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Boko Haram
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Selbstbezeichnung „Boko Haram“ bzw. „Islamischer Staat in Westafrika“
Während die militärischen Geländegewinne des Schreckenskalifats „Islamischer Staat“ (IS) im Irak und Syrien breite mediale Aufmerksamkeit finden, erregte ein im Spätsommer 2014 ausgerufenes Kalifat der nigerianischen Boko Haram (je nach Übersetzung „Westliche Bildung/Erziehung/Zivilisation ist Sünde/verboten“)1, die sich Ende April 2015 in „Islamischer Staat in Westafrika“ bzw. „Westafrikanische Provinz“ (Wilayat Gharb Ifriqiyah) umbenannt haben soll, weit weniger Aufmerksamkeit. Nur kurze Zeit stand die dschihadistische Miliz mit einer weiteren Selbstbezeichnung (ab September 2010) Jamā’at Ahl al-Sunnah li Da’wah wa-l-Jihād (zu Deutsch: „Gemeinschaft der Sunniten für den Ruf zum Islam und den Dschihad“) in den internationalen Schlagzeilen. Dabei verübte die Organisation zwischen 2000 und 2013 etwa 750 Selbstmordanschläge – deutlich mehr als Al-Qaida im Irak bzw. IS(IS); auch die Zahl der Toten in Nigeria übersteigt jene in Syrien und im Irak.
Radikalisierung der Boko Haram-Anhängerschaft
Es lassen sich drei chronologische Entwicklungsphasen des Netzwerkes unterscheiden: 1) eine militante: durch die Kanama-Abspaltung (2003-2004/5), auf die hier nicht eingegangen werden kann; 2) eine dawa-aktivistische: durch die „Yusufiyya“ (bis Juli 2009); und 3) eine dschihadistische: durch Boko Haram (ab Ende 2009/Anfang 2010).
Der Aufstieg der dschihadistischen Miliz, der seit ihrer Erklärung zum Dschihad im Spätsommer 2009 unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 7000 und 15000 Menschen zum Opfer fielen, lässt sich ohne gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den nigerianischen Sicherheitsbehörden und den Anhängern von Mohammad Yusuf im Jahr 2009 nicht nachvollziehen. Boko Haram war bis zu diesem Zeitpunkt eine der zahlreichen nigerianischen islamistischen bzw. politisch-salafistischen Organisationen, die sich antiwestlich gab, die politische Elite herausforderte, indem sie das Versagen der Regierung bzw. den Einfluss der Politik auf die Lebensumstände der muslimischen Bevölkerung zum Thema machte und daraus resultierend die Einführung eines schariabasierten Regierungssystems forderte. Die Lage änderte sich jedoch schlagartig, nachdem die nigerianischen Sicherheitskräfte zwischen 800 und 1000 Personen, darunter Hunderte Boko Haram-Anhänger und -Sympathisanten in den Bundesstaaten Borno, Yobe, Kano und Bauchi im Juli und August 2009 töteten, den Anführer der Gruppe Yusuf außergerichtlich hinrichteten und die Moschee der Gemeinschaft zerstörten. Videoaufnahmen deuten darauf hin, dass viele mutmaßliche Anhänger wie der Anführer der Organisation nicht in Gefechten ums Leben kamen, sondern gezielten Tötungen zum Opfer fielen.2
Mittelfristig erwies sich das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte als Pyrrhussieg. Denn am 9. August 2009 erklärte die Gruppe dem Staat Nigeria den Dschihad und begann 2010 nach einer vergleichsweise kurzen Umstrukturierungsphase im Untergrund, systematische Anschläge gegen Polizei, Militär, Beamte und Politiker zu verüben. Aber auch kritische Muslime und Christen sind seitdem Opfer der Angriffe.
Von „nigerianischen Taliban“ zu Boko Haram
Die 2002 entstandene fundamentalistische Gruppe muslimischer Jugendlicher um den charismatischen Prediger Mohammed Yusuf, die sich in einer Moschee in Maiduguri versammelte und aus der die heutige Boko Haram hervorging, ließ eine Gewaltexplosion solchen Ausmaßes nicht selbstverständlich vermuten. Als populärer Prediger vertrat Yusuf zwar einen unter Islamisten weit verbreiteten Standpunkt, dem zufolge jene Aspekte der – auch während der Kolonialzeiten oktroyierten – westlichen Bildung und Zivilisation, die im Widerspruch zum Koran stünden, zu verbieten seien (daher auch der Name). Die „nigerianischen Taliban“, wie Boko Haram Anfang der 2000er Jahre pauschal genannt wurde, lehnten die staatliche Autorität ab und erhofften sich von der strikten Befolgung des „reinen“ Islam und der prophetischen Tradition unter anderem eine Besserung sozialer Umstände. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Staat war jedoch noch nicht kompromisslos.
Organisationsstrukturen
Die zunehmende Brutalisierung der Gewalt gegen Zivilisten führte zur Bildung einer neuen Gruppe im Boko Haram-Umfeld, die unter dem Namen „Ansaru“ (Ansar al-Muslimin fi Biladis-Sudan, zu Deutsch: Die Helfer der Muslime in Schwarzafrika) bekannt wurde. In einer Anfang 2012 veröffentlichten Erklärung positionierte sich ihre Führung gegen Tötungen von „unschuldigen“ Muslimen und Sicherheitskräften. Gewalt sei demnach nur zur Selbstverteidigung zulässig. Darüber hinaus hieß es im auf Arabisch erschienenen Video, Ansaru würde Bürger und Interessen der „fremden Feinde“ angreifen. Die Kritik an Boko Haram richtete sich somit primär gegen die takfiristische Ausrichtung ihrer Ideologie, d.h die Erklärung auch von andersdenkenden Muslimen zu „Ungläubigen“ (siehe auch takfir). Im Februar 2015 wiederholte Ansaru ihre Kritik erneut. Trotz dieser Konflikte lassen sich Schnittmengen identifizieren, die auf eine netzwerkartige Kooperation zwischen Ansaru und Boko Haram schließen lassen. Das Netzwerk soll laut Terrorismusexperten um drei Kerngruppen strukturiert sein. Die Kämpfer um Shekau führen einen dschihadistischen Aufstandskrieg im Nordosten des Landes. Khalid Barnawi setzt auf die von AQIM (Al-Qaida im Maghreb) ausgebildeten Dschihadisten und baut seit 2013 Al-Qaida-Zellen im Nordwesten auf, um aufwendigere Anschläge zu verüben, und geht überdies seinen kriminellen Aktivitäten (Entführungen etc.) nach. Mamman Nur, der über paramilitärische Expertise verfügt, Kontakte zu AQIM sowie Al-Shabab pflegt und von externen Experten in Planung, Logistik sowie Finanzen unterstützt wird, soll professionelle Zellen für Boko Haram aufbauen.
Strategien und Gewaltaktivismus
Obwohl sich Boko Haram als „islamische Revolution“ bezeichnet, deren Einfluss sich nicht auf den Norden Nigerias beschränkt, ist der muslimische Nordosten ihr Kerngebiet. Dies spiegelt sich auch auf der strategischen Ebene wider: Dort findet primär die Strategie des Kalifats- und des Autoritätssaufbaus Anwendung, während im Nordwesten und im Süden die Destabilisierung des politischen Systems bzw. Racheaktionen oder provokative Maßnahmen zur Verschlechterung der Lage der Muslime im Vordergrund stehen.
Dr. Michail Logvinov
Lesetipps:
- ICG (Hrsg.), Curbing Violence in Nigeria (II): The Boko Haram, Brüssel 2014.
- Amnesty International (Hrsg.), „Our job is to shoot, slaughter and kill“. Boko Haram’s reign of terror in North East Nigeria, London 2014.
- Moritz Hütte/Guido Steinberg/Annette Weber, Boko Haram: Gefahr für Nigeria und seine nördlichen Nachbarn, in: Guido Steinberg/Annette Weber (Hrsg.), Jihadismus in Afrika. Lokale Ursachen, regionale Ausbreitung, internationale Verbindungen, SWP-Studie, Berlin 2015.
- Marc-Antoine Perouse de Montclos (Hrsg.), Boko Haram: Islamism, politics, security and the state in Nigeria, Leiden 2014.
1 Boko Haram selbst führte in einer 2009 veröffentlichten Dschihaderklärung aus: „… Boko Haram does not in any way mean ‘Western Education is A sin’ as the infidel media continue to portray us. Boko Haram actually means ‘Western Civilisation is forbidden’. The difference is that while the first gives the impression that we are opposed to formal education coming from the West, that is Europe, which is not true, the second affirms our believe in the supremacy of Islamic culture (not Education), for culture is broader, it includes education but not determined by Western Education. In this case we are talking of Western Ways of life which include: constitutional provision as if relates to, for instance the rights and privileges of Women, the idea of homosexualism, lesbianism, sanctions in cases of terrible crimes like drug trafficking, rape of infants, multi-party democracy in an overwhelmingly Islamic country like Nigeria, blue films, prostitution, drinking beer and alcohol and many others that are opposed to Islamic civilisation“ (Rechtschreibung im Original). Vgl. „Boko Haram ressurects, declares total Jihad“, Vanguard, 14.08.2009, http://www.vanguardngr.com/2009/08/boko-haram-ressurects-declares-total-jihad/ (15.01.2015).
2 Vgl. „Video shows Nigeria 'executions'“, Al Jazeera, 09.02.2010, http://www.aljazeera.com/news/africa/2010/02/2010298114949112.html (15.12.2014).