Biden und Trump.
Mitch McConnell, der am längsten amtierende Mehrheitsführer im Senat in der amerikanischen Geschichte, ist 81, genau wie Bernie Sanders, die Hoffnung vieler linker Demokraten bei den letzten beiden demokratischen Vorwahlen. Der derzeitige Senat ist der zweitälteste, das Repräsentantenhaus das drittälteste in der amerikanischen Geschichte. Manchen merkt man das Alter auch an. Mitch McConnell erstarrte vor einigen Wochen während einer Pressekonferenz für quälende zwanzig Sekunden vor dem Mikrofon; Dianne Feinstein, die neunzigjährige Senatorin aus Kalifornien, hat kognitive Probleme und vergisst auch schon einmal, dass sie sich gerade bereits geäußert hat. Die 51 Jahre alte Nikki Haley, Trumps frühere UN-Botschafterin und seine heutige (chancenlose) Präsidentschaftskandidaten-Konkurrentin, fordert (ebenfalls chancenlos) einen Test, der die geistige Verfassung von Politikern über 75 Jahren überprüft.
Entfremdung von den Jüngeren
Die Frage, ob ein Amt wie die US-amerikanische Präsidentschaft von einem über Achtzigjährigen noch optimal oder zumindest zuverlässig ausgeübt werden kann, ist zweifellos wichtig, denn es ist einigermaßen besorgniserregend, dass Amerikaner die Präsidentschaft unter den gleichen Vorzeichen diskutieren wie die Frage, ob die eigenen Eltern noch Auto fahren sollten. Interessanter aber ist, wie sich diese Form der Gerontokratie auf das Verhältnis von Wählern und Gewählten und – noch allgemeiner – auf das System der demokratischen Repräsentation auswirkt. Es ist kein gewagter Gedanke, dass es einem politischen System, dessen Präsident mehr als doppelt so alt wie der Durchschnitt der Bevölkerung (nämlich 38 Jahre) ist, an ausreichendem Kontakt zu eben dieser Bevölkerung fehlt.
Diesen Gedanken kann man zu einem soziologischen Generationskonfliktmodell weiterspinnen, in dem sich die gut vernetzte Boomer-Generation gegen die Millennials und die Generation Z durchsetzt (dies tut etwa der Politologe Kevin Munger in seinem Buch The Generation Gap). Erklärungsbedürftig bleibt jedoch, warum andere Demokratien nicht gerontokratisch sind. In Europa etwa ist die Lage genau umgekehrt: Während die Bevölkerung immer älter wird, werden die politischen Entscheidungsträger jünger. Einige Beispiele: Wolodymyr Selenskyj ist 45 Jahre alt; Großbritanniens Rishi Sunak ist 43; Italiens Giorgia Meloni ist 46; Spaniens Pedro Sánchez ist 51; Finnlands Petteri Orpo ist 53 und der Nachfolger von Sanna Marin, die gerade 34 geworden war, als sie 2019 gewählt wurde; Dänemarks Mette Frederiksen ist 45; Hollands Mark Rutte ist 56 und wurde mit 43 ins Amt gewählt; Polens Mateusz Morawiecki ist 55; Frankreichs Emmanuel Macron, mit 39 gewählt, ist mit jetzt 45 Jahren Europas Elder Statesman. Angela Merkel war 51, als sie zum ersten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, und sogar Olaf Scholz ist mit jetzt 65 noch ein Jüngling, vergleicht man ihn mit Biden und Trump.
Das Alter des amerikanischen politischen Führungspersonals führt zu einer Entfremdung der Jüngeren von der Politik. Der Economist hat nachgewiesen, dass der Grad, zu dem die älteren Wähler die jüngeren ausstechen, in den USA deutlich größer ist als in anderen OECD-Staaten; weitere Studien belegen, dass das durchschnittliche Alter der Teilnehmer an Kommunalwahlen in den USA mit 57 Jahren fast eine Generation über dem der durchschnittlichen Wahlberechtigten liegt. Nun machen Ältere nicht unbedingt ausschließlich eigennützige Politik; dies anzunehmen, wäre ein identitätspolitischer Kurzschluss. Genauso offenkundig aber ist, dass hier ein politisches Teilnahmeproblem angelegt ist, das sich unmittelbar in ein Teilhabeproblem übersetzt und zu einem Legitimationsproblem weitet.
Dieses Legitimationsproblem erschöpft sich nicht in einem soziologisch auslotbaren Defizit, sondern trifft im Kern das spezifisch US-amerikanische Verständnis von Repräsentation, Legitimation und Identität. Um dies zu verstehen, muss man ein wenig ausholen. Politische Identität bezeichnet die Art und Weise, wie sich Individuen im Politischen situieren, und verklammert individuelle und kollektive Identität. Ihr Bezugspunkt ist das politische Kollektiv, das wir Staat oder manchmal Nation nennen.
In den USA wird dieser Bezugspunkt sehr viel stärker als Organismus imaginiert als in Europa, wo das Organische des Staates zugunsten von Diskursen und Kommunikationen zurückgetreten ist und sich politische Identität stärker im Wort wiederfindet. In der amerikanischen Vorstellung von Körperhaftigkeit – von Verschmelzung von Staatsund Bürgerkörper, die in ihrer Komposit-Natur an das Frontispiz von Thomas Hobbes’ Leviathan denken lässt – erhält der Staat ein Eigenleben und einen Eigenwert als organische Erscheinung des Volkes. Betritt man als Europäer amerikanischen Boden, kann man sich den uns fremd erscheinenden Manifestationen der Vorstellung dieses Eigenwertes gar nicht entziehen, von der Flagge bis zu den zivilreligiösen Ritualen wie dem Pledge of Allegiance, dem Treueschwur gegenüber der Nation und der Flagge der Vereinigten Staaten. Das „Höhere“, das im body politic des Staates verkörpert ist, rechtfertigt absolute Ansprüche, die der Staat an den ihn konstituierenden Bürgerkörper stellen kann, und der Einzelne stellt sich in seinen Dienst: „Es gibt nichts Typischeres für den amerikanischen Charakter, als für eine größere Sache alles zu geben“, sagte Barack Obama in seiner ersten Antrittsrede. Hier liegt eine Ambivalenz der amerikanischen Identität, die einerseits die große Individualität und Freiheit betont, die sich unter der Herrschaft der Gesetze entfalten sollen, andererseits jedoch diese Individualität mit einer großen Kollektiverzählung ummantelt.
Das Gegengewicht zur großen individuellen Freiheit ist die Teilhabe an den Versprechungen des Staatskörpers, der dem Bürger eine Vergangenheit zur Verfügung stellt, die die Vergangenheit des Individualkörpers übersteigt und doch zu einer persönlichen Vergangenheit wird und eine Zukunft verspricht, die über das individuelle Lebensende hinausreicht. Kollektive Erinnerungen und Hoffnungen versprechen in einer rauen See von Kontingenz und Unübersichtlichkeit die Möglichkeit, sich exakt in Zeit und Raum zu verorten und dabei Teil eines großen, generationsüberschreitenden Progressionsprojektes zu werden.
Urknall der amerikanischen Nation
Ein solcher Vorstellungsraum ist nicht intuitiv einsichtig, sondern bedarf eines wirkungsmächtigen Mythos. In den USA ist das der Mythos der Revolution, in der sich der Volkssouverän We the People offenbart und den Staat in seine Existenz gebracht hat. Es ist dieser Urknall, der politische Macht und freiheitliche Selbstregierung freisetzt (anders als in den Revolutionen Europas, im Zuge derer bestehende monarchische Macht politisch eingehegt wurde), und daher kreisen Legitimation und Legitimität ausschließlich um diesen Entstehungsmoment. Aus den Revolutionären werden die heroischen Gründerväter, auf die sich die nachfolgenden postheroischen Generationen immer wieder zu beziehen haben: „Oh!, möge die Jugend dieses Landes, die aufstrebenden stolzen Söhne Columbias, mit jeder Tugend erfüllt, werden eine Rasse gottgleicher Washingtons“, schrieb der US-Politiker Thomas Dunn English. Indem man den Gründervätern nacheifert, wird die Ordnung, die diese den Söhnen anvertraut haben, als familienstabilisierende Aufgabe, in der das Politische und das Private ineinander kollabieren, bewahrt.
Reverenz gegenüber der Verfassung
Als am 4. Juli 1826, dem 50. Jahrestag der Revolution, sowohl John Adams als auch Thomas Jefferson starben, kam die lebendige Leiblichkeit an ihr Ende. An ihre Stelle trat die Verfassung, in der die revolutionäre Offenbarung gespeichert ist und die den Dreischritt von revelation – revolution – constitution abschließt. Die Bewahrung des Sinns und der Bedeutung von Gemeinschaftlichkeit kann nur durch die Bewahrung des Sinns und der Bedeutung der Verfassung gewährleistet werden – ein Rückbezug, der seinerseits zivilreligiöse Züge besaß. In seiner Rede vor dem Young Men’s Lyceum, einem Debattierclub in Springfield, sagte Abraham Lincoln 1838: „Lasst jeden Amerikaner sein Leben, sein Eigentum und seine heilige Ehre verpfänden, um die Verfassung und die Gesetze zu unterstützen; lasst jeden Menschen sich daran erinnern, dass derjenige, der das Recht verletzt, auf dem Blut seiner Väter herumtrampelt. Lasst sie die politische Religion der Nation werden; lasst alle Menschen ohne Unterlass Opfer bringen auf ihrem Altar.“ Die wahre Repräsentation des Souveräns ist nun in der Verfassung verkörpert; Zugang zum kollektiven Sinn ergibt sich aus der Reverenz gegenüber der Verfassung, die an die Stelle derjenigen tritt, die mit ihren Körpern für die revolutionäre Idee eingetreten sind. Lincoln formulierte, dass die revolutionären Körper „eine lebendige Geschichte sind, die man in jeder Familie finden konnte; aber diese Geschichten sind vergangen“.
Die amerikanische Geschichte, die auf den revolutionären Körpern zu lesen war, entziffert Lincoln – und mit ihm die amerikanische Nation – nun aus der Verfassung. Ihr Text partizipiert an der Authentizität der revolutionären Körpertexte. Aus dieser imaginativen Grundkonstellation ergeben sich sowohl der normative Überschuss der amerikanischen Verfassung als auch der Umgang mit ihr. Nicht nur wird sie wie ein religiöses Heiligtum im National Constitution Center in Philadelphia präsentiert (als ich 2015 den damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auf seiner USA-Reise begleiten durfte und wir in einem abgedunkelten Raum vor der hell erleuchteten Verfassung standen, raunte er mir zu: „Wäre es nicht toll, wenn wir das mit dem Grundgesetz auch so machten?“). Sie ist auch Anlass für eine uns seltsam erscheinende Auslegungspraxis, die Originalismus heißt und den Wortsinn im Moment der Verfassungsgebung bewahren statt, wie bei uns üblich, teleologisch weiterentwickeln will (und es wäre sicher nicht toll, wenn wir das mit dem Grundgesetz auch so machten). Die politische wie juristische Elementarhaltung ist Loyalität gegenüber dem Ursprung und seinem Text, nicht Verantwortung gegenüber der Welt und ihren Nöten.
Die amerikanischen Präsidenten sind daher nicht nur Führungsfiguren, die politische Programme formulieren und abarbeiten; sie sind immer auch Vektoren in die amerikanische Vergangenheitsimagination, in denen sich die Nation erkennt. Die Nation will geführt werden; aber sie will sich auch spiegeln. Die Spiegelung ist zweifach, körperlich und ideell.
Präsident als Transsubstantiation des Volkssouveräns
Die körperliche Spiegelung ist zunächst ebenso einsichtig wie rätselhaft. Einsichtig ist sie, weil die Öffentlichkeit endlos von Blicken auf Präsidentenkörper fasziniert ist und weil sich die Präsidenten selbst als körperlich identifizierbare Transsubstantiation des Volkssouveräns inszenieren. Barack Obama beispielsweise, der als schwarzer Präsident nicht die Mehrheit der Amerikaner spiegelte, wendete dies so, dass die amerikanische Geschichte „in meinen genetischen Code die Idee eingebrannt hat, dass diese Nation mehr als die Summe ihrer Teile ist – dass wir aus Vielen wahrhaft Eins werden“. Umso rätselhafter scheint, dass 2024 voraussichtlich zwei Männer um die Präsidentschaft ringen werden, die beide um die achtzig Jahre alt sind. Mit Erfahrung, die sich in politische Weisheit übersetzen könnte, hat dies wenig zu tun; die Wahlentscheidungen vor der Abwahl Trumps zeigten in die entgegengesetzte Richtung, nämlich immer weniger Wertschätzung politischer Erfahrung von Clinton zu Bush, von Bush zu Obama und von Obama zu Trump.
Die Spiegelung läuft daneben über die Selbstverortung in der nationalen Ursprungserzählung; diese kollektive Imagination ist der argumentative Korridor, innerhalb dessen sich die Präsidenten ideengeschichtlich positionieren müssen. Auch hier können wir von Obama lernen. Er knüpfte eng an Lincoln an und übernahm dessen zivilreligiöse, moralisch aufgeladene Vision einer Verschmelzung von Individual - und Kollektivkörper, die in Lincolns Gettysburg-Rede zur vollständigen Entfaltung kam, in der Patriotismus- und Liebessemantik ihr Vehikel findet, in der Opferthematik kulminiert und die Bereitschaft zum Selbstopfer nicht ausblendet. Ganz am Ende seines Buches The Audacity of Hope beschrieb Obama, wie er im Rahmen seiner abendlichen Dauerläufe in Washington zum Lincoln Memorial und zum Lincoln Memorial Reflecting Pool läuft. Eine zentrale Stelle in Obamas Schilderung nehmen Lincoln und Martin Luther King ein. Obama läuft figurativ wie tatsächlich auf diese beiden zu, als seien sie (und nicht nur ihre Denkmäler und Erinnerungen) tatsächlich anwesend oder als könne Obama selbst die Zeit transzendieren. Obama liest Lincolns Gettysburg-Rede und die zweite Inaugurationsrede; er hört in seinem Kopf Kings berühmte „I have a dream“-Rede und sieht die 250.000 Zuhörer am Reflecting Pool; Lincoln, King, Obama und die Nation kommen zusammen in einer Einheit, die auf wundersame und wunderbare Weise die Regeln von Zeit und Raum außer Kraft setzt und alle Amerikaner mit sich reißt.
Was Lincoln und King ausmacht, schrieb Obama, ist die Tatsache, dass sie „in dem Dienst, eine noch nicht vollendete Union zur Vollendung zu bringen, schließlich ihr Leben gaben“. Als Leser sehen wir die Attentate und hören die Schüsse; wir wissen von Obama, dass sie starben, weil sie der Verfassung und ihrem Auftrag, die Union zu vollenden, dienten. Ihr Blut ist das Blut, das die Verfassung authentifiziert; ihr Tod lässt uns leben. Das ganze Transsubstantiationsuniversum kommt hier zum Einsatz. Obama lässt sein Buch in einer Schlusskadenz enden, die uns zum staunenden Schweigen bringt, denn nun, endlich, schließt sich der Kreis: „Dieser Prozess ist es, wovon ich ein Teil sein möchte.“ Die Opfer der Gründer replizieren sich in Lincoln und dann in King. Obama sagt uns, dass er ebenfalls bereit ist.
Raum für Fluchten
Trotz ihrer Gegensätze positionieren sich auch Trump und Biden im imaginativen Korridor der amerikanischen Ursprungserzählung. Trump personifiziert den Kern eines der beliebtesten und am innigsten geschätzten Glaubenssätze des amerikanischen Traums: that the loot we’ve scooped up will belong to us forever and that history allows clean getaways („dass die Beute, die wir errungen haben, für immer uns gehört und dass die Geschichte saubere Fluchten zulässt“). Das ist die andere, dunklere Seite des amerikanischen Traums: individualistisch, dabei egoistisch, gewaltbereit, gierig und verantwortungslos. Im Grunde findet man diese Geschichte, wie man spätestens seit Cormac McCarthys No Country For Old Men weiß, in jedem amerikanischen Krimi, der mit diesen wenigen Versatzstücken auskommt: zu viele Versuchungen; zu viele schlechte und schwache Männer; zu wenige gute und starke Männer; und dies vor der Folie von endloser Freiheit und unbegrenztem Raum – Freiheit für schlechte Entscheidungen und Raum für die Flucht vor ihren Konsequenzen.
Biden hingegen personifiziert einen anderen Aspekt dieses imaginativen Korridors. Er ist der Mann, dessen politische Karriere in eine persönliche Geschichte von Tragödie, Verlust und Trauer eingebettet ist. Biden hat 1972 seine erste Frau und seine kleine Tochter in einem Autounfall verloren; sein damals überlebender Sohn Beau starb 2015 an einem Gehirntumor. Dies hat nicht nur viele seiner politischen Entscheidungen beeinflusst, sondern ihn auch als Person geprägt. Freunde wie Gegner sind sich darüber einig, dass er über eine außergewöhnliche Gabe dafür verfügt, mit Menschen in Beziehung zu treten, zuzuhören und zu trösten. Für ein Land, das mit weit über einer Million Corona-Toten überdurchschnittlich hart betroffen war und dazu politisch stark polarisiert und verunsichert ist, ist die Fähigkeit, Wunden verbinden zu können, viel wert. Biden bezeichnet sich selbst als einen „mit der Realität beladenen Träumenden“. Dass er seine individuelle Trauererfahrung in eine politische Trostbotschaft übersetzt, sich dabei einer Rhetorik von „Würde“ bedient und dadurch ausdeutet, was es heißt, ein „guter Mensch“ zu sein, bringt für viele ein Ideal von Anständigkeit, Verständnis und Umsorgung in Erinnerung, das sie in der Gegenwart vermissen. Das gilt, so formulierte John McCains Tochter einmal, umso mehr, als Bidens Instinkt, den Schmerz anderer zu lindern, in krassem Gegensatz zu seinem politischen Gegner steht, dem der Schmerz anderer Vergnügen zu bereiten scheint.
„Not My President“
Das gleichzeitige Bevölkern des imaginativen Korridors der Erzählung des amerikanischen Traums – die Beglaubigung des gleichen Mythos, nur mit unterschiedlichen Akzenten – hat in der Vergangenheit immer dafür ausgereicht, dass die Verweiszeichen des amerikanischen Politischen auf Einheit statt auf Zerfall deuteten. Die Ausnahme war die dem Bürgerkrieg vorangehende Zeit, als der Supreme Court unter Roger Taney das schreckliche Dred Scott-Urteil erließ, das vor rassistischen Konzeptionen nur so starrte, den Schwarzen die Fähigkeit zum Bürgersein absprach und Bürgerschaft rassisch definierte. Auf der anderen Seite stand Präsident Abraham Lincoln. Beide wurzeln tief in der amerikanischen Erzählung, in der die Nation eine Familie ist: Taney verfolgte einen rassistischen, biologistischen Kommunitarismus, den Lincoln mit einem moralischen Kommunitarismus konterte. Beide ließen das Individuelle mit dem Kollektiven parallel laufen, das eine in das andere kollabieren und schrieben am Mythos des amerikanischen Staatskörpers: Taney, indem er über Verbote von Mischehen referierte; Lincoln, indem er dem Schlachten von Gettysburg dadurch Sinn verlieh, dass das Sterben der Gefallenen die Nation leben lässt. Doch diese Gemeinsamkeit reichte nicht aus, um ein entzweites Haus zu vermeiden; die Warnung vor dem „house divided“ 1858 führte gleichwohl in den Bürgerkrieg.
Das Wort des Bürgerkriegs macht in den USA heute wieder die Runde, und es ist nicht ganz fernliegend. Trump und seine Anhänger akzeptieren weder ihre Wahlniederlage noch die Legitimität der Biden-Regierung, ebenso wie Liberale über Trump insistiert haben: Not my president. Der Kongress ist bitter entzweit. Zuschnittsänderungen von Wahlkreisen sowie Wahlbeschränkungen laufen auf Hochtouren, um die nächsten Wahlen zu manipulieren. Der Supreme Court mit seiner konservativen Supermehrheit, die durch drei Trump-Ernennungen ermöglicht wurde, verfolgt eine hochreaktionäre, teilweise extremistische politische Linie.
Wer das politische System der USA beobachtet, muss wohl zum Schluss kommen, dass es in vielerlei Hinsicht zerbrochen ist. Nur in Nuancen unterscheiden sich die Urteile darüber, wie kaputt es im Detail ist. Nicht unterscheiden sich die Urteile dahingehend, dass es an einem allgemein akzeptierten Fluchtpunkt für legitime Entscheidungen fehlt, die das gesamte Gemeinwesen betreffen. Ohne einen solchen Fluchtpunkt fehlt es an souveräner Entscheidungsgewalt; Entscheidungen sind dann keine Entscheidungen, sondern lediglich parteigebundene Anschauungen, die nicht respektiert, sondern bei nächster Gelegenheit wieder rückgängig gemacht werden. Das „Wir“ aus We the People ist zerborsten. Der Zusammenbruch souveräner Entscheidungsgewalt steht am Beginn eines Bürgerkriegs; Institutionen, die zuvor Einheit repräsentierten, werden zur Quelle von Trennung und Spaltung. Das gilt nicht nur für die politischen Institutionen, sondern auch die juristischen.
Körper und Könige
Die Rule of Law ist plötzlich nicht wesensmäßig verschieden von der politischen Auseinandersetzung. Republikaner und Demokraten sind keine alternativen Visionen unterschiedlicher Akzente innerhalb eines Volkssouveräns, sondern Ausgangspunkt für eigene politische Identitäten. Beide bestreiten sich gegenseitig das Recht, mit der Stimme des Souveräns zu sprechen; beide bespielen das Universum des Politischen in der Form letzter Werte. Aus Gegnerschaft wird Feindschaft. Manche, wie etwa der amerikanische Journalist und Autor Jeff Sharlet, beobachten bereits beginnende Gewalt. Selbst wenn man kein Freund des italienischen Philosophen Giorgio Agamben ist, leuchtet hier der Begriff eines langsamen „Bürgerkriegs als politisches Paradigma“ ein. Und damit sind wir zurück bei der körperlichen Spiegelung der Nation.
Vieles deutet darauf hin, dass das Alter der beiden mutmaßlichen Kandidaten kein Kriterium ist, das einer vereinheitlichenden soziologischen Analyse zugänglich ist, sondern dass zwei völlig verschiedene Vektoren am Werk sind. Donald Trump verleiht nicht nur der republikanischen Angst vor vielfachen Verdrängungen, unter anderem durch illegale Immigration oder durch fremde Elitenkulturen, eine Stimme, sondern ist auch der Figur gewordene ausgestreckte Mittelfinger gegenüber allem, was politische und demokratische Regeln, ja was Anstand und sogar Gesetzestreue ausmacht. Das ist in einem politischen System wie dem amerikanischen, das seit der Supreme Court-Entscheidung 2010 zur Wahlkampffinanzierung dem Einfluss unglaublicher Geldströme unterliegt, nur durch entsprechendes Vermögen durchhaltbar, und dafür brauchte es bei Trump eben Zeit. Joe Biden hingegen bringt die mystischen Saiten der Erinnerung zum Klingen, als Amerikaner – wie es in Lincolns erster Antrittsrede hieß – sich von den besseren Engeln ihrer Natur berühren ließen, und auch dafür brauchte es Zeit.
Nicht der König hat zwei Körper (so der Historiker Ernst H. Kantorowicz); hier hat der Körper zwei Könige, und sie stehen inzwischen eigentlich für zwei Körper. Das Repräsentationsproblem hängt weniger am Repräsentanten als am Repräsentierten, dem die Einheit abhandengekommen ist. Will man dennoch Einigendes über das Alter der Repräsentanten sagen, dann vielleicht, dass sie in ihrer zunehmend vergreisenden Gebrechlichkeit den bröckelnden Zustand der versteinerten amerikanischen Verfassung und ihrer Institutionen verkörpern. Nur mit gutem Willen sehen wir noch Macht und Pracht der politischen Gewalt, die auf volkssouveräner Repräsentation aufruht und sich dort spreizt. Doch schon der flüchtige Blick enthüllt, dass der Mantel der Macht längst lose über den morschen Knochen hängt und es mit der legitimen Repräsentation und ihren belastbaren Entscheidungen bald ans Ende gehen könnte. Plusternd, aber kurzatmig und ausgezehrt steigt das Personal durch die Kulissen, friert ein, stolpert oder vergisst den Satz von gerade eben, aber es macht nichts: Das Politische selbst ist in zwei Teile zerbrochen, seine Einheitsdarsteller stehen nicht für eine Nation.
Ulrich Haltern, geboren 1967 in Bochum, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie, Ludwig-Maximilians-Universität München.
Zum Weiterlesen
Haltern, Ulrich: Obamas politischer Körper, Berlin University Press, Berlin 2009.