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Soll eine Gesellschaft pluralistisch oder homogen sein?

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Mit dieser Frage prallen zwei unterschiedliche Vorstellungen vom Menschen als sozialem Wesen aufeinander. Freiheitliche Demokratien gehen davon aus, dass es unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse gibt. Extremisten – nicht nur von links – unterstellen dagegen die Existenz eines allgemeinen „Volkswillens“. Wenn dies stimmte, gäbe es im Volk nur einen Willen, Unterschiede zwischen Mehrheit und Minderheit, Regierung und Volk existierten dann nicht. Eine solche Vorstellung nennt man „identitäre Demokratie“. Allerdings zeigt die Erfahrung: Jeder Versuch, eine solche identitäre Demokratie zu verwirklichen, führte nicht, wie behauptet, zu einer homogenen Gemeinschaft Gleichgesinnter – sondern in die Diktatur.

Identitäre Demokratie geht davon aus, dass politische Meinungsverschiedenheiten in Gesellschaften vollständig abgeschafft werden können und müssen und so eine Identität von Herrschern und Beherrschten entsteht. Sie ist untrennbar mit den Gedanken Rousseaus verbunden. Er betrachtete Individualismus und Unterschiedlichkeit von Interessen als Sündenfall und Ursprung von Willkürherrschaft. Er verfocht die utopische Vorstellung, dass jeder Einzelne vollkommen in einer sozialen Gemeinschaft aufgeht, indem er sich einem Gemeinwillen (franz. volonté générale) unterordnet (siehe auch Mehrheit und „Wahrheit“: Gibt es einen vorbestimmten Gemeinwillen?). Die Interessen der Regierten und des Volkes haben demnach dieselben zu sein. Doch wer definiert den Gemeinwillen und wer kontrolliert und garantiert seine Einhaltung? Darauf gab Rousseau keine genaue Antwort. Hätte er es versucht, wäre er wohl darauf gekommen, dass nur eine Diktatur imstande ist, dies zu leisten: „Rousseau glaubte einen neuen Menschen herbeizwingen zu können“.1

Identitäre-Demokratie-Entwürfe basieren hauptsächlich auf der Vorstellung, dass die konkreten Inhalte eines „Gemeinwillens“ bereits vorgegeben sind.2 Ihre Verfechter wähnen sich auf der Seite „des Volkes“, dessen „wahren Willen“ sie erkannt haben wollen. Daraus leiten Extremisten den Anspruch ab, die eigenen – angeblich einzig richtigen – Forderungen um jeden Preis durchzusetzen: Abweichende Meinungen sind in diesem Konzept nicht vorgesehen. Wer sie dennoch vorbringt, steht als „Verräter“ da und hat mit entsprechenden Sanktionen zu rechnen. Mit solchen Vorstellungen geht eine oft scharfe Kritik am Parlamentarismus und an der Parteiendemokratie einher. Der demokratische Verfassungsstaat gilt als „inhaltsleer“ und dem Volk „entfremdet“. Speziell für Linksextremisten ist er ein Herrschaftsinstrument der „Kapitalisten“, das diesen entrissen und mit neuen, „sozialistischen“ Inhalten gefüllt werden müsse. Wer als Demokrat aus welchem Grund auch immer von „der Politik“ oder „den Parteien“ enttäuscht ist, ist möglicherweise empfänglich für solche Argumente, die dann den Extremisten in die Hände spielen können.

Ein Staat, in dem nur noch eine „richtige“ Meinung gilt, läuft auf eine Art Erziehungsdiktatur hinaus, die sozialistische Vorstellungen im Volk durchsetzt. Dies ist der genaue Gegenentwurf zu einem demokratischen Verfassungsstaat. Linksextremisten verurteilen dessen „Formalismus“. Doch die politische Neutralität demokratischer Institutionen und Verfahren ist gerade der Garant dafür, dass aus einer Vielzahl von Interessen politische Entscheidungen entstehen – ohne Repression oder gar Gewalt. Nur eine freiheitliche Demokratie wird dem Widerstreit der Interessen gerecht. Wer demgegenüber die Pluralität der modernen Gesellschaft verneint, weil er glaubt, den richtigen Weg erkannt zu haben, begibt sich auf den Irrweg einer Gesellschaft, in der Zwang und Unterdrückung gegenüber Andersdenkenden ausgeübt werden. Das sollte sich jeder vor Augen halten, der angesichts politischen Streits und scheinbar fruchtloser parlamentarischer Debatten die Demokratie in Frage stellt und nach einfachen und radikalen Lösungen sucht. Eine freie Gesellschaft lebt von Widersprüchen. Nur in ihr ist es möglich, Fehler und Irrtümer zu erkennen und auszuräumen – und nicht zuletzt Politiker auch wieder abzuwählen. Dies schließt Reformen, selbst radikale, im demokratischen Verfassungsstaat natürlich nicht aus.

 

Jürgen P. Lang

 


Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen bis zum 20. Jahrhundert, München 2009, S. 221.

Vgl. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart u.a. 1979, S. 220.

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