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Selektive Wahrnehmung und maßstabloser Vergleich
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Selektive Wahrnehmung und maßstabloser Vergleich sind Täuschungstechniken, mit denen von substanziellen Unterschieden zwischen zwei Sachverhalten abgelenkt werden soll. Sie sind vor allem bei der Bewertung kommunistischen Unrechts – sei es historisches oder aktuelles – von Bedeutung und dienen zu dessen Relativierung.
Dabei werden verschiedene Techniken miteinander kombiniert: Zum einen werden wesentliche Aspekte der SED-Diktatur wie z.B. systematische Menschenrechtsverletzungen entweder ganz ausgeblendet oder zumindest „niedriggehängt“ und mithin eher als Randerscheinungen dargestellt (siehe auch War die DDR ein Unrechtsstaat? und Entwertet Kritik an der SED-Diktatur die Lebensleistung der DDR-Bürger?). Umgekehrt werden zum anderen in westlichen Demokratien durchaus vorkommende Fehlleistungen als systembedingte und ständige Phänomene dargestellt.
Die Dimension der Ereignisse wird auf diese Weise nivelliert, ihre wesentlichen Unterschiede werden systematisch verwischt. Zwar mag es auch in Demokratien vorkommen, dass einzelne Polizisten mal die Nerven verlieren und beispielsweise in einer Demonstrationskonfrontation zu hart reagieren. Das kann man aber nicht ernsthaft mit einem politischen System gleichsetzen, in dem die Bevölkerung der Willkür der Geheimpolizei ständig ausgeliefert ist und in dem diese Willkür ausdrücklich politisch gewollt ist. Ein klassisches Beispiel für ein solches Verfahren ist der Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze. Kommunisten werden hier gerne darauf hinweisen, dass auch die Grenzsicherungseinheiten anderer Staaten im Zweifel im Rahmen der gegebenen Vorschriften von der Schusswaffe Gebrauch machen dürften, was Ausdruck staatlicher Souveränität und insofern völkerrechtlich völlig unbedenklich sei. Das „Argument“ „übersieht“, dass Demokratien abwanderungswillige Bürger natürlich ziehen lassen, während die DDR ihnen in den Rücken schoss.
Man sieht, dass die Nivellierung mit einer anschließenden Gleichsetzung der beiden Sachverhalte einhergeht. Das erwünschte Ergebnis ist der beim Zuhörer erzeugte Eindruck, dass vergleichbare, eben verglichene Sachverhalte denn auch irgendwie ein Stück weit „gleich“ sein müssten.
Der Effekt wird erzielt durch die bewusste Missachtung intellektuell redlicher Vergleichsmaßstäbe. Dabei werden zum einen schon die formalen Vergleichsmaßstäbe verletzt, d.h. es werden auf einer Ebene der Sachverhalte buchstäblich Äpfel mit Birnen verglichen. Zum anderen wird die normative Vergleichsebene ausgeblendet. Formal ist z.B. zutreffend, dass beide deutsche Staaten Nachrichtendienste unterhielten. Dass sie im einen Fall allerdings dem Schutz der auswärtigen Interessen und der inneren Demokratie dienten (Gesamtstärke bei 60 Mio. Einwohnern rund 11.000 Mitarbeiter), im anderen aber der gewaltsamen Aufrechterhaltung einer Diktatur (Gesamtstärke bei 16 Mio. Einwohnern rund 100.000 Mitarbeiter, also etwa das Vierzigfache), ist nicht nur auf der Zahlen-, sondern auch auf der Bewertungsebene sehr wohl ein entscheidender Unterschied.
Bestimmte Muster des maßstablosen Vergleichens und der propagandistischen und dann auch moralischen Nivellierung tauchen gehäuft auf, wo es um die Abwehr des Vorwurfes geht, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, z.B.:
- Im Unterschied zur verbreiteten Arbeitslosigkeit im Westen habe es dergleichen in der DDR nicht gegeben: Formal gesehen ist das richtig, denn es gab in einer ineffizienten Zentralverwaltungswirtschaft stets Arbeitskräftemangel. Wie in jedem Arbeitslager gab es deshalb auch in der DDR de facto keine Arbeitslosigkeit – mit dem Schönheitsfehler, dass die Arbeitenden als Früchte ihres Fleißes nichts oder nur weitgehend wertloses Geld erhielten (siehe auch Kann man die Wirtschaft einer Gesellschaft zentral planen?).
- Nach der deutschen Einheit habe die BRD „Vereinigungsunrecht“ praktiziert, indem sie früher „systemnahe Personen“ grundrechtswidrig in ihren politischen Rechten bzw. ihren Rentenansprüchen beschnitten habe. Hier liegt eine Nivellierung sowohl auf der faktischen als auch auf der moralischen Ebene vor: Moralisch musste es Bedenken geben, die Täter der Diktatur auch noch mit üppigen Renten für ihre Verbrechen zu belohnen. Faktisch hat es eine moralisch notwendige Rentenkürzung nach etlichen Urteilen des Bundesgerichtshofs gar nicht mehr gegeben, im Gegenteil: Die Stasi- und Parteitäter aus der Zeit vor 1989 sind heute im Unterschied zu ihren früheren Opfern, deren Lebenswege sie zerstört haben, unter den besser verdienenden Rentnern.
Selektive Wahrnehmung und maßstabloser Vergleich sind Agitationsmittel, die in einer „Infotainment-Gesellschaft“ leicht einsetzbar sind, bis hin zur glatten Lüge, denn nur zu oft hat niemand die Zeit nachzufragen. Die „Eindampfung“ und Nivellierung der Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Recht und Unrecht, kann indessen nur funktionieren, wenn die Demokraten den Agitatoren das Feld überlassen. Auch hier gilt: Information und Kritikfähigkeit sind Voraussetzungen für eine demokratische Streitkultur.
Rudolf van Hüllen