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Falsche Vorbilder: Rudolf Heß
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Der „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Heß nahm sich 1987 im Gefängnis das Leben. Er war der letzte inhaftierte Hauptkriegsverbrecher, der in den Nürnberger Prozessen verurteilt wurde. Vor allem aufgrund seines Englandfluges im Jahre 1941 und der propagandistischen Ausschlachtung dieses Ereignisses ranken sich um seine Person zahlreiche Mythen und Verschwörungstheorien, an die Neonazis bis heute anknüpfen. Einen „beispiellosen Vertrauensbruch“ nannte Hitler seinen Englandflug, in der Neonaziszene wird er dennoch als Märtyrer verehrt.
Kindheit und Jugend bis zum 1. Weltkrieg
Heß wurde 1894 in Alexandria, Ägypten, geboren, wo sein Vater eine Importfirma führte. Seit 1900 ging er in Deutschland zur Schule und sollte dort nach seinem Realschulabschluss auf Wunsch seines Vaters eine Kaufmannslehre absolvieren. Bevor er sie beenden konnte, kam – was Heß sehr recht war – der Erste Weltkrieg dazwischen. Historiker und Psychiater, die sich mit Heß auseinandersetzten, wiesen oft auf seine problematische Beziehung zum autoritären Vater hin, mit der sie seine spätere Suche nach Ersatzvaterfiguren begründen. Sein begeisterter Zug in den Krieg wird als Ausdruck seiner ersehnten Emanzipation vom Vater gewertet.
Eintritt in rechtsradikale Kreise
Nach Ende des Ersten Weltkriegs glaubte Heß – wie viele seiner Landsleute –, dass Deutschland durch Verräter im eigenen Land um den Sieg betrogen worden war (die sogenannte Dolchstoßlegende). Seitdem stand ihm der Sinn danach, Rache an in- und ausländischen Feinden zu nehmen.
Nach einer Phase der Orientierungslosigkeit begann er ein Studium der Volkswirtschaftslehre in München. Hier traf er auf seinen Mentor, den Professor für Geopolitik Karl Haushofer. Über einen Bekannten Haushofers kam Heß zur Thule-Gesellschaft, wo er eine neue geistige und politische Heimat in Gestalt des dort verbreiteten völkischen Gedankenguts fand. Die Mitglieder dieser Organisation suchten wie Heß nach einem Weg, Deutschland wieder zu einer ihm ihrer Meinung nach rechtmäßig zustehenden Größe zu verhelfen. 1920 trat Heß in die NSDAP ein und nahm 1923 am Putschversuch in München teil. In der gemeinsamen Haft mit Hitler führten die beiden unzählige Gespräche, die Heß’ überbordende Bewunderung für den späteren Diktator begründeten.
Die Ideologie der NSDAP beeinflusste Heß vor allem in zwei Aspekten: Erstens machte er Hitler über Haushofer mit der Theorie vom knappen Lebensraum vertraut, die sich in „Mein Kampf“ in der Forderung nach „Lebensraum im Osten“ für das deutsche Volk niederschlug. Zweitens setzte er sich maßgeblich für die kultische Verehrung Hitlers als Führerkult ein.
Rolle im Dritten Reich
Heß’ starke Position in der NSDAP ergab sich ausschließlich aus seiner Nähe zu Hitler. Der honorierte seine bedingungslose Ergebenheit, indem er ihn mit wichtigen Funktionen betraute. Heß vermittelte zwischen der Partei und Förderern aus oberen Gesellschaftsschichten und schwor Partei und Gesellschaft auf die kritiklose Hingabe an Hitler ein.
Nachdem Heß um 1936 seine Aufgabe als einer der Architekten der Gleichschaltung von Partei, Staat und Gesellschaft erfolgreich beendet hatte und sich der Fokus des Regimes im Zuge der Kriegsvorbereitungen auf die Außenpolitik verschob, schrumpfte seine Rolle zunehmend.
Der Englandflug
Im Mai 1941 flog Heß ohne Absprache mit Hitler nach Großbritannien, um dort mit schottischen Adeligen über einen Separatfrieden zu verhandeln. Dazu bewegte ihn die Furcht vor einem Zweifrontenkrieg, da Hitler in diesen Tagen den Überfall auf die Sowjetunion terminiert hatte. Heß hoffte, mit einer heldenhaften Tat in der Hierarchie der Partei wieder aufzusteigen.
Sein Anliegen erwies sich als naiv. Er war Fehlinformationen aus Großbritannien aufgesessen, die eine Stimmung zugunsten eines Friedenschlusses mit dem Deutschen Reich verheißen hatten. Zudem unterschied sich sein Friedensangebot gegenüber früheren Offerten Hitlers, die Großbritannien abgelehnt hatte, in keiner Weise. Heß wurde festgenommen und blieb bis zum Kriegsende in England inhaftiert.
Prozess und Haft
Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess wurde Heß zu lebenslanger Haft verurteilt. Von 1966 an war er der letzte Gefangene im alliierten Militärgefängnis in Berlin-Spandau, nachdem seine Mitinsassen begnadigt worden waren. Seit dieser Zeit wurde verstärkt auch über seine mögliche Begnadigung diskutiert, u.a. weil man befürchtete, andernfalls einen Märtyrer zu schaffen. Er selbst, seine Familie, sein Anwalt und rechtsradikale Aktivisten lehnten jedoch eine Begnadigung ab und forderten bis zu seinem Selbstmord im Jahr 1987 seine Freilassung und Rehabilitierung.
Verklärung und Heldenverehrung
Auf eigenen Wunsch wurde er in Wunsiedel neben seinen Eltern beerdigt. Neonazis, die Heß als Märtyrer und verhinderten Friedensboten verklärten, nutzten seinen Begräbnisort, um jährliche Gedenkmärsche nach Wunsiedel zu organisieren. Um ihnen die Pilgerstätte zu entziehen, veranlasste die Gemeinde Wunsiedel 2011 die Exhumierung und eine Seebestattung.
Die Verklärung durch seine Apologeten als Märtyrer oder „guter“ Nationalsozialist, der den Krieg beenden oder etwa gar den Holocaust verhindern wollte, entbehrt jeder Grundlage. Selbst wenn Heß’ Unternehmung nach seinen Vorstellungen geglückt wäre und Großbritannien sein Friedensangebot angenommen hätte, wäre der Krieg im Osten mit all seinen rassistisch und antisemitisch motivierten Verbrechen fortgeführt worden.
Pascal Mathéus
Lesetipps:
- Görtemaker, Manfred: Art. „Der Flug des Paladins“; in DER SPIEGEL vom 02.06.2001, online hier abrufbar.
- Schmidt, Rainer F.: Rudolf Heß – „Botengang eines Toren“ – Der Flug nach Großbritannien vom 10. Mai 1941, 3. Auflage, München 2000 (1997).