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Falsche Vorbilder: Leo Trotzki

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Kann ein Bürgerkriegsstratege, Kriegsverbrecher und Massenmörder zum Migranten, Märtyrer und zur ideologischen Ikone werden? Er kann es: Das widersprüchliche Leben des Leo Davidovitch Bronstein, genannt Trotzki, übt bis heute auf eine, wenngleich schwindende, Anzahl von revolutionären Marxisten eine schwer verständliche Faszination aus. Trotzki gilt als der „bessere“, weil „ehrlichere“ und konsequentere, Anhänger Lenins - sein Bild gewinnt nicht zuletzt Reputation aus der Negativfolie Stalins.

Von Trotzkis fortgesetztem Status als revolutionäre Ikone zeugen nicht nur die zahllosen zersplitterten, weltweit verstreuten trotzkistischen Splittergruppen, die mit jeweils unterschiedlicher Interpretation seine revolutionären Lehren aufrechterhalten. Zudem hat Trotzki eine erkleckliche Anzahl professoraler Bewunderer hervorgebracht, und ein renommierter Hamburger Verlag bemühte sich schon vor der Zeitenwende des Jahres 1989, die Schriften des Revolutionärs in einer vielbändigen Edition zu versammeln.

Ein Blick auf seine Vita (8. November 1879 Russisches Kaiserreich - 21. August 1940 Mexiko) hilft, das zu verstehen.

Sie zeigt einen literarisch und rhetorisch hochbegabten jungen Menschen aus dem Grenzraum zwischen dem heutigen Russland und der Ukraine. Rasch streift der aus einem kleinbürgerlich-bäuerlichen Elternhaus stammende Junge seine jüdischen Wurzeln ab. Die Ungerechtigkeit der zaristischen Despotie erregt seinen Widerspruch. Schnell kommt er mit revolutionärem, erst danach mit marxistischem Gedankengut in Kontakt. 1898 schlägt das System zurück: Der junge Bronstein wird verbannt, entweicht 1902 mit einem falschen Pass auf den Namen Leo Trotzki. Bei diesem Namen wird es bleiben.

 

Revolutionär und Rätetheoretiker (1903-1917)

In der Geschichte nicht zuletzt der französischen Revolution sucht der Analytiker Trotzki nach tauglichen Analogien für die Überwindung der zaristischen Selbstherrschaft. Schon damals zeichnet sich Trotzki durch eine mechanistisch-instrumentelle Intelligenz aus. Er erkennt frühzeitig, 1904, den Zentralismus Lenins als Fehler - eine hellsichtige Analyse, was den weiteren Verlauf der russischen Ereignisse betrifft. Trotzki hält dagegen das der französischen Revolution abgeschaute Prinzip der Räte, der „Sowjets“ hoch. Das hindert ihn nicht, im August 1917 der Fraktion Lenins beizutreten. Im Unterschied zur offiziösen sowjetischen Geschichtsschreibung ist es am 8. November 1917 in erster Linie Trotzki, der die sogenannte Oktoberrevolution organisiert.

 

Kriegskommissar und Kriegsverbrecher (1917-1925)

Als Organisator der Roten Armee und Kriegskommissar zeigt der „authentische Revolutionär“ nicht nur Organisationstalent, sondern auch unbegrenzte Brutalität. Trotzki installierte den Politkommissar, der hinter den eigenen Linien stand, um zurückweichende Soldaten zu liquidieren. Er ließ in großem Umfang Geiseln nehmen und erschießen - die Beseitigung „sozial unerwünschter“ Klassen stand ja ohnehin auf dem Programm der Bolschewiki. Und er erfand die Militarisierung der Arbeit, bei der sich die Gewerkschaften von Interessenvertretungen der Arbeiter zu Organen der Ausbeutung wandelten. „Die Gewerkschaften“, schrieb Trotzki, „werden zu Vollstreckern der Arbeitsdisziplin. Sie führen die revolutionären Repressalien gegen die undisziplinierten, zügellosen Schmarotzerelemente der Arbeiterklasse durch.“1 Muckte das Volk auf, so kannte der Kriegskommissar selbst dann keine Gnade, wenn es sich um glühende Anhänger der Revolution handelte. Im Frühjahr 1921 begehrten die Matrosen der Kriegsflotte in Kronstadt auf, ursprünglich eine Elitetruppe der Bolschewiki. Trotzki ließ ihre Verwandten verhaften und drohte den Meuterern: „Ich werde euch wie Fasanen abschießen.“2 So geschah es: Der „Kronstädter Aufstand“ bildet seither einen Markstein für die Feindschaft zwischen authentischen Sozialrevolutionären und Anarchisten einerseits und dem Marxismus-Leninismus andererseits.

 

Dissident und Illusionist (1925-1940)

Erstaunlicherweise übersah der Organisator der Roten Armee die Bedeutung des Parteiapparates für die Lenkung der Diktatur und schenkte dem Aufstieg des von ihm verachteten Stalin zum Generalsekretär nicht die erforderliche Aufmerksamkeit. Bereits vor dem Tod Lenins (Januar 1924) zeichnet sich Trotzkis Entmachtung ab. Im Herbst 1925 wird er aus dem Politbüro, ein Jahr später aus der Partei ausgeschlossen. Wechselnde Bündnisse mit anderen Konkurrenten Stalins nützen nichts. Anfang 1928 wird er zunächst innerhalb der Sowjetunion verbannt, im Jahr darauf ins Exil in die Türkei gezwungen. Weitere Stationen werden folgen, während seine Anhänger in Russland in Massen physisch liquidiert und ausgesuchte Spitzenleute auch im Ausland vom sowjetischen Geheimdienst umgebracht werden.

Für seine schrumpfende Anhängerschar blieb Trotzki weiterhin ein charismatischer Schriftsteller und Intellektueller. Dennoch sind die meisten seiner oft brillant geschriebenen Analysen auf die eine oder andere Art falsch. Seine Kritik an der Bürokratisierung der bolschewistischen Revolution („Die verratene Revolution“, 1936) verschweigt, dass er diese Bürokratisierung selbst mit in Lauf gesetzt hat. Er kritisiert fehlende Diskussionsmöglichkeiten in der Partei, obwohl er das kompromisslose Verbot oppositioneller Strömungen selbst mit betrieben hatte. Trotzki leitet seine Analysen mechanisch aus historischen Analogien und den Dogmen des marxistischen dialektischen Materialismus ab; er baut seine Geschichts- und Weltbilder wie ein Chemielaborant seine Versuchsanordnungen. Die Revolution kann und muss demnach weltweit stattfinden, nicht, wie es der realistischere Stalin sieht, zunächst „in einem Lande“. Seine Treue zum gewaltsamen Aufbau einer Sowjetgesellschaft ist ungebrochen. „In der Sowjetunion gibt es noch keinen Sozialismus. Es herrscht dort ein Übergangszustand. Die erste Edison-Lampe war sehr schlecht.“, verkündet Trotzki 1932 in Kopenhagen. Die Entwicklung der Gesellschaft verlaufe ähnlich wie die Entwicklung der Glühbirne; auch der Mensch sei vorläufig und im Experiment verbesserungsfähig wie die Edison-Lampe; er sei als „Rohmaterial, bestenfalls als physisches oder psychisches Halbfabrikat“ zu betrachten.3 Seine Analysen zur revolutionären Situation in der nicht-kommunistischen Welt werden zunehmend von der Unkenntnis des verfolgten Sektierers geprägt. Trotzkis Bekenntnis zum sozialistischen Menschenversuch und seine wiederholten Treueschwüre gegenüber der Sowjetunion nützen ihm nichts: Im August 1940 erschlägt ihn ein Agent der GPU (die Geheimpolizei der Sowjetunion und Vorläufer des KGB), der sich sein Vertrauen erschlichen hatte, mit einem Eispickel in seinem letzten Zufluchtsort in Coyocán, Mexiko.

 

Märtyrer und Ikone

Der verfolgte Dissident hat stets das Potenzial zum Opfer, selbst wenn er, wie im Falle Trotzkis, ein hochrangiger Täter ist. Bis weit ins 20. Jahrhundert verfügten marxistische Utopien noch über authentische Antriebskraft. War da nicht ein geschliffener Schreiber und charismatischer Redner wie Trotzki jemand, der die „verratene Revolution“ beweinen und den richtigen Weg zeigen konnte? Über die Ergebnisse des Stalinschen Weges konnte sich seit mindestens 1956 niemand mehr irren. Umso naheliegender ist es, dass Trotzkis verbliebene Anhänger in seinen Ideen einen verschütteten Weg zum Kommunismus erblicken wollten. Der Mythos blieb in Teilen der 1968er Generation und in einigen Ländern des Globalen Südens bis über die Jahrtausendwende hinaus wirksam.

Zu Unrecht: Trotzkis von marxistischem und eigenem Dogmatismus geleitete Analysen hatten mit der realen Welt wenig bis nichts zu tun. Kommende Entwicklungen schätzte er falsch ein. Seinen politischen Abstraktionen fehlte jede Kategorie der ethischen Verantwortung für Menschen, die unter seinen Ideen zu leiden gehabt hätten. Die hohle Ikone Trotzki ist nur die dialektische Entsprechung des seit langem bröckelnden Denkmals Stalin.

 

Rudolf van Hüllen

 

Lesetipps:

Die umfangreiche literarische Produktion Trotzkis dient verständlicherweise auch der Selbstrechtfertigung und enthält entsprechend zahlreiche Geschichts- und Faktenverfälschungen. Zu nennen wären seine Autobiografie „Mein Leben“ (1930), „Die permanente Revolution“ (1930), „Geschichte der russischen Revolution“ (1931), schließlich „Die verratene Revolution“ (1936). Wird über Trotzki geschrieben, so muss man zwischen den Darstellungen sympathisierender Anhänger und den erst recht unbrauchbaren Publikationen aus dem orthodox-kommunistischen Lager unterscheiden. Der Streit um Trotzki ist in erster Linie eine innerkommunistische Auseinandersetzung.

Differenzierte Darstellung aus kritischer Sicht findet man wenige, z.B.

  • Heinz Abosch, Trotzki zur Einführung, Hamburg 1990;
  • Dimitri Wolkogonow, Trotzki. Das Janusgesicht der Revolution, Düsseldorf 1992;
  • Ein Kapitel über Trotzki in Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bad. III, München/Zürich 1979;
  • Für die aktuellen trotzkistischen Strömungen in Deutschland: „Das trotzkistische Spektrum im Linksextremismus“, 28.10.2014, Bundeszentrale für politische Bildung, online hier verfügbar.

 


Leo Trotzki, Terrorismus und Kommunismus, Hamburg 1920, S.90.

Zit. nach Heinz Abosch, Trotzki zur Einführung, Hamburg 1990, S.75 f.

Zit. nach Leo Trotzki, Die Russische Revolution. Kopenhagener Rede 1932, Berlin 1970

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