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Identität
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Das Schlagwort Identität spielt in politischen Debatten seit geraumer Zeit eine wichtige Rolle. So wird die Frage nach der deutschen Identität z. B. regelmäßig im Zusammenhang mit der Debatte über eine deutsche Leitkultur aufgeworfen; über das Thema der europäischen Identität wurden v. a. seit der Diskussion über eine Verfassung der Europäischen Union zahlreiche Bücher publiziert. Auch Identität im Sinne einer Gruppenzugehörigkeit spielt eine wichtige Rolle, v. a. im Kontext von Diskriminierungserfahrungen. So ist es nicht erstaunlich, dass der Begriff auch im politischen Extremismus seit mehreren Jahren aufgegriffen wird. Interessant ist dabei, dass es einerseits in den verschiedenen Phänomenbereichen des Extremismus um ein jeweils anderes Verständnis von Identität geht – Identität als Abgrenzung von anderen Nationen und Kulturen im Rechtsextremismus, Identität als Zugehörigkeit zu unterdrückten Gruppen im Linksextremismus –, dass jedoch andererseits das Identitätsverständnis in beiden Phänomenbereichen ähnliche Probleme aufweist.1
Identität im Rechtsextremismus
Im Rechtsextremismus zeigt sich die Bedeutung von Identität schon darin, dass es eine Organisation gibt, die den Begriff im Namen trägt: die Identitäre Bewegung Deutschland (IBD). Sie entstand 2012 zunächst als Facebook-Gruppe und wurde 2014 als Verein gegründet.2 Ihr Anspruch ist es, Identität – anders als im Neo-Nationalsozialismus, dem sich eine Reihe von Protagonisten der IB zuvor zurechneten – nicht durch Rassenmerkmale zu definieren, sondern durch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen bzw. kulturellen Gemeinschaft. Entscheidend für die Identität soll damit das Hineingeborenwerden in eine bestehende Gemeinschaft sein, die – wiederum anders als im Neo-Nationalsozialismus – nicht als höherwertig, sondern als gleichwertig im Vergleich zu anderen angesehen wird.
Diese Vorstellung von Identität beruht auf dem Konzept des Ethnopluralismus, das von der Neuen Rechten insgesamt – und nicht nur von der IBD – vertreten wird. Hierzu zählen neben deren intellektuellen Vertretern3 auch ihre Verlage (Antaios, Jungeuropa) bis hin zum sog. „solidarisch-patriotischen Lager“ der AfD (das aus dem ehemaligen „Flügel“ hervorgegangen ist). Dem Ethnopluralismus zufolge soll jedes Volk in seinem angestammten Gebiet seine Identität bewahren, indem es seine ethnische und kulturelle Homogenität sichert. Damit wird an Carl Schmitts Demokratietheorie angeknüpft (vgl. den Artikel „Demokratie“): Schmitt sah in der Homogenität des Volkes die Voraussetzung für die Herausbildung eines einheitlichen Volkswillens, der von der Regierung umgesetzt wird. Homogenität bezeichnet die Gleichheit der Bürger bei gleichzeitiger Abgrenzung vom Fremden: „Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“4 Als bezeichnendes Beispiel nennt Schmitt die „rücksichtslose Türkisierung“ der Türkei nach dem Ersten Weltkrieg.5
Das Eigene wird nach Schmitt durch die Abgrenzung vom Fremden bestimmt. Dies erläutert er im „Begriff des Politischen“: Konstitutiv für die Politik sei die Unterscheidung von Freund und Feind. Dabei wird der Feind nicht als moralisch böse angesehen, sondern einfach als der andere: „Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind“.6
Das Konzept der Homogenität und die Freund-Feind-Unterscheidung von Schmitt sind zentral für das Identitätsverständnis der Neuen Rechten. Das Eigene wird auf Grundlage der Abgrenzung vom Fremden bestimmt und es wird bewahrt, indem das Fremde draußen gehalten oder assimiliert wird.7 Es ist somit nicht auf einen Mangel an gedanklicher Leistungsbereitschaft zurückzuführen, wenn die deutsche Identität von Vertretern der Neuen Rechten regelmäßig nur sehr unscharf bestimmt wird.8 Vielmehr ist es für ihr Verständnis von Identität konstitutiv, dass sie nicht auf der positiven Bestimmung des Eigenen, sondern auf der negativen Abgrenzung vom Fremden beruht.9
Das Problem der Betonung der ethnischen und kulturellen Identität liegt somit weniger in der damit verbundenen Vorstellung des Volkes als einer Abstammungsgemeinschaft – ein solches Verständnis der nationalen Identität vertreten auch Anhänger des ius sanguinis –, sondern zum einen in der Negativität. Vertreter der Neuen Rechten brauchen den Feind, um das Eigene zu bestimmen. Zum anderen liegt es im damit verbundenen Partikularismus, denn jenseits des Dualismus vom Eigenen und Fremden gibt es keine gemeinsam geteilten Werte wie die Menschenwürde oder universelle Menschenrechte. Die Neue Rechte folgt auch hier Carl Schmitt: „Wer von Menschheit spricht, der will betrügen“.10 Jede Vorstellung universeller Werte, wie sie der Aufklärung und allen Menschenrechtserklärungen der Neuzeit zugrunde liegen, wird abgelehnt. So bezeichnet der langjährige Sprecher der IB in Österreich Martin Sellner die universalistische Sicht als „totalitär“, weil sie „überzeitliche und internationale Geltung beansprucht“; dem stellen „Identitäre ein … pluralistisches …, perspektivisches Denken gegenüber“, das die „Einzigartigkeit“ jedes Volkes betont. Sie ergebe sich „notwendig aus der Abgrenzung zu anderen“.11
Identität ist im Sinne der Neuen Rechten somit nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass das Eigene durch die Feindschaft gegenüber dem Fremden begründet wird. Vielmehr beruht sie auf einem Antiuniversalismus. In theoretischen Schriften über das Konzept des Ethnopluralismus wird stets betont, dass die verschiedenen Völker als gleichwertig anzusehen seien – doch angesichts der Leugnung universeller Werte verwundert es nicht, dass die Abgrenzung vom Fremden in der Praxis doch regelmäßig in offenen Rassismus umschlägt.
Identität im Linksextremismus
Im Linksextremismus ist der entscheidende Bezugspunkt für die Bestimmung der Identität nicht das Volk, sondern andere (tatsächlich oder vorgeblich) benachteiligte soziale Gruppen. Auch hier ist der Ausgangspunkt zunächst ganz legitim: Bestimmte Gruppen, die Merkmale der ethnischen Herkunft, des Geschlechts bzw. der sexuellen Orientierung u. ä. teilen, reagieren auf gemeinsame Diskriminierungserfahrungen, gegen die sie – oft berechtigterweise – vorgehen. Problematisch wird das Engagement gegen Diskriminierungen dann, wenn es mit radikalen Dualismen verbunden wird.
Ein frühes Beispiel dafür war der Marxismus-Leninismus. Nach Marx muss das Proletariat im Klassenkampf gegen die Kapitalisten ein Klassenbewusstsein herausbilden – das ist die Voraussetzung für den gewaltsamen Sturz der bestehenden Ordnung und die Errichtung der Diktatur des Proletariats.12 Das Klassenbewusstsein meint etwas ähnliches wie der Begriff Identität, unterscheidet sich von der modernen linken Identitätspolitik jedoch in zwei zentralen Punkten: Erstens geht Marx davon aus, dass Klassen reale Gegebenheiten sind, während linke Identitätspolitik soziale Gruppen als sozial konstruiert ansieht.13 Zweitens führen moderne Vertreter linker Identitätspolitik gesellschaftliche Konflikte nicht ausschließlich auf den Klassenkampf als gesellschaftlichen Grundkonflikt zurück, sondern sie gehen von einer Pluralität der Konflikte aus. Neben sozioökonomisch bedingten Konflikten gibt es vor allem solche um Gleichberechtigung hinsichtlich der ethnischen und kulturellen Herkunft sowie um die Rechte von Frauen bzw. Gendergruppen. In jedem dieser Konflikte bilden die jeweiligen Gruppen eine eigene kollektive Identität heraus, auf deren Grundlage sie um Anerkennung ringen.
Linksextremistische Positionen in der Identitätspolitik zeichnen sich nun dadurch aus, dass sie auf einem radikalen Dualismus von Unterdrückten und Unterdrückern beruhen, wobei den Unterdrückten ein weitreichendes Recht auf Widerstand zugesprochen wird. Im Kampf gegen Rassismus geht dies soweit, dass statt einer Abschaffung die Umkehrung der Diskriminierung gefordert wird: Der v. a. in den USA bekannte Autor Ibram X. Kendi fordert, dass zumindest für eine bestimmte Zeit Weiße von Schwarzen diskriminiert werden müssen.14 In postkolonialistischen Deutungen des Nahostkonflikts werden immer wieder terroristische Taten der Hamas und der Hisbollah als legitime Akte des Widerstands gedeutet;15 eine der wichtigsten Vordenkerinnen der linken Identitätspolitik, Judith Butler, sieht in der Hamas eine progressive Kraft.16 Interessanterweise beruhen solche Deutungen von Konflikten wie bei der Neuen Rechten auf einem Antiuniversalismus.
Gemeinsamkeiten
Dieser Punkt deutet daraufhin, dass es bei allen Unterschieden zwischen links- und rechtsextremistischen Deutungen der Identität bedeutende Gemeinsamkeiten gibt. Zwei sollen hier hervorgehoben werden: Erstens beruht in beiden Phänomenbereichen die Bestimmung der Identität einer Gruppe auf der scharfen Abgrenzung von anderen Gruppen: In der Neuen Rechten zieht das Volk seine Identität aus der Abgrenzung vom Fremden, in der linksextremistischen Identitätspolitik werden die Gruppen als Unterdrücker und Unterdrückte gedeutet, wobei die Unterdrückten als „die Guten“ und die Unterdrücker als „die Bösen“ gelten.
Der damit verbundene Dualismus ist – zweitens – deshalb so schroff, weil in beiden Phänomenbereichen radikal partikularistisch und damit antiuniversalistisch argumentiert wird. Das Eigene und das Fremde, die Unterdrückten und die Unterdrücker verbinden keine höheren Werte; die Konflikte zwischen ihnen sind nicht eingebettet in ein System von gemeinsam geteilten Werten oder von Menschenrechten. Diese spezifisch extremistische Deutung von Identität darf aber nicht dazu führen, das politische Engagement für nationale oder europäische Identität einerseits oder gegen die Diskriminierung von sozialen Gruppen andererseits grundsätzlich in Frage zu stellen.
Hendrik Hansen
1 Für einen ausführlichen Vergleich siehe Hendrik Hansen: Linke und rechte Identitätspolitik. Ein Vergleich der poststrukturalistischen Wende im Linksextremismus mit dem Ethnopluralismus und Nominalismus der Neuen Rechten, in: ders./Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2019/20, Brühl 2021, S. 681-728.
2 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2016, Berlin 2017, S. 62; Identitäre Bewegung: Unsere Geschichte, https://www.identitaere-bewegung.de/mission/ (zuletzt aufgerufen am 04.10.2024).
3 Vgl. z. B. Martin Lichtmesz: Ethnopluralismus. Kritik und Verteidigung, Schnellroda, 2020.
4 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 9. Auflage, Berlin 2010, S. 14.
5 Ebd.
6 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 6. Auflage, Berlin 1996, S. 27.
7 Die Möglichkeit der Assimilation betonen Vertreter der Neuen Rechten, um den Einwand zurückzuweisen, dass sie die Ausweisung aller Menschen mit Migrationshintergrund fordern; vgl. Maximilian Krah: Politik von rechts, Schnellroda 2023, S. 57-62; Martin Sellner: Remigration: Ein Vorschlag, Schnellroda 2024, S. 44 f., 67, 72-74, 98.
8 Vgl. z. B. die Bestimmung von Identität auf der Homepage der Identitären Bewegung: „Unsere ethnokulturelle Identität ist ein Netzwerk aus verschiedenen Strängen und Verbindungslinien, die von der Exklusivität unserer Kultur, Geschichte, Tradition, Sprache und Herkunft geprägt sind.“ https://www.identitaere-bewegung.de/themen/identitaere-zukunft/ (zuletzt aufgerufen am 04.10.2024).
9 Vgl. Hendrik Hansen: Wann wird aus Konservativismus Rechtsextremismus? Die Frage der Einschätzung der Neuen Rechten, in: Joachim Klose/Norbert Lammert (Hrsg.): Balanceakt für die Zukunft. Konservatismus als Haltung, Göttingen, 2019, S. 335-344.
10 Schmitt zitiert nach Krah (Anm. 6), S. 71.
11 Martin Sellner: Ethnozentrismus, Ethnopluralismus, Universalismus (19. April 2017), in: https://sezession.de/57017/ethnozentrismus-ethnopluralismus-universalismus (zuletzt aufgerufen am 04.10.2024).
12 Vgl. Karl Marx: Das Elend der Philosophie, in: Marx-Engels-Werke Bd. 4, Berlin 1959, S. 63-182, hier S. 180f. Vgl. auch Jens Kastner/Lea Susemichel: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, 2. Auflage, Münster 2020, S. 40.
13 Vgl. Kastner/Susemichel (Anm. 12), S 64-66.
14 Ibram X. Kendi: How To Be an Antiracist, München 2020.
15 Vgl. stellvertretend für viele: Ramón Grosfoguel: Gaza: The Warsaw Ghetto of the 21st century, in: The Long View (Quarterly Magazine of the Islamic Human Rights Commission), Bd. 6, Heft 1, https://www.ihrc.org.uk/gaza-the-warsaw-ghetto-of-the-21st-century/ (zuletzt gelesen am 04.10.2024).
16 Judith Butler im Rahmen einer Veranstaltung an der Universität Berkeley, zitiert nach: Zahi Zalloua: Continental Philosophy and the Palestinian Question: Beyond the Jew and the Greek, London u. a. 2017, S. 64. Vgl. auch Judith Butler: The Compass of Mourning, in: London Review of Books Bd. 45, Nr. 20 vom 19.10.2023 (https://www.lrb.co.uk/the-paper/v45/n20/judith-butler/the-compass-of-mourning, letzter Abruf: 04.10.2024).