Die Vereidigung der ersten 101 Freiwilligen selbst erfolgte unter historischer Bezugnahme auf die Preußischen Reformen. Dass der 12. November auf den 200. Geburtstag des preußischen Heeresreformers und Generals Gerhard von Scharnhorst fiel, entsprang zwar weniger einer langfristigen Planung als einer situativen Konstellation. Gleichwohl, es war ein sichtbares Zeichen eines geistigen Neuanfangs, der für sich historische Kontinuität und damit auch den Anspruch gesamtnationaler Legitimierung reklamierte. Der Zweck dieser neuen deutschen Streitkräfte war eindeutig: Sie sollten Wesenskern und Voraussetzung staatlicher Souveränität der Bundesrepublik Deutschland werden.
Konzeptionelle Überlegungen und außenpolitische Weichenstellungen
An die Organisation Gehlen angebundene ehemalige deutsche Generale und Generalstabsoffiziere schufen zunächst in eigener Initiative und seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland (1949) im Auftrag von Bundeskanzler Konrad Adenauer und seines "Schattenverteidigungsministers" Eberhard Wildermuth (FDP) ein verteidigungspolitisches Konzept. Dieses Wirken der deutschen Offiziere war abgestimmt und durch die USA im Dialog mit dem offiziellen Bonn – einschließlich der größten Oppositionspartei SPD – gefordert und gefördert. 1947 in ersten Spuren beginnend, spätestens seit 1949 bestand im geschützten Raum der amerikanisch geführten deutschen militärgeheimdienstlichen Organisation Gehlen ein als „Schatten-Generalstab“ (Agilolf Keßelring) zu bezeichnendes Netzwerk. Dieses wurde durch ehemalige Generalstabsoffiziere gezielt ausgebaut und bildete schrittweise die Fähigkeiten und das Personal der zentralen Generalstabsabteilungen ab. Dieser Schattengeneralstab bestimmte Generalleutnant a.D. Dr. Hans Speidel zu seiner „Spitze“ und lotete die eigenen Ziele im Sinne einer Realpolitik gegenüber dem von der amerikanischen Besatzungsmacht gewährten politischen Spielraum aus.
Unmittelbar nach dem Besuch des US-Außenministers Dean G. Acheson am 17. November 1949 begann die inhaltlich-konzeptionelle Phase für die spätere Bundeswehr. Mit dem von den ehemaligen Generalen Speidel, Adolf Heusinger und Hermann Foertsch vereinbarten „Besprechungsplan“ vom 5. Januar 1950 entstand auf dieser Grundlage ein erstes Eckpunktepapier, das der Bundesregierung übergeben werden konnte. Dieser „Besprechungsplan“ legte wiederum die Grundsätze zukünftiger westdeutscher Streitkräfte sowohl hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, als auch in Bezug auf deren Eingliederung in den freiheitlich-demokratischen deutschen Staat fest. Dieses „Non-paper“ bildete fortan die Grundlage für alle Wiederbewaffnungsbestrebungen der Regierung Adenauer.
Den außenpolitischen Anlass zur trotz strengster Geheimhaltung doch offiziellen Bildung eines militärischen „Arbeitsstabs“ bildete daraufhin die Mai-Konferenz der drei Westmächte in London (11.–13. Mai 1950). Im direkten Anschluss folgte die Zusammenstellung eines absichtlich nicht „Generalstab“ genannten Gremiums unter Führung der drei Autoren des Besprechungsplans, ergänzt durch General der Flieger a. D. Hans Seidemann (Luftwaffe) und Konteradmiral a. D. Eberhardt Goth (Marine). Diese Personalbesetzung wurde zwischen dem persönlichen Referenten des Bundeskanzlers und dem Stellvertreter des Hohen Kommissars der amerikanischen Besatzungsmacht festgelegt. Sicher nicht zufällig auf den 20. Juli 1950 datiert, erging der sogenannte „Vorschlag Heusingers“ zur Aufstellung eines Gremiums, das mit den „Vorarbeiten für den Aufbau einer deutschen Wehrmacht im Rahmen der Atlantischen Gemeinschaft“ betraut werden sollte über den geheimdiplomatischen Dienstweg der Organisation Gehlen der amerikanischen Staatsführung zu. In der folgenden „Augustdenkschrift“ des Sommers 1950 legten Speidel, Foertsch und Heusinger über Minister Wildermuth Bundeskanzler Adenauer die finalen Überlegungen vor, die dieser billigte. Damit war die erste konzeptionelle Phase für den Aufbau bundesdeutscher Streitkräfte abgeschlossen.
Nun folgten die praktischen Vorarbeiten zur Aufstellung von Streitkräften sowie die Fixierung des sicherheitspolitischen Rahmens. Zunächst aber galt es, die offiziellen Entscheidungen der New Yorker Außenministerkonferenz vom September 1950 abzuwarten, bevor Anfang Oktober ein Expertenausschuss im Eifelkloster Himmerod zusammenkommen konnte. Dessen Wirken markierte dann den Übergang der Planungen in die ministerielle Ebene und somit den Startschuss für die Schaffung des dem Bundeskanzler direkt zugeteilten „Amtes Blank“. Damit ging die noch immer „verdeckte“ Ressortverantwortung von Wildermuth auf Theodor Blank über. Kurz darauf orchestrierte auf „militärischem Feld“ Generalmajor a. D. Erich Dethleffsen im Auftrag Speidels und mit Hilfe von Regierungsbeauftragten den inneren Gründungskompromiss der künftigen Streitkräfte. Dieser auf gegenseitiger Achtung beruhende Ausgleich zwischen „Exponenten des 20. Juli 1944“ und „Kämpfern bis zur letzten Stunde“ steht im inneren Zusammenhang mit Adenauers – oft verfälschend dargestellten – Ehrenerklärung vor dem Deutschen Bundestag. Gründungskompromiss und Ehrenerklärung stellten eine zwingende soziale Voraussetzung für das Gelingen einer Integration der Wehrmachtsveteranen und zukünftigen Bundeswehrsoldaten in den jungen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat dar. Sie bildeten die Voraussetzung für die Innere Führung. Staatspolitisch bildeten sie die Grundlage für die Unterstellung der ehemaligen Militärs unter die Bundesrepublik Deutschland.
Die westlichen Alliierten hatten in New York – angesichts des Verlaufs des Korea-Krieges und der im Vorjahr erfolgten Zündung einer sowjetischen Atombombe – der Einbeziehung des bundesdeutschen Potentials in die Verteidigung der westlichen Welt zugestimmt. Einzelheiten waren noch nicht verhandelt. Frankreich brachte in der Folge mit dem Pleven-Plan Strukturvorstellungen ein, deren Zweck die Herabsetzung des bundesdeutschen Partners und damit letztlich die Beschneidung dessen politischer Souveränität war. Erst der sogenannte Spofford-Kompromiss ermöglichte Ende 1950 den Übergang in die zwischen Januar und Juni 1951 stattfindenden Sachverständigengespräche auf dem Bonner Petersberg. Sie ebneten schließlich den Weg für Überlegungen zu einer supranationalen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Eine transatlantische Integration Westdeutschlands als gleichberechtigter Partner schien damit zunächst noch immer ausgeschlossen. Konrad Adenauer hatte indes schon im November 1950 das öffentlich einfordern können, was er und Wildermuth sowie die sie beratenden Generale auf Grundlage des Besprechungsplans erörtert hatten: Der (beschlossene) militärische Beitrag der Bundesrepublik in der Abwehrfront gegen die sowjetische Bedrohung setzte, so Adenauers Folgerung, die völlige politische Gleichberechtigung voraus und zielte auf die Erlangung staatlicher Souveränität. Die Vereinigten Staaten machten ihrerseits stets deutlich, dass sie eine europäische „troisième force“ zwischen Ost und West nicht zu unterstützen bereit waren. Die in den folgenden Jahren intensiv geführten Verhandlungen über die Ausgestaltung einer EVG scheiterten letztlich im August 1954 an der ausbleibenden französischen Ratifizierung. Zur Rettung der Gesamtsituation wurde die Londoner Neun-Mächte-Konferenz für den September 1954 einberufen. Hier verzichtete Adenauer auf Produktion und Eigentum eigener atomarer, biologischer und chemischer Waffen sowie auf den Bau strategischer Bomber. Dies stand in Einklang mit dem im Besprechungsplan niedergelegten Konzept. Am 3. Oktober 1954 wurde die Londoner Schlussakte unterzeichnet. Diese öffnete für die Bundesrepublik über die Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954 den Beitritt zum Nordatlantikvertrag, der am 9. Mai 1955 vollzogen wurde. Am 7. Juni 1955 wurde das Amt Blank in das Bundesministerium für Verteidigung überführt, Theodor Blank zum ersten offiziellen Bundesminister für Verteidigung, am 12. November 1955 die ersten 101 Soldaten in der Bonner Ermekeilkaserne ernannt.
Politische Prinzipien der Streitkräfte
Das Fundament, auf dem die künftigen Streitkräfte errichtet werden sollten, folgte einer prinzipiell politischen Leitidee. Die Aufstellung bundesdeutschen Militärs diente der (Wieder-)Erlangung und dem Erhalt staatlicher Souveränität. Die Bundesrepublik sollte durch ihren militärischen Beitrag Gleichberechtigung erlangen, um sich vom Objekt zum Subjekt internationaler Politik wandeln zu können. Diese grundlegende politische Prämisse bestimmte die beiden tragenden militärischen Pfeiler der kommenden Bundeswehr. Nicht leichte Infanterieverbände, wie sie General der Panzertruppe a.D. Gerhard Graf von Schwerin als zeitweiliger Berater Adenauers noch im Sommer 1950 vorgeschlagen hatte, sondern panzerstarke Heeresverbände mit einer taktischen Luftwaffe, stehend in der Kontinuität deutschen operativen Denkens, versprachen in einem umfassenden Krieg mit konventionellen Ansätzen Politik mit anderen Mitteln fortsetzen zu können, also durch Erfolge auf dem potenziellen Gefechtsfeld der eigenen Regierung politischen Handlungsspielraum in alle Richtungen zu verschaffen. Leichte Infanterieverbände wären schneller aufzubauen gewesen, hätten aber nicht die Erfolge zeitigen können, die nötig gewesen wären, um politisch-militärische Mitsprache zu gewährleisten. Im Unterschied zum Konzept Schwerins wurde dasjenige von Speidel, Foertsch und Heusinger auch der politischen Dimension der Aufstellung bundesdeutscher Streitkräfte gerecht. Auch wenn die Bundeswehr im begrenzten Umfang zur eigenständigen Wahrnehmung operativer Aufgaben imstande war, war sie doch von Anfang an in die multinationale Phalanx der NATO zu integrieren. Der Verzicht auf ein eigenes nationales Oberkommando war wie so oft in diesen Tagen Ausdruck der politischen wie militärischen Kontrolle durch Integration, aber auch das Instrument, mit dem die Bundesrepublik in den folgenden Jahrzehnten die alliierte Präsenz in Westdeutschland festigte, um so die für den Fortbestand Deutschlands immens wichtige Vorneverteidigung im Bündnis realisieren zu können.
Den zweiten tragenden Pfeiler stellte das Konzept der Inneren Führung dar, das in den letzten Jahrzehnten zunehmend als Instrument zur Umsetzung des Primats der Politik im Innenleben der Bundeswehr, sowie als Vehikel zu deren gesellschaftlicher Integration gedeutet und begriffen wurde. Historisch gesehen, reagiert der Grundsatz der Inneren Führung zunächst auf die durch den modernen Industriekrieg und seine maschinelle Wirkung zu Beginn des 20. Jahrhunderts unmöglich gewordene Führung des Soldaten durch seinen Unteroffizier oder Offizier – ein Phänomen, das nicht allein auf das deutsche Militär beschränkt blieb. Der Einzelne musste befähigt werden sich in Extrem- und Dilemmasituationen anhand eines sittlichen Leitbildes – intrinsisch motiviert – selbst zu führen. Es war der ehemalige Generalstabschef des Heeres und Widerstandskämpfer, Generaloberst Ludwig Beck, der in Erwiderung auf die Thesen Erich Ludendorffs vom Totalen Krieg (1935) bereits 1942 darauf hingewiesen hatte, dass total geführte Kriege zu keinem Frieden führen würden und daher politisch wie militärisch abzulehnen seien. Nur wenn der Krieg sittlich geführt werde und sich das Militär der Politik unterordne, könne der politische und somit militärische Zweck eines Krieges, auch und gerade angesichts einer drohenden politischen Niederlage, erreicht werden. Dass die Bundeswehr sich diesbezüglich in die Tradition von Becks Idee eines im Ernstfall sittlich zu führenden Verteidigungskrieges stellte, machten sowohl das 1955 durch Speidel herausgegebene Buch „Beck. Studien“ als auch die 1956 durch Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) erfolgte Benennung der ehemaligen Sonthofener NS-Ordensburg in „Generaloberst-Ludwig-Beck-Kaserne“ deutlich. Allen Tendenzen einer sich radikalisierenden und verbrecherischen Kriegführung waren somit aus übergeordneten (militär)politischen Gründen entgegenzuwirken. Die Vorstellung des freien, in die Umgebungsgesellschaft eingepassten und demokratischen Werten verpflichteten Staatsbürgers in Uniform ist Konsequenz dieser grundlegenden politischen Vorgabe. Es galt das Motto des ersten Handbuchs Innere Führung von 1957: „Verteidigungswert ist, was lebenswert ist.“
Der Aufbau der Bundeswehr folgte nicht allein der Prämisse und den konzeptionellen Ideen des Besprechungsplanes, sondern wurde durch Auflagen der „Brüsseler Formel“ begrenzt. Diese wurde auf der 6. NATO-Ratstagung vom 18. und 19. Dezember 1950 verabschiedet. Wesentliche Punkte dieses Übereinkommens waren das Verbot eines nationalen deutschen Generalstabs, die Festlegung der Höhe bestimmter nationaler Führungsebenen, das Verbot strategischer Luftstreitkräfte sowie die Begrenzung der Marine auf den Küstenschutz (keine Hochseeflotte). In Verbindung mit dem in London 1954 vollzogenen Verzicht auf die Produktion und den Besitz von ABC-Waffen, war ein limitierender Rahmen gesetzt. Den hieraus sich ergebenden politischen Einschränkungen vor allem in Hinblick auf die Höhe der rein nationalen Führungsebenen, die bei der Betrachtung und Bewertung des zu erreichenden politischen Ziels der Gleichberechtigung von zentraler Bedeutung sind – reagierten die Gründerväter mit der „Translation der Führungsebenen“ (Thorsten Loch). Das heißt: Brigaden wurden wie Divisionen betrachtet, Divisionen wie Armeekorps, Armeekorps wie Armeen.
Der Beitrag des Militärs für die Bundesrepublik Deutschland
Der Besprechungsplan legte den Grundstein für die Bundeswehr, als eine für den umfassenden Krieg konzipierte Massenarmee. Ihren Kern bildeten drei Panzerkorps mit angebundener Begleitluftwaffe. Die Bundeswehr war teilstreitkraftübergreifend konzipiert und hätte aufgrund ihres Umfangs, ihrer Ausrichtung und ihrer Grundstruktur militärische Entscheidungen politischer Relevanz auf dem Gefechtsfeld erzielen können. Diese Fähigkeit ermöglichte der Bundesrepublik Deutschland angesichts eines drohenden Dritten Weltkriegs auf dem Schlachtfeld Deutschland ein Höchstmaß an Mitsprache und somit politisch ein weitgehend souveränes Handeln, bezogen auf das Ziel, die Lebensgrundlage für das gesamte deutsche Volk entsprechend dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes zu erhalten. Dazu war die Bundeswehr unbedingt in die Strukturen der NATO unter Verzicht auf ein nationales Oberkommando zu integrieren. Ohne die Bundeswehr in der im Besprechungsplan durch die Generale Speidel, Foertsch und Heusinger entworfenen Form, wäre die Geschichte der Bundesrepublik ungleich anders – nämlich weniger frei – verlaufen; eine Wiedervereinigung Deutschlands als Teil der westlichen Welt wäre ohne die Komponente "Bundeswehr" gerade unter sicherheitspolitischen Dimensionen kaum in Frieden und Freiheit vorstellbar gewesen.
Das Datum „12. November 1950“ mit der Ernennung der ersten 101 Freiwilligen zu Soldaten der Bundesrepublik Deutschland erinnert uns heute an diese historische Leistung. Bereits an diesem Tag, also vom Bestehen der Streitkräfte an, standen der Geburtstag Scharnhorsts und das übergroße hölzerne Eiserne Kreuz in der Bonner Ermekeilkaserne für den Glauben an die beherrschende Kraft des Geistes und die sittliche Gebundenheit des Individuums.
Erschienen am 11. November 2020
Autoren:
Privatdozent Dr. Agilolf Keßelring, Jahrgang 1972, Oberstleutnant d.R., Finnische Nationale Verteidigungsuniversität, Helsinki
Dr. Thorsten Loch, Jahrgang 1975, Oberstleutnant, Berlin
Literatur:
Agilolf Keßelring, Die Organisation Gehlen und die Neuformierung des Militärs in der Bundesrepublik, Berlin 2017 (= Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968, 6).
Agilolf Keßelring, Thorsten Loch, Der „Besprechungsplan“ vom 5. Januar 1950. Gründungsdokument der Bundeswehr? Eine Dokumentation zu den Anfängen westdeutscher Sicherheitspolitik. In: Historisch Politische Mitteilungen 22 (2015), S. 199-229.
Agilolf Keßelring, Thorsten Loch, Himmerod war nicht der Anfang. Bundesminister Eberhard Wildermuth und die Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 74 (2015) 1/2, S. 60-96.
Thorsten Loch, Deutsche Generale 1945 bis 1990. Profession – Karriere – Herkunft, Berlin 2021 (= Deutsch-Deutsche Militärgeschichte, 2).