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SED-Versagen

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Tatsachen statt Täuschungsmanöver. Aufklärung über das ökonomische und soziale Versagen der SED-Diktatur

Jedes Jahr am 9. November gedenkt die gesamtdeutsche Bundesrepublik des Mauerfalles 1989. Bis heute tragen viele Menschen noch die damaligen Fernsehbilder in sich: Bilder von zurückweichenden Grenzern; Bilder von fallenden Mauerteilen; Bilder von jubelnden und tanzenden Menschen; Bilder von Freudentränen; Bilder von langen Trabbi-Schlangen auf dem Weg nach Westen. Bei aller Freude über den Mauerfall bleibt es wichtig, weiterhin sowohl über das mörderische Bauwerk als auch die SED-Diktatur als solche aufzuklären.1 Das gilt vor allem für die Verbrechen des SED-Regimes, aber auch für das ökonomische und soziale Versagen der Diktaturpartei.

So litt die Mehrheit in der DDR unter der Knappheit vieler Güter, darunter PKW. Die SED sicherte lediglich eine Grundversorgung. Die meisten Leidtragenden der SED-Miss- und Mangelwirtschaft waren Arbeiter.2 Damit unterminierte die selbst erklärte Arbeiterpartei ihre soziale Rhetorik. Die große Mehrzahl der Menschen lebte materiell deutlich schlechter als heute in der gesamtdeutschen Demokratie und Sozialen Marktwirtschaft, die bei der SED als „Kapitalismus“ firmierten. Westlichen Wohlstand genossen im „Arbeiter- und Bauernparadies“ normalerweise lediglich die SED-Führung und DDR-Funktionseliten („Bonzen“). Wer Zugang zu knappen Gütern erhalten wollte, brauchte vor allem gute Beziehungen zur SED.

Im Ergebnis errichtete die SED in der DDR eine neue „Klassengesellschaft“, die bei der Zuteilung von Lebenschancen zwischen systemnahen und systemfernen Menschen unterschied. Während Kinder von Andersdenkenden in vielen Fällen zum Beispiel nicht studieren durften, war die Linientreue an Hochschulen überproportional ausgeprägt. Daher beteiligten sich im Vergleich zu anderen Ländern auch weniger Akademiker an den Protesten gegen das Regime ab Sommer 1989. Letztlich hinderte die SED zahlreiche Menschen daran, ihre Potenziale zu entfalten. Deshalb wollten viele kreative Köpfe das Land verlassen oder verkrochen sich in die innere Emigration. Viele missliebige Bürger ließ die SED, um Druck aus dem Kessel zu nehmen und Kasse zu machen, gegen harte Währung in den Westen ausreisen – ein Gipfel des SED-Materialismus und der SED-Profitgier.

 

Soziale SED-Rhetorik

Im Widerspruch zu Lobrednern und Schönfärbern der SED-Diktatur war die DDR auch kein soziales Paradies. Vielmehr kennzeichnete das SED-Regime eine normalerweise deutlich schlechtere Versorgung von Kranken, Behinderten und Alten als heute; ebenso eine niedrigere Lebenserwartung, höhere Suizidquoten, höhere Umweltbelastungen, ein geringerer Lebensstandard der meisten sowie jahrelange Wartezeiten zum Beispiel auf einen Telefonanschluss und einen PKW für die Mehrheit. Medizinische Spitzenleistungen - oft aus dem Westen - gab es gemeinhin nur für SED-nahe Bürger. Mit solchen und anderen Privilegien honorierte die SED politisches Wohlverhalten.

 

Zwar waren in der DDR zum Beispiel die Mietpreise insgesamt deutlich niedriger als heute, aber deswegen meist auch die Wohnqualität. Ganze historische Altstädte, zum Beispiel das heute wunderbar sanierte Erfurter Andreasviertel, verfielen nach dem inoffiziellen Motto: "Ruinen schaffen ohne Waffen". Letztlich scheiterten die Versuche Honeckers, die DDR-Bevölkerung – gerade nach dem Trauma vom Volksaufstand am 17. Juni 1953 - durch Sozialleistungen politisch zu sedieren oder gar zu saturieren. Das gerade deshalb, weil die sozialpolitischen Verbesserungen in der DDR im Ost-West-Vergleich marginal schienen und der Rückstand zum westdeutschen Konkurrenzstaat per saldo stets und bis zum Ende der SED-Dikatatur gravierend blieb.

Bis 1989 verharrten auch die meisten DDR-Betriebe in desolatem Zustand mit verschlissenen und veralteten Maschinenparks. Das gilt auch für viele Bauten und Verkehrsinfrastruktur. Die Produktivität der Betriebe rangierte üblicherweise weit unter westdeutschem Niveau. Ohne Sanierung schienen die meisten DDR-Unternehmen auf dem Weltmarkt kaum konkurrenzfähig. Viele mussten nach 1989/90 schließen, darunter das Trabant- und das Wartburgwerk. Deren Produkte fanden im Wettbewerb mit westdeutschen Konkurrenten auch unter der übergroßen Mehrheit der Ostdeutschen kaum noch Kunden und Käufer. Das damalige Ende vieler DDR-Betriebe gründete damit mehr auf stark verändertem Kaufverhalten vor allem ostdeutscher Konsumenten als auf der Tätigkeit der Treuhand, wie Populisten und Extremisten bis heute insinuieren oder behaupten. Dennoch hatte natürlich auch die Treuhand bei ihrer schwierigen Pionierarbeit einzelne Fehler und Versäumnisse zu verantworten.

Zwar existierte in der DDR offiziell keine Arbeitslosigkeit. Tatsächlich aber gab es kaum wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Unter oft widrigen Bedingungen erbrachten viele Fachleute in der DDR dennoch, u.a. durch viel Improvisationskunst, bemerkenswerte Leistungen, darunter viele Frauen. Bei identischen Qualifikationen waren sie freilich viel seltener in wirtschaftlichen, behördlichen oder politischen Führungsgremien vertreten als Männer, u.a. im SED-Politbüro. Im Widerspruch zu Elogen auf die angebliche Frauenemanzipation in der DDR arbeiteten proportional viel mehr Frauen als Männer im Geringverdienersektor. Vor allem mussten gerade Frauen in der DDR üblicherweise die Doppellast von Erwerbs- und Familienarbeit schultern.

Mit dem Ziel, über die von ihr verursachten Verbrechen hinwegzutäuschen, arbeitete die SED - gemäß Lenins Pressestrategie - mit breit angelegter Agitation und Propaganda durch die von ihr gelenkten Medien. Die SED betrieb echte „Systemmedien“. Damit versuchte sie, den Lehrsatz von Marx, wonach das „Sein das Bewusstsein bestimmt“, um 180 Grad umzukehren. Doch scheitere die SED daran, das wichtigste Medium, das Fernsehen, vollständig zu kontrollieren und zu steuern. Tatsächlich nutzte ein hoher Anteil der Menschen in der DDR eher das West- als das Ost-Fernsehen und entzog sich damit der stetigen „Rotlicht-Bestrahlung“ durch die SED.    

Heute ist es wichtig, noch stärker zwischen dem verbrecherischen Regime, das die SED mit Hilfe der Stasi betrieb, und DDR-Normalbürgern zu unterscheiden, die schlicht versuchten, unter oft besonders schwierigen Bedingungen durchzukommen und zu leben. Gerade deshalb sind differenzierte Darstellungen der DDR wichtig, die es erschweren, den perfiden Eindruck zu erwecken, Kritik an der SED-Diktatur richte sich gegen die Lebensleistungen und „Biographien" ehemaliger DDR-Bürger. Denn anders als Ideologen bis heute behaupten, hielt die Mehrheit der Ostdeutschen größtmögliche Distanz zur Diktaturpartei - im Unterschied zu einer SED-nahen Minderheit.

Um Schönrednern der SED-Diktatur zu begegnen, ist es ebenfalls wichtig, bis heute existierende Illusionen über den Marxismus als solchen bereits an ihrer Wurzel zu bekämpfen. Tatsächlich lebte die große Mehrzahl der Arbeiter in Europa zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, wie Marx herausarbeitet, unter oft unmenschlichen Bedingungen. Aufgrund der zunehmenden „Konzentration des Kapitals“ und der wachsenden „Verelendung der Massen“ liquidiere sich deshalb, so Marx, jede „Klassengesellschaft“ automatisch in einer „sozialen Revolution“. Denn das „Proletariat“ wachse immer weiter, bis es nach einer „sozialen Revolution“ als einzige „Klasse“ übrig bleibe. Im Ergebnis führe die „soziale Revolution“ stets zu einer kommunistischen, klassenlosen Gesellschaft, in der es weder eine herrschende noch eine beherrschende „Klasse“ gebe. In einer solchen „Einklassengesellschaft“ werde es angeblich keine Kriege, keine Gewalt, keine Unterdrückung und keine „Verelendung“ geben.

Faktisch führte die Industrialisierung, wie bereits Karl Popper befand,[iii] zu Massenproduktion. Im Widerspruch zu Marx funktioniert Massenproduktion auf Dauer gerade dann, wenn die „Massen“ auch über eine entsprechende Kaufkraft verfügen, um Massenprodukte auch zu erwerben. Bis heute können die meisten Betriebe kaum allein von der Kaufkraft der „oberen Zehntausend“ leben. In krassem Kontrast zur Lehre von Marx wächst ausgerechnet im „Kapitalismus“ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sukzessive der Massenwohlstand. Die Qualität der Lebensbedingungen der überwältigenden Mehrheit steigt seither beinahe bruchlos und überwiegend in hohem Maße.

Das unterstreichen, gerade in der Bundesrepublik, u.a. erhöhter Arbeitsschutz, erleichterte Arbeitsbedingungen, verringerte Wochen- und Lebensarbeitszeit, wachsender Lebensstandard, bessere Gesundheitsversorgung, längere Urlaubszeiten und steigende Lebenserwartung für die meisten Menschen. In der Gesamtschau entwickelte sich in der Bundesrepublik und in vielen anderen westlichen Ländern in der politischen und wirtschaftlichen Realität fast das glatte Gegenteil jener angeblich scharfsinnigen Theorie, deren Urheber in extremistisch-totalitärer Manier beansprucht hatte, den Lauf der Geschichte an und für sich angeblich unfehlbar und letztgültig auf angeblich wissenschaftlicher Basis zu erklären.

Nicht nur an Jahrestagen bleibt Aufklärung über das Versagen des SED-Regimes schließlich auch deshalb bedeutsam, weil populistische Rechtsextremisten und „nationale Sozialisten“ die SED-Diktatur mittlerweile mit der Bundesrepublik gleichsetzen oder die DDR gar als das sozialere ("gesellschaftlicher Zusammenhalt"; "keine Arbeitslosigkeit") und deutschere Deutschland loben, u.a. wegen der Juden-, Christen-, Israel- und USA-Feindlichkeit des Honecker-Regimes und der geringeren Migranten- und Judenquote im SED-Staat. Im Vergleich zu Anhängern aller anderen Parteien von politischer Relevanz bewerten gerade rechtspopulistisch-rechtsextremistisch orientierte Wahlberechtigte das SED-Regime laut Umfragen inzwischen besonders positiv.

 

Harald Bergsdorf

 


Vgl. Kielmansegg, Peter Graf: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 555ff.; Wilke, Manfred: Der SED-Staat. Geschichte und Nachwirkungen, Köln 2006; Hermann Weber: Die DDR 1945-1986, München 1988.

Vgl. Schröder, Richard: Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit, Freiburg im Breisgau 2007.

Karl R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München 1994, S. 297ff.

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