„Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“, forderte Bundespräsident Herzog am 26. April 1997 im wieder aufgebauten Hotel Adlon in Berlin. Der „Ruck“ – er wurde Markenzeichen für Roman Herzog. Wohl selten wurde ein Politiker so sehr mit einem Wort identifiziert. Im Publikum saßen 250 geladene Gäste, darunter der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen, der Historiker Arnulf Baring, aber auch der Entertainer Harald Juhnke. Unter der byzantinisch-bunten Glaskuppel vergaß Herzog 55 Minuten lang alle präsidiale Zurückhaltung, die sein Amt sonst prägte.
Kurz zuvor war Herzog aus Asien zurückgekehrt, aus einer Welt der Dynamik, der Vitalität, des Aufbruchs und Wachstums. Bereits längere Zeit arbeitete Herzog an einer Grundsatzrede. Seine Berater in der Villa Hammerschmidt hatten den Auftrag, eine Rede zur Lage der Nation zu entwerfen, nach Gewicht und Umfang vergleichbar mit dem jährlichen State-of-the-Union-Auftritt des amerikanischen Präsidenten. „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“ lautete der Arbeitstitel. Geplant war eine Rede über die geistigen Grundlagen der Marktwirtschaft und die gesamte freiheitliche (oder offene) Gesellschaft. Im Schreibprozess, so Roman Herzog in seinen Memoiren, drängte sich ihm die eigentliche Misere der Gegenwart auf: „der fehlende Mut, mit dieser Freiheit etwas Nützliches und Weiterführendes anzufangen“. In Zusammenarbeit mit seinen Redenschreibern formulierte Herzog nun diesen Gedanken als Kernthema. Als der Steuergipfel zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Oppositionsführer Oskar Lafontaine ohne Ergebnis endete, trat die Reformunfähigkeit der deutschen Politik offen zu Tage. In der Zeit des Reformstaus stockte die Rentenanpassung an die demographische Entwicklung, stand das Gesundheitswesen vor der Gefahr der Beitragsexplosion, musste die Staatsverschuldung in den Griff bekommen werden. Die Zeit war reif für die Rede!
Diagnose
Bundespräsident Herzog diagnostizierte in Deutschland „überwiegend Mutlosigkeit“, einen „Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression“. Ein „Wust von wohlmeinenden Vorschriften“ ersticke Initiativen. Existenzangst breitete sich aus, in den Medien gewann man den Eindruck, „dass Pessimismus das allgemeine Lebensgefühl bei uns geworden ist“. Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft sei jedoch unfähig zu Reformen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Herzog konstatierte kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Die Störfaktoren fanden sich in Interessengruppen und unter Bedenkenträgern, in der Selbstblockade der politischen Institutionen, dem ständigen Ruf nach dem Staat, der Vorteilssuche des Einzelnen zu Lasten der Gemeinschaft, in wissenschaftlichen und politischen Scheingefechten.
Der Bundespräsident kritisierte die ritualisierte Debattenführung, die die Entscheidungsfähigkeit gefährlich lähme:
„(1) Am Anfang steht ein Vorschlag, der irgendeiner Interessengruppe Opfer abverlangen würde.
(2) Die Medien melden eine Welle ‚kollektiver Empörung’.
(3) Spätestens jetzt springen die politischen Parteien auf das Thema auf, die einen dafür, die anderen dagegen.
(4) Die nächste Phase produziert ein Wirrwarr von Alternativvorschlägen und Aktionismen aller Art, bis hin zu Massendemonstrationen, Unterschriftensammlungen und zweifelhaften Blitzumfragen.
(5) Es folgt allgemeine Unübersichtlichkeit, die Bürger werden verunsichert.
(6) Nunmehr erschallen von allen Seiten Appelle zur ‚Besonnenheit’.
(7) Am Ende steht meist die Vertagung des Problems. Der Status quo setzt sich durch. Alle warten auf das nächste Thema.“
Forderungen
Schwung zur Erneuerung, Risikobereitschaft, Wagemut, Entschlossenheit, Innovationsfähigkeit, Flexibilität, Lernfähigkeit in der Wissensgesellschaft, Verantwortung, Leistung, Entscheidungswillen – diese Schlagworte charakterisierten Herzogs Forderungskatalog. Dabei dürften die Eliten den notwendigen Reformen nicht hinterherlaufen: „sie müssen an ihrer Spitze stehen!“ Explizit nannte der Bundespräsident die Eliten in Politik, Wirtschaft, Medien und gesellschaftlichen Gruppen. Nicht der Weg des geringsten Widerstands, sondern Führung und Überzeugung brachten den Erfolg.
Der Bundespräsident beschränkte sich nicht auf die Analyse. Er fragte „Was muss geschehen?“ und rief zu einer umfassenden gesellschaftlichen Erneuerung auf. In seiner Vision für das kommende Jahrtausend plädierte er für „einen neuen Gesellschaftsvertrag zugunsten der Zukunft. Alle, wirklich alle Besitzstände müssen auf den Prüfstand. Alle müssen sich bewegen. Wer nur etwas vom anderen fordert – je nach Standort von den Arbeitgebern, den Gewerkschaften, dem Staat, den Parteien, der Regierung, der Opposition –, der bewegt gar nichts.“ Konkret schlug Herzog eine Gesellschaft vor, die
1. Selbständigkeit, Verantwortung und Freiheit vertritt,
2. Mobilität und Flexibilität bei der Arbeitsplatzwahl fördert,
3. verantwortliches Handeln jedes Einzelnen für sich selbst und die Gemeinschaft fordert, aber auch Solidarität leistet im Sinne von „Hilfe für den, dem die Kraft fehlt, für sich selbst einzustehen“,
4. jeden an Information und Wissen teilhaben lässt,
5.„Europa als Teil ihrer politischen und kulturellen Identität empfindet“,
6. „die internationale Verantwortung Deutschlands annimmt“.
Roman Herzog appellierte: „Wir brauchen aber nicht nur den Mut zu solchen Visionen, wir brauchen auch die Kraft und die Bereitschaft, sie zu verwirklichen. Ich rufe auf zur inneren Erneuerung!“ Konkrete Reformen befürwortete er bei den Lohnnebenkosten, beim Arbeitsmarkt, bei Subventionskürzungen, in der öffentlichen Verwaltung und bei der Deregulierung, im Gesundheitswesen und schließlich in Sachen Steuerreform. Darüber hinaus forderte er eine Neuausrichtung in der Bildungspolitik, bei den Ausbildungsinhalten sowie Perspektiven für die Jugend. Alle Reformen müssten vom Mut zu Freiheit, Eigenverantwortung und Selbständigkeit geleitet werden. Herzog wusste: „Es wird Kraft und Anstrengung kosten, die Erneuerung voranzutreiben, und es ist bereits viel Zeit verlorengegangen. Niemand darf aber vergessen: In hochtechnisierten Gesellschaften ist permanente Innovation eine Daueraufgabe! Die Welt ist im Aufbruch, sie wartet nicht auf Deutschland. Aber es ist auch noch nicht zu spät. Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen:
- die Arbeitgeber, indem sie Kosten nicht nur durch Entlassungen senken;
- die Arbeitnehmer, indem sie Arbeitszeit und -löhne mit der Lage ihrer Betriebe in Einklang bringen;
- die Gewerkschaften, indem sie betriebsnahe Tarifabschlüsse und flexiblere Arbeitsbeziehungen ermöglichen;
- Bundestag und Bundesrat, indem sie die großen Reformprojekte jetzt rasch voranbringen;
- die Interessengruppen in unserem Land, indem sie nicht zu Lasten des Gemeininteresses wirken.“
Roman Herzog glaubte an die Deutschen – „an ihre Tatkraft, ihren Gemeinschaftsgeist, ihre Fähigkeit, Visionen zu verwirklichen.“ Als Ergebnis der Anstrengungen sah er eine Gesellschaft im Aufbruch, „voller Zuversicht und Lebensfreude, eine Gesellschaft der Toleranz und des Engagements.“ Der Bundespräsident ermunterte am Ende seiner Rede: „Glauben wir wieder an uns selber. Die besten Jahre liegen noch vor uns.“
Reaktionen
Laut Wilhelm Staudacher, damals Staatssekretär im Bundespräsidialamt, gab es innerhalb eines Monats 50.000 Anfragen, 26.000 Abrufe der Rede über das Internet, 4.000 Briefe und unzählige Telefonanrufe. 98 Prozent aller Stellungnahmen waren zustimmend. Nach und nach wurde die Rede in Betriebszeitungen abgedruckt, die Bank Gesellschaft Berlin gab den Druckauftrag für 100.000 Exemplare und verteilte die Rede an alle Gymnasien in Deutschland.
Fast wäre die Rede im Politikalltag untergegangen. Erst aufgrund des Nachfassens durch Staudacher wurde die Rede in den Spätnachrichten noch angemessen erwähnt. Einen Tag nach der Rede berichteten dann alle Medien – doch interpretierten sie sie als Angriff auf die Regierung. Das positive Echo breitete sich in den folgenden Tagen aus. Aber ließen sich die Einzelnen in die Pflicht nehmen? Unternehmer, Gewerkschaften, Verbände, Lehrer und Professoren, Kirchen, Parteien, Regierungen und Gesetzgebungsorgane, Medien – alle waren Teile der Gesellschaft und trugen Verantwortung für das Gemeinwohl. Politiker aller Parteien stimmten in der Mehrheit zu, sahen die eigene Partei jedoch zumeist nicht in der Pflicht. Andere Parteien und Fraktionen blockierten, verschoben, entschieden nicht. Bundeskanzler Helmut Kohl äußerte dagegen in einem Interview zu den Worten seines langjährigen Weggefährten: „Es wäre blanke Heuchelei, wenn nun einer sagen würde: Mich geht das nichts an, nur die anderen sind gemeint.“ Von dieser Rede des Bundespräsidenten mussten sich politische Parteien, Regierungen in Bund und Ländern, Gemeinden, aber auch Kirchen und Medien angesprochen fühlen. „Wir alle müssen umdenken.“
In seinen Memoiren blickte Roman Herzog ein wenig resigniert zurück: Wie bestellt kamen „die Stellungnahmen der politischen Parteien und anderer Gruppierungen, die alle dem Bundespräsidenten begeistert zustimmten und für seine wegweisenden Worte dankten. Damit war das Klassenziel – für den Augenblick wenigstens – endgültig verfehlt; denn wenn die alle zustimmen, haben sie dich entweder falsch verstanden oder du hast in Wirklichkeit gar nichts gesagt.“
Die positive Resonanz nutzte Roman Herzog seinerseits zur Einberufung eines Innovationsbeirats. Er lud Erfinder, Tüftler und Denker in seinen Berliner Amtssitz zu einem „Fest der Ideen“ ein, um ihre Ideen zu präsentieren, und stiftete einen Preis für Technik und Innovation. 2005 zeichnete der Presse-Club Hannover Roman Herzog mit dem Leibniz-Ring und 15.000 Euro Preisgeld aus.
Wenige Reden erzielten eine solch nachhaltige Wirkung. Der „Ruck“ ist heute ein geflügeltes Wort, das teilweise wehmütig in Erinnerung gerufen wird. Nicht in Vergessenheit geraten darf, dass sich Herzogs Aufruf an alle Teile der Gesellschaft wandte, jeden Einzelnen aufrütteln und zum beherzten Tun anregen wollte.
Die dem Bundespräsidenten im Grundgesetz zugewiesene Machtposition beschränkt ihn – abgesehen von besonderen Notsituationen wie Regierungskrisen – auf seine Worte, die er zu festlichen und mahnenden Anlässen spricht. Am 26. April 1997 redete der Bundespräsident der Nation wahrlich ins Gewissen, prangerte den Reformstau an. Es war keine reine Politikerschelte, keine Parteienschelte à la Richard von Weizsäcker. In einem Interview wenige Tage nach der Rede betonte Herzog noch einmal, dass seine kritischen Äußerungen zum Reformstau in Deutschland „nur zum Teil“ den Politikern gegolten haben. Vielmehr sei die Berliner Rede eine „Rede an alle Deutschen“ gewesen. Er erklärte: „Die Stimmung des Sich-Beklagens, die Stimmung des Pessimismus, die in unserem Land umgeht und die natürlich auch von den Medien unterstrichen wird, die wollte ich eigentlich ansprechen, und ich wollte den Bürgern auch klarmachen: Es ist zu einem erheblichen Teil eure Sache, euch mit eurer eigenen Zukunft zu befassen, es ist nicht nur eine Frage an die Politiker.“
Roman Herzog nahm die Gesellschaft in die Pflicht. Deren Zustand bereitete ihm Sorgen, er forderte einen „neuen Gesellschaftsvertrag zugunsten der Zukunft“.