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Von Hate Speech in den sozialen Netzwerken zu extremistischer Gewalt?

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Das Phänomen Hate Speech

Hate Speech bezeichnet Hassreden, die Nutzerinnen und Nutzer im Internet und in Sozialen Medien posten, liken und damit verbreiten. Solche Hasspostings enthalten Äußerungen, die Einzelne oder Gruppen diskriminieren, zum Beispiel wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer sozialen Zugehörigkeit, wegen einer körperlichen Beeinträchtigung oder wegen ihres Geschlechts. Ziel der sogenannten Hater ist es, Hass auszudrücken und zu verbreiten und Gruppen oder einzelne Personen abzuwerten. Hasskommentare „normalisieren“ oftmals Diskriminierung, erschaffen einen „wir gegen die anderen“-Dualismus und fördern dadurch Dichotomien.1

Hate Speech wird dort verbreitet, wo sich Menschen informieren und miteinander kommunizieren. Dies hat sich in den letzten Jahren stark in die virtuelle Welt, besonders in die Sozialen Medien verlagert. Sie bieten unterschiedliche Plattformen für Hate Speech. Hate Speech hat dort eine große bis sehr große Reichweite und verbreitet sich rasend schnell. Die Eindämmung ist schwierig und diskriminierende, hasserfüllte Kommentare sind für jeden zugänglich. Aus den Spezifika der Sozialen Medien ergibt sich das Problem eines verzerrten Bildes der Verbreitung von Hass.2

Das strategische Ziel von Hate Speech besteht darin, mit Hetze und Hass-Kampagnen in Kommentarspalten den Eindruck zu erwecken, diese Hetze stelle ein weit verbreitetes Meinungsbild dar, dass also diese „Debatte“ eine gesellschaftliche Stimmung abbilde.

 

Beispiel: Die Morde an zwei jungen Polizeibeamten bei Kusel – Hate Speech als Reaktion

Die Ermordung zweier junger Polizisten bei Kusel in Rheinland-Pfalz im Januar 2022 löste in den sozialen Netzwerken einen Schwall von Hate Speech aus. So stellte die „Ermittlungsgruppe Hate Speech“ innerhalb einer Woche 399 Fälle von Hass und enthemmter Sprache im Internet fest. Davon sollen 102, also jeder vierte Eintrag, strafrechtlich relevant sein. 15 mutmaßlich Verantwortliche für die Hasskommentare waren Anfang Februar 2022 bereits mit Klarnamen ermittelt. Der Innenminister von Rheinland-Pfalz, Roger Lewentz, nannte die Morde an den beiden jungen Polizisten „einen feigen Mord auf brutalste Art und Weise“.3 Manche hätten die Tat im Internet regelrecht gefeiert oder die Opfer verhöhnt. Eine Woche nach den Morden nahm die Polizei einen Mann fest, der im Internet Hate Speech gegen Polizistinnen und Polizisten verbreitet und zur Gewalt aufgerufen haben soll. Der 55-Jährige soll in seinem öffentlichen Facebook-Profil zwei Videos hochgeladen haben, in denen er unter anderem Anleitungen dazu gab, Polizeibeamte auf einen Feldweg zu locken und aus dem Hinterhalt zu beschießen. Der Präsident des rheinland-pfälzischen Landeskriminalamtes (LKA), Johannes Kunz, sagte in Bezug auf diese Festnahme, es gebe Hinweise, „die für eine Zuordnung zum Reichsbürgerspektrum sprechen“.4

 

Beispiel: Corona-Maßnahmen-Gegner und Hate Speech sowie Tötungsaufrufe in den Sozialen Medien

Seit Mitte November 2021 gibt es in der gewaltbereiten „Querdenker“-Szene auf Telegram täglich Tötungsaufrufe gegen Politikerinnen und Politiker, Wissenschaftlerinnnen und Wissenschaftler, Ärztinnen und Ärzte, Behördenmitarbeiterinnen – und Mitarbeiter sowie Journalistinnen und Journalisten. Eine Recherche für tagesschau.de durchsuchte 230 Kanäle bzw. Chats auf Telegram aus rechtsextremistischen und Querdenker-Kreisen nach folgenden Begriffen: „Galgen, erschießen, aufhängen, hängen, aufgehängt, aufhängt, Laterne, Laternenmast, Guillotine, abknallen, hinrichten, abfackeln, abbrennen, brennen, standrechtlich, Fensterkreuz, ‚Nürnberger Hinterhöfe‘, Standgericht, hingerichtet, Tribunal, Kugel, Strick“.5 In 33 Kanälen bzw. Chats gab es Treffer. In den untersuchten Chaträumen wurden mehr als 250 Tötungsaufrufe gefunden. Das stellt jedoch nur die Spitze eines Eisberges dar, weil sich Telegram - anders als Twitter - nicht komplett durchsuchen lässt. Die meisten Chatgruppen sind geheim und können nur mit einem Einladungslink betreten werden.6 Auffällig ist, dass die Tötungsaufrufe sogar unter mutmaßlichen Klarnamen verbreitet wurden. Widerspruch gab es auch in großen Chats mit über 50.000 Mitgliedern beinahe nie, eher wurden die aufrufenden Personen in ihrer Meinung bestätigt und ein Galgen oder ein Scharfschützengewehr in den Kommentaren hinterlassen.7 Politiker wie Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, Bundesjustizminister Marco Buschmann, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, Bundeskanzler Olaf Scholz, der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn und der amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach wurden in jenen Chats wiederholt als Ziele von Tötungsaufrufen genannt. Ein Tötungsaufruf gegen Polizistinnen und Polizisten lautete: „Diese widerwärtigen Söldner des Faschismus. Jeder Polizist, der sich weiterhin an diesem Treiben beteiligt gehört, wenn mit diesem System Schluss ist, vor Gericht, in Festungshaft und an den Galgen. Tut mir leid für die deutlichen Worte, aber diese Schweine sind für mich nicht mehr länger Teil unserer Menschenfamilie. Es sind seelenlose, programmierte Menschenmaschinen“.8 Die für tagesschau.de durchgeführte Recherche stellte fest, dass es seit dem Beginn der Impfpflichtdebatte deutlich mehr Tötungsaufrufe gab.

„Das“ Narrativ, „das“ Anathema der potenziell gewaltorientierten Querdenker ist „die Corona-Diktatur“. Dazu kommt „die Impf-Lobby“ bzw. „die Pharma-Branche“. Daher sind Radikalisierungsprozesse von „Querdenkern“ zu Gewaltanwendung bis hin zu Anschlagsplänen gegen prominente bzw. herausragende Mitglieder dieser als Gegner und „Feinde“ wahrgenommenen Gruppen („die Politiker der Corona-Diktatur“, „die Impf-Lobby“) aktuell und mittelfristig möglich. Aber auch über wahllose Anfeindungen und Gewalt gegen impfende Ärztinnen und Ärzte und Krankenhausmitarbeiterinnen und -mitarbeiter wurde bereits berichtet.9

In den sozialen Netzwerken werden Politikerinnen und Politiker sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Impfzentren und Krankenhäusern systematisch als Teil der „Impf-Lobby“, als „Gegner“, als „Feind“ konstruiert und dargestellt. Diese antagonistische Freund-Feind-Metaphorik, durch enthemmte Sprache in den sozialen Netzwerken inszeniert, kann nach dem Prinzip von stochastischem Terrorismus Querdenker radikalisieren, bis sie im worst case zu terroristischen Einzeltätern werden könnten.

Im Dezember 2021 führten Ermittler des Landeskriminalamtes (LKA) Sachsen und ein Sondereinsatzkommando Razzien bei sechs Verdächtigen, fünf Männern und einer Frau, durch und beschlagnahmten Waffen. In einer Telegram-Chatgruppe sollen die Verdächtigen Mordpläne Ministerpräsident Michael Kretschmer und andere Mitglieder der sächsischen Landesregierung besprochen haben. Diese Telegram-Chatgruppe wurde einem heterogenen Milieu von „Impfgegnern“, „Querdenkern“ und „bekannten Neonazis“ zugeordnet.10 Die Verdächtigen der Chatgruppe „Dresden Offlinevernetzung“ sind zwischen 32 und 64 Jahren alt. Viele Mitglieder der Chatgruppe agierten unter Klarnamen und mit realen Profilbildern. Bei den Durchsuchungen wurden „Waffen und Waffenteile“ sowie Armbrüste gefunden.11

Bundesinnenministerin Faeser kündigte im Dezember 2021 an, den Messenger-Dienst Telegram zur Einhaltung der Gesetze zwingen zu wollen. „Dort wird offen Hass und Hetze verbreitet […] Es kann nicht sein, dass ein App-Betreiber unsere Gesetze ignoriert.“12 Verschiedene Optionen werden als Reaktion geprüft: So könnten App-Stores wie die von Apple oder Google die Telegram-Anwendung aus dem Angebot nehmen, zudem könnte Deutschland mit anderen europäischen Staaten auf die Vereinigten Arabischen Emirate zugehen, wo Telegram seinen Sitz hat. Gleichzeitig müsste der Ermittlungsdruck gegen Onlinehetzer erhöht werden. „Es muss für alle klar sein: Wer im Netz Hass und Hetze verbreitet, bekommt es mit der Polizei zu tun“, sagte Faeser.13

 

Der Zusammenhang von Hate Speech, extremistischer Gewalt und stochastischem Terrorismus

Der Begriff stochastischer Terrorismus (von stochastisch, zufallsabhängig) beschreibt eine terroristische Strategie, durch welche massenhaft verbreitete Botschaften, medial und über soziale Netzwerke, die sich nicht an einen konkreten Täterkreis richten, durch extremistische Narrative und enthemmte Sprache tatsächliche Gewalt, bis hin zu terroristischen Anschlägen, provozieren.14

Hamm und Spaaij beschreiben das Phänomen stochastischer Terrorismus in ihrem Buch „The Age of Lone Wolf Terrorism“ knapp mit „Nutzung von Massenmedien, um zufällige Akte ideologisch motivierter Gewalt zu provozieren, die zwar statistisch vorhersagbar sind, im konkreten Einzelfall jedoch nicht“.15

Cohen verwies im Jahre 2016 darauf, dass das Phänomen stochastischer Terrorismus bereits ca. 15 Jahre alt sei.16

Kaleka nannte im November 2018 neben dem Anschlag auf die Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh/USA auch die Morde von Gregory Bush an zwei Afro-Amerikanern als Beispiele für stochastischen Terrorismus.17

Cesar Savoc bekannte sich im August 2019 schuldig, im Jahr 2018 insgesamt 16 Briefbomben aus extremistischer Motivation u. a. an den früheren US-Präsidenten Barack Obama, die frühere Außenministerin Hilary Clinton sowie den ehemaligen CIA-Direktor James Brennan, an den Milliardär und Spender für die Partei der US-Demokraten, George Soros, und den Schauspieler Robert De Niro geschickt zu haben. Dafür wurde Savoc zu 20 Jahren Haft verurteilt.18 Er hatte sich auf verschiedenen Plattformen radikalisiert, die von Rassistinnen und Rassisten und Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten frequentiert werden.

Eine Reihe von Internetseiten boten den rechtsextremistischen Einzeltätern von El Paso, Christchurch, Pittsburgh und Halle an der Saale ein Forum. Anonyme Plattformen wie 8chan, 4chan oder auch Redditdienten und dienen rechtsradikalen und rechtsextremistischen Menschen zur Verbreitung ihrer Thesen, ziehen aber auch viele neue oder nur sporadisch Interessierte an. Im August 2019 besiegelten zwei Unternehmen das vorläufige Ende der Internet-Plattform 8chan: Cloudflare, eine Sicherheitsfirma, beendete die Zusammenarbeit, sodass die Website 8chan zu angreifbar für Cyber-Attacken war, um sie online zu lassen. Tucows, das die Web-Adresse registriert hatte, zog sich ebenfalls zurück. Der rechtsterroristische Attentäter von El Paso verbreitete über 8chan ein „Manifest“ , in dem er die rassistische Propaganda-Fantasie vom „großen Austausch“ der sich als „weiß“ definierenden Bürgerinnen und Bürger eines Landes aufgriff.19 Dass anonyme Plattformen wie 8chan, 4chan und Reddit über Jahre als Orte extremistischer Narrative und enthemmter Sprache dienten, stellte die Studie „New Hate and Old: The Changing Face of American White Supremacy“ des Center on Extremism 2018 dar. Die zahlreichen Gruppierungen wie die „Alt Right“, Neonazis, Skinheads und Klu Klux Klan-Mitglieder bildeten und bilden im Internet und offline durch Veranstaltungen eine Subkultur, die „offen und niedrigschwellig daherkomme“.20

 

Fazit

Die Übergänge von „Hate Speech“, extremistischen Narrativen verbunden mit Freund-Feind-Bildern und „Todeslisten“ zu stochastischer Gewalt bzw. zu stochastischem Terrorismus waren und sind fließend und stellen Sicherheitsbehörden in Deutschland und weltweit vor große Herausforderungen. Daher muss zu diesem Phänomen intensiv geforscht werden. Eine intensive Kooperation von Sicherheitsbehörden und Wissenschaft ist notwendig und sollte von der Politik und den Behördenleitungen intensiviert und stark gefördert werden.

 

Prof. Dr. Stefan Goertz

Dieser Beitrag stellt die persönliche Auffassung des Autors dar.

 


Vgl. lpb-bw.de/hatespeech (7.10.2022).

Vgl. Goertz, S. (2021): Hate Speech und extremistische Ideologieelemente in den Sozialen Medien, in: Forum Kriminalprävention 3/2021, S. 21.

Vgl. ebd.

Vgl. ebd. l

Vgl. tagesschau.de/investigativ/funk/todesdrohungen-telegram-101.html (7.10.2022).

Vgl. ebd.

Vgl. ebd.

Zitiert nach: ebd.

Vgl. welt.de/politik/deutschland/plus235289124/Corona-Bedroht-als-Nazi-beschimpft-Wut-auf-Impf-Personal-eskaliert.html (7.10.2022); Goertz, S. (2022): Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates – „Querdenker“, ihre Akteure, Ideologieelemente und ihr Gewaltpotenzial. In: Kriminalistik 3/2022, S. 169.

10 Vgl. zeit.de/politik/deutschland/2021-12/kretschmer-michael-mordplaene-telegram-chat-zdf?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F; zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-12/michael-kretschmer-mordplaene-dresden-impfgegner-telegram (7.10.2022).

11 Vgl. ebd.

12 Vgl. welt.de/politik/deutschland/article235715796/Nancy-Faeser-Viele-bei-Corona-Protesten-verfolgen-eigene-Ziele-die-nichts-mit-der-Pandemie-zu-tun-haben.html (7.10.2022).

13 Vgl. ebd.

14 Vgl. Goertz, S. (2021): Stochastischer Terrorismus, enthemmte Sprache und extremistische Narrative. In: Kriminalistik 12/2021, S. 658.

15 Vgl. Hamm, M./Spaaij, R. (2017): The age of lone wolf terrorism. New York: Columbia University Press, S. 84.

16 Vgl. rollingstone.com/politics/politics-features/trumps-assassination-dog-whistle-was-even-scarier-than-you-think-112138/ (7.10.2022).

17 Vgl. milwaukeeindependent.com/featured/stochastic-terrorism-politics-spreading-fear-can-lead-deadly-violence/ (7.10.2022).

18 Vgl. tagesspiegel.de/politik/usa-briefbomben-attentaeter-zu-20-jahren-haft-verurteilt/24874084.html; https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-03/usa-briefbombe-trump-kritiker-gestaendnis-cesar-sayoc (7.10.2022).

19 Vgl. faz.net/aktuell/politik/ausland/internet-der-rechtsextremen-rassisten-treffen-sich-im-netz-16321835.html?premium=0xb7964a22cd8d45018c306acd1ea77781&printPagedArticle=true#pageIndex_2 (7.10.2022).

20 Vgl. ebd.

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