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Ludwig Binder veröffentlicht vom Haus der Geschichte | Wikimedia

Wenn Autoritäts-Kritiker selbst autoritär werden

Ein kleiner Rundgang entlang einer Tradition, die bis heute weiter wuchert.

Der französische Revolutionär und Jakobiner Louis Antoine de Saint-Just wollte bereits vor über zweihundert Jahren klar stellen: „Wir ändern nicht die Missbräuche, sondern die Bräuche.“ Dass es dabei nicht allein um das gerechtfertigte Ende anachronistisch feudaler Privilegien ging, wurde mit dem „Grande Terreur“ der Jahre 1793/94 auf schreckliche Weise offenbar, als en masse Köpfe unter der Guillotine rollten und sich die Pariser Straßen wortwörtlich rot färbten – vom Blut all jener, die zu „Volksfeinden“ erklärt worden waren.

Und all das geschah, wohlgemerkt, im Namen der hehren Trias von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Dass die Aufrührer von gestern zu den Despoten von heute werden, ist keineswegs neu. Die Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart ist voll davon; für das zwanzigste Jahrhundert mögen die Schrecken verbreitenden Namen von Lenin und Castro genügen.

Nun allein deshalb jegliche umwälzende Veränderungen abzulehnen, hieße freilich in eine reaktionäre Status-Quo-Falle zu tappen, sich in eine moralische und politische Sackgasse zu begeben. Dennoch könnte es nicht schaden, den Blick etwas zu schärfen – vor allem auf jene, die in einer Demokratie mit mehr oder minder gerechtfertigter Kritik an Autoritäten zuvörderst ihrem eigenen Autoritarismus zum Durchbruch verhelfen wollen.

Reflektierte Liberalkonservative zögern mitunter, so etwas offensiv zu benennen. Die Skrupel ehren sie, denn wer möchte heute auch nur in die vermutete Nähe jener unseligen Tradition der Herrschaftsaffirmation geraten, die in der Vergangenheit kritische Geister verfolgen oder gar töten ließ und späterhin selbst in ihrer demokratisch domestizierten Schrumpfform noch unklug genug war, unbotmäßige Schriftsteller etwa als „Pinscher“ zu denunzieren. Nun ist es allerdings ein kometenweiter Unterschied, ob es um die sophistische Rechtfertigung einer Despotie geht – oder um die argumentativ plausible Verteidigung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Womit wir rasant in der Gegenwart gelandet sind.

Die pejorativ konnotierte Rede vom „FDGO-Staat“, gegen dessen angeblich autoritär-administrativen Machtmissbrauch man sich zur Wehr setzen müsse, feiert spätestens seit den staatlichen Corona-Maßnahmen des Jahres 2020 wieder fröhlich Urständ – diesmal allerdings nicht in den altlinken Polit-Kabaretts staatlich subventionierter Groß- und Kleinstadtbühnen, sondern in rechtspopulistischen bis rechtsextremen Zeitschriften, in Facebook-Posts, auf Websites und in zahllosen Netzwerken.

Und wieder einmal: Im Namen einer vermeintlich bedrohten „Freiheit“ gegen die demokratisch legitimierte und gesellschaftlich rechenschaftspflichtige Staatskunst des versuchten Interessenausgleichs, der Güterabwägung und der Kompromisse. Was nicht vergessen werden sollte: Der mit Hohn und Spott bedachte „FDGO-Staat“ war, ehe er von Rechtsaußen mit dem Zusatz „linksgrün-versifft“ versehen wurde, bis weit in die neunziger Jahre hinein vor allem ein beliebtes Angriffsziel linker Ideologen (die übrigens keineswegs nur randständig linksaußen angesiedelt waren).

Ob nun „das System“, „die Pharmaindustrie“ oder – zumindest für die besonders gebildeten Herbert-Marcuse- und Michel-Foucault-Leser – „der Verblendungszusammenhang“, „die Machtstruktur“ oder die „repressive Toleranz“: Der autoritäre Unwille, komplex-heterogene Strukturen wahrzunehmen, zu beschreiben und gegebenenfalls konkret und adäquat zu kritisieren, war jahrzehntelang quasi das Gütesymbol einer gewissen und keineswegs einflusslosen besserwisserischen Linken. Dass das radikale und permanente Unter-Verdacht-Setzen des demokratischen Verfassungsstaates inzwischen auch nach Rechtsaußen gewandert ist (noch erweitert, was alles andere als eine Petitesse ist, um einen offensiv-widerwärtigen Rassismus), ist daher keine Entlastung für ein bestimmtes linkes Milieu.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht bei der Thematisierung dieses Geschehens nicht um retrospektives Rechthaben-Wollen. Ebenso wenig soll behauptet werden, dass der ressentiment-gesteuerte „Querdenker“ oder der grölende Krypto- oder Voll-Nazi von heute lediglich ein missratener Enkel der Achtundsechziger sei. Derlei wäre völlig absurd. Dennoch lassen sich gewisse Überschneidungen nicht leugnen – das gemeinsame Erbe eines fatal illiberalen Manichäismus, für den zivile und ein fair funktionierendes Gemeinwesen ja erst ermöglichende Kompromisse seit je her „faul“ sind. Einer, der diese Nähe bereits vor über fünfzig Jahren hellsichtig beschrieben hatte, war interessanterweise Günter Grass. Der überzeugte sozialdemokratische Reformer (der in späteren Jahren allerdings ebenfalls von Rechthaberei nicht frei war – um es freundlich auszudrücken) hatte 1969 in der Zeitschrift Der Monat dem damals tonangebenden Studentenbund SDS einen „durch nichts gerechtfertigten Führungsanspruch“ vorgeworfen und „die Sucht, eindeutige Positionen zu beziehen und Widersprüche nicht auszutragen“. (Ließe sich heute nicht Ähnliches über das Auftreten der selbsternannten Klimaretter der „Letzten Generation“ sagen?) Hinter all dem vermutete Grass damals nicht zu Unrecht „Fetische, an denen sich der linke wie der rechte Irrationalismus orientieren“: „Zwar müssen Marx, Mao und Marcuse die Zitate hergeben, doch mir will es seit langem so vorkommen, als versuche sich wieder einmal der deutsche Idealismus zu regenerieren. Denn woher kommen diese Alles-oder-nichts-Forderungen, wenn nicht aus der gutgedüngten Kleingartenerde des deutschen Idealismus?“

Bei der Aufzählung der in jener Zeit kaum hinterfragten Ton-Angeber bezog sich Günter Grass nicht zufällig auch auf den zum Studenten-Guru gewordenen Philosophen Herbert Marcuse, dessen eingängige Wortschöpfungen vom „Verblendungszusammenhang“ und der „repressiven Toleranz“ bis in unsere Tage überlebt haben. Ebenso wie ein bis weit in bürgerliche Kreise hinein akzeptierter Kanon, in dem Marcuse ebenso wie Ernst Bloch („Das Prinzip Hoffnung“) als progressiver Autoritätskritiker gelten. Doch wie erklären sich jene Pose und Diktion des unbedingten Recht-Haben-Wollens, mit der die vermeintlich emanzipatorischen Postulate verbreitet werden? Was man – zu Recht – keinem konservativen Politiker oder Wirtschaftslenker durchgehen lassen und mit guten Gründen als Anmaßung zurückweisen würde – hier, da es die vermeintlichen Verfechter des „Fortschritts“ sagen, soll es nun plötzlich „augenöffnend“ sein und „verkrustete Strukturen offen legend“?

„Bis heute funktioniert diese selbstgewählte Ignoranz bestens, lässt sie sich doch mit der Uralt-Dichotomie „Geist versus Macht“ rechtfertigen – wobei in dieser Lesart „der Geist“ natürlich allein von den jeweils eigenen Leuten repräsentiert wird und sich „die Macht“ in dräuende Dunkelheit hüllt.“

Marko Martin

Bis heute funktioniert diese selbstgewählte Ignoranz bestens, lässt sie sich doch mit der Uralt-Dichotomie „Geist versus Macht“ rechtfertigen – wobei in dieser Lesart „der Geist“ natürlich allein von den jeweils eigenen Leuten repräsentiert wird und sich „die Macht“ in dräuende Dunkelheit hüllt.
Was aber, wenn – wie seit je her – „der Geist“ nach Macht drängt, mit dem Posten des Herrschafts-Einflüsterers liebäugelt oder gar mit dem Thron, zumindest der sogenannten „öffentlichen Meinung“? Und in der Tat: Kaum etwas ist autoritärer als ein solcher „Geist“ – ohne Selbstironie und heilsames Bewusstsein für Ambivalenz, gefangen in absoluten Setzungen, ausgestattet mit einem Überschuss an Sendungsbewusstsein und orakelndem Dekretier-Elan. Die Figur des beredt illiberalen Naphta in Thomas Manns „Zauberberg“ bündelt hier bereits, quasi pars pro toto, den unbedingten Machtanspruch solcher „Geistigkeit“.

Wird dann jedoch all dies auch noch im Namen der Demokratie, des Fortschritts und der „Zivilgesellschaft“ zelebriert, scheint es besonders schwer, Widerworte zu finden, die nun ihrerseits nicht unangenehm blechern tönen. Vielleicht wäre das der Ton, um aus der Blase autoritärer Pseudo-Aufgeklärtheit die abgestandene Luft entweichen lassen: „Nein, er war nicht in Harmonie mit den Herrschern, die sich bequem als Opposition niedergelassen hatten. Am widerwärtigsten war ihm der Dünkel, das Sonnenkönig-Bewusstsein; es ist oft kollektiv, und man bezieht seine Aufgeblasenheit aus der Zugehörigkeit zur weißen Rasse oder zur herrschenden Klasse – oder zur geistigen Elite mit ihrer Sondersprache, die einmal Latein war und heute sich im Spezialvokabular für philosophierende Überpolitiker manifestiert.“

„Höchste Zeit, an couragierte Intellektuelle zu erinnern und uns ihr lebendiges Erbe ins Gedächtnis zu rufen. Sie hätten uns auch heute viel zu sagen – und zwar in „Zimmerlautstärke“, nicht im Tremolo der Ideologen.“

Marko Martin

Der hier im Jahre 1969 derart gelassen und präzis seinen geistigen Standort bestimmt, heißt auch Marcuse – jedoch Ludwig, nicht Herbert. Der antinazistische USA-Emigrant und Philosoph, der in den sechziger Jahren nach (West-)Deutschland zurückgekehrt war, schrieb ebenso Klartext wie seine Kollegen Friedrich Torberg, Hans Habe, Hans Sahl oder späterhin Ralph Giordano und Wolf Biermann – sie alle säkulare jüdische Intellektuelle, die dann freilich nicht Teil eines bundesrepublikanischen Kanons wurden, da für die ideologischen Gralshüter rechts und links schlicht zu unabhängig. Gerade sie mit ihren Flucht- und Überlebens-Biographien aber hatten das Fragile und Schützenswerte der Demokratie geradezu existentiell erkannt und besaßen darüber hinaus ein feines Gespür für all jene, die unter der Camouflage der Zeitkritik ihre eigenen autoritären Muster zu verbreiten trachteten. Aber auch bundesdeutsche Politikwissenschaftler wie Ralph Dahrendorf, Karl Dietrich Bracher, Kurt Sontheimer (etwa in seinen Essays gegen „Anmaßende Gewissheiten“), Philosophen wie Hermann Lübbe und Odo Marquard oder die Publizisten Johannes Gross, Matthias Walden und Joachim Fest wurden zeitlebens nicht müde, die virulente Tradition des Autoritären auch dort aufzuspüren, wo sich diese ein vermeintlich progressives Mäntelchen umgehängt hatte. Höchste Zeit, an diese Menschen – keine wirren „Querdenker“, sondern couragierte Intellektuelle – zu erinnern und uns ihr lebendiges Erbe ins Gedächtnis zu rufen. Sie hätten uns auch heute viel zu sagen – und zwar in „Zimmerlautstärke“ (Reiner Kunze), nicht im Tremolo der Ideologen.

 

Marko Martin, geb. 1970, lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Nach dem literarischen Tagebuch „Die letzten Tage von Hongkong“ erschien soeben sein Essayband „`Brauchen wir Ketzer?` Stimmen gegen die Macht“ (Arco Verlag, Wien).

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