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Die Legitimation des Jihād im Islam

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Seit den Anschlägen des 11. September begegnet uns das arabische Wort jihād oft in den Medien und wird dabei zumeist ausschließlich als Begriff für „Heiliger Krieg“ verstanden. Muslimische Extremisten begehen im Namen des jihād unvorstellbare Grausamkeiten. Täglich erreichen uns derzeit neue Nachrichten über die Gräueltaten des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) in Teilen Syriens und des Irak. Wie aber wurde der Begriff jihād in der islamischen Geschichte verstanden? Und wie gehen heutige Jihādisten damit um?

Das arabische Wort jihād umfasst ein breites Bedeutungsspektrum, das sich in den 1400 Jahren islamischer Geschichte weiterentwickelt hat. Der arabische Begriff kann keinesfalls auf die exklusive Bedeutung von „bewaffnetem Kampf“ eingeschränkt werden. Das Substantiv jihād leitet sich von dem Verb jāhada ab, das mit „sich bemühen, sich anstrengen, streben, kämpfen“ zu übersetzen ist. Nach theologischem Verständnis liegt eine grundlegende Konnotation des Wortes in der Bemühung um ein lobens- und belohnenswertes Ziel. Es geht dabei um ein Ankämpfen gegen persönliche Schwächen und unmoralische Versuchungen sowie ein Eintreten für das Wohl des Islams und der muslimischen Gemeinde (umma). Muslimische Rechtsgelehrte aus klassischer Zeit haben in ihren Werken den Begriff jedoch tatsächlich in erster Linie als bewaffneten Kampf gegen die „Ungläubigen“ aufgefasst und dabei auch die Regeln der Kriegsführung abgehandelt.

Dieses in der Frühzeit des Islams entstandene jihād-Konzept ist allerdings nicht ohne historische und kulturelle Einbettung in die damalige Epoche zu verstehen. Eingang fanden Elemente des Kriegsbegriffs der vorislamischen Stämme auf der Arabischen Halbinsel. Unter diesen wurde ein Kriegszustand als legitim betrachtet, sofern nicht ein Friedensvertrag geschlossen worden war. Auch der Prophet Muhammad hat Kriege geführt, die sich im Koran widerspiegeln. Wahrscheinlich hat er aber nie den Terminus jihād dafür verwendet.

Im Koran ist an mehreren Stellen von jihād und qitāl („Kampf“) gegen die Ungläubigen1 die Rede. Im Zusammenhang mit kriegerischen Handlungen trifft man jedoch wesentlich seltener auf den Begriff jihād als auf das Wort qitāl. Eine Verbindung der beiden Termini und der entsprechenden Koranstellen ist keineswegs zwingend, wurde jedoch exegetisch in nachprophetischer Zeit hergestellt. Neben dem Koran liefern die Hadīthe, d. h. die Überlieferungen über die Aussagen und Handlungen des Propheten, die Basis für das jihād-Konzept. In ihnen findet sich auch die Unterscheidung zwischen dem „großen jihād“, dem Ankämpfen gegen moralische Schwächen, und dem „kleinen jihād“, dem militärischen Kampf. Genauer ausgearbeitet durch die muslimischen Gelehrten wurde das jihād-Konzept erst Ende des 8. Jahrhunderts. Diese Formierungszeit fiel zusammen mit der Periode, in der das islamische Reich expandierte und auch noch weitgehend eine einheitliche Staatlichkeit bestand. Nach dieser Idee eines islamischen Staates galt es, das Gebiet und die islamische Ordnung auszuweiten, jedoch nicht zwingend die Untertanen zu konvertieren. Nach dieser theoretischen Lesart ist expansiver jihād eine kollektive Pflicht (fard ʿalā l-kifāya), wobei ein rechtmäßiger Herrscher vorausgesetzt wird, der den Kampf organisiert und einer Gruppe – in der Regel den Streitkräften – überträgt. Jihād kann aber auch zu einer Pflicht des Einzelnen (fard ʿain) werden, insbesondere dann, wenn islamisches Territorium von Feinden angegriffen wird und zu verteidigen ist. Jihād ist in diesem Fall also defensiv. Die Werke der klassischen Rechtsgelehrten enthalten zahlreiche Regeln zur Kriegsführung, deren Tenor eine Verschonung von nicht am Kampf Beteiligten ist.

Von großer Bedeutung für das weitere Verständnis von jihād war, dass spätestens ab dem 10. Jahrhundert ein Zerfall des idealisierten Einheitsstaates einsetzte und zudem ab dem 11. Jahrhundert größere Gebietsverluste zu verzeichnen waren, v. a. auf der Iberischen Halbinsel. Viele Muslime blieben jedoch in ihren nun nicht mehr unter islamischer Herrschaft stehenden Heimatregionen. Dies alles beeinflusste das juristische Verständnis des Territorialbegriffs und auch die Interpretation des jihād. Moralische Komponenten rückten in den Vordergrund, jedoch verschwand die militärische Konnotation nie gänzlich.

Einen tiefen historischen Einschnitt markierten die Einfälle der Mongolen in die islamische Welt im 13. Jahrhundert. Zu dieser Zeit lebte der Gelehrte Ibn Taimiyya (st. 1328), der von Jihādisten heute oft zitiert wird. Er argumentierte, dass gegen die Mongolen jihād zu führen sei, da sie sich nur nominell zum Islam bekannt hätten. Im Grunde seien sie jedoch „Ungläubige“.

In der Kolonialzeit vom 18. bis zum 20. Jahrhundert aktualisierte sich der jihād-Gedanke, wurde aber regional und situativ durchaus sehr kontrovers diskutiert. Insbesondere in der Anfangsphase der Kolonisierung bildeten sich in verschiedenen Gebieten politisch-religiöse Bewegungen, die die Fremdherrschaft im Namen des jihād bekämpfen wollten (z. B. Indien, Algerien). Sie blieben jedoch innermuslimisch umstritten und letztendlich ohne Erfolg.

Moderne Theorien zum militanten jihād entstanden in postkolonialer Zeit, als mit der Entstehung der Nationalstaaten neue Rahmenbedingungen zum Tragen kamen, die eine Redefinition des Konzepts erforderten. Als einer der bedeutendsten Theoretiker des modernen Islamismus ist der Ägypter Sayyid Qutb (st. 1966) zu betrachten, für dessen Argumentation auch die Schriften Ibn Taimiyyas eine große Rolle spielten. Laut Sayyid Qutb waren die Probleme muslimischer Gesellschaften dadurch bedingt, dass islamische Normen und Gesetze nicht mehr maßgebend seien. Jihād besteht für ihn zwar zunächst in Form eines friedlichen Aufrufs, die Gesellschaft zu islamisieren, doch könne er auch zum Verteidigungskampf bis hin zu offensiver Kriegsführung werden, sofern Muslime an einem Ort nicht frei ihren Glauben propagieren dürften. Zielte Sayyid Qutb vorrangig noch auf eine Änderung innerstaatlicher Verhältnisse ab, so verlagerte sich im Zuge des Afghanistankriegs gegen die Sowjets (1979-89) das Hauptziel des jihād vom inneren auf den äußeren Feind, dessen theoretische Unterfütterung v. a. von ʿAbdallāh ʿAzzām (st. 1989) geleistet wurde.

Ein wichtiger Faktor für die globalisierte Ausrichtung des ''jihād'' waren die zahlreichen Konflikte in den 1980/90er Jahren, die konfessionelle Züge annahmen (u. a. Bosnien, Tschetschenien, Kaschmir). Unter der Wahrnehmung einer globalen Bedrohung von Muslimen durch Nichtmuslime wurde der ''jihād'' von Jihādisten hauptsächlich als Defensivkrieg aufgefasst.

Mit der Entstehung des sogenannten „Islamischen Staates“ 2014 zeichnet sich jedoch eine neue Deutung ab. Defensiver jihād ist nach wie vor wichtig, doch es wird nun auch die Notwendigkeit des offensiven jihād artikuliert. Abū ʿAbdallāh ar-Rashīd al-Baghdādī (st. 2010), der Führer der Vorläuferorganisation des IS, vertrat dessen Rechtmäßigkeit schon vor mehreren Jahren; die Gebietskontrollen durch den IS und das Postulat eines legitimen Kalifen sollten diesen Anspruch jedoch unterstreichen. Die heutigen Jihādisten sind häufig theologische Autodidakten, lehnen aber zugleich die Exegesemethoden der islamischen Tradition ab. Sie ziehen Koranverse und Hadīthe meist rein selektiv und ohne Beachtung des Sinnkontexts heran. Zahlenmäßig stellt die jihādistische Interpretation nur eine absolute Minderheitenposition dar.

 

Dr. Mariella Ourghi

 

Lesetipps:

  • Michael Bonner, Jihad in Islamic History. Doctrines and Practice, Princeton 2006.
  • Cook, David: Understanding Jihad, Berkeley/Los Angeles/London 2005.
  • Rüdiger Lohlker, Dschihadismus. Materialien, Wien 2009.
  • Mariella Ourghi, Muslimische Positionen zur Berechtigung von Gewalt. Einzelstimmen, Revisionen, Kontroversen, Würzburg 2010.
  • Rudolph Peters, Jihad in Classical and Modern Islam. A Reader (Second Edition: Updated and Expanded, with a New Chapter on the Jihad at the Turn of the 21st Century), Princeton 2005.

 


Das arabische Wort kāfir (Sg. zu kuffār) bedeutet zunächst „undankbar“ und bezeichnet in der frühen koranischen Offenbarung die nicht zum Islam übergetreten Mekkaner, später in den medinensischen Suren auch andere Nichtmuslime, wobei in der historischen Praxis den Anhängern von Buchesreligionen zumeist eine privilegierte Stellung zukam.

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