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Der Blutsonntag von Vilnius – Anfang vom Ende der Sowjetunion

by Alexander Brakel
Am 13. Januar 1991 schaute die Welt auf eine Stadt, die den meisten Fernsehzuschauern bis dato nicht einmal namentlich bekannt gewesen sein dürfte. In Vilnius, der Hauptstadt der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik, verteidigten mehr als 50.000 Zivilisten ihr Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung gegen Soldaten und Panzer der sowjetischen Armee.

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In Vilnius, an der Peripherie der Sowjetunion, begann der Zusammenbruch des gewaltigsten Imperiums des 20. Jahrhunderts.

 

Vorgeschichte: Perestrojka und Glasnost

Die bewaffnete Auseinandersetzung im Baltikum markierte den dramatischen Höhepunkt einer Entwicklung, die ihren Anfang am 11. März 1985 genommen hatte. An diesem Tag trat der erst 54-jährige Michail Gorbatschow das Amt des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) an. Schon äußerlich unterschied er sich deutlich von seinen Vorgängern, den greisen Juri Andropow und Konstantin Tschernenko, die jeweils nach wenigen Monaten auf dem neuen Posten verstorben waren. Deutlicher zeigte sich der Unterschied jedoch an der Bereitschaft des neuen starken Manns, die Probleme des Landes offen zu benennen und neue Wege zu ihrer Lösung einzuschlagen. Und diese Probleme waren immens: Seit 1979 führte die UdSSR einen verlustreichen Krieg in Afghanistan, der zudem zusammen mit der Stationierung der SS-20-Raketen zu einer neuen Spirale des Wettrüstens mit der NATO geführt hatte. Ein immer größerer Teil des Bruttoinlandsprodukts musste für militärische Güter ausgegeben werden, ohne dass eine Chance bestand, mit dem technologisch und wirtschaftlich überlegenen Westen gleichzuziehen. Die Einnahmen aus Öl- und Gasexporten, die noch in den 1970er Jahren die strukturelle Schwäche des Staates hatten verdecken können, waren aufgrund eines weltweiten Preisverfalls drastisch eingebrochen. Der Sowjetwirtschaft fiel es immer schwerer, die Versorgung der eigenen Bevölkerung auch nur mit den elementarsten Gütern sicherzustellen.

Gorbatschows Konsequenz hieraus war ein radikales Umdenken. Außenpolitisch setzte er auf einen Ausgleich mit NATO und USA, um dem Rüstungswettbewerb ein Ende zu machen. Innenpolitisch verordnete er dem Land eine begrenzte Offenheit und Pluralität. Als überzeugter Kommunist stand er vor einem Dilemma: Auf der einen Seite wollte er den Kommunismus und die Sowjetunion bewahren, auf der anderen Seite machten die enormen Probleme seines Landes tiefgreifende Neuerungen notwendig. Gegner dieser Neuerungen fanden sich gerade in den Reihen von Zentralkomitee und Politbüro, die einen Verlust von Macht und Einfluss, ja letztendlich die Erosion der kommunistischen Ordnung fürchteten. Um ein Gegengewicht zu ihnen zu bilden, verbündete sich der neue Generalsekretär mit Reformkräften, ließ offene Diskussionen zu und schwächte das Monopol der Kommunistischen Partei. Mittelfristig führte er damit genau jene Erosion herbei, vor der seine Gegner gewarnt hatten. Naiv nahm der Idealist Gorbatschow an, das mit Gewalt geschaffene Sowjetimperium und die mit totalitärem Druck durchgesetzte kommunistische Gesellschaftsordnung würden nach Wegfall des Zwangs weiterbestehen. Als er seinen Irrtum erkannte, war es zu spät.

 

Freiheitsbewegungen in den Satellitenstaaten

Nirgendwo zeigte sich dieser Irrtum deutlicher als in der Frage von nationaler Souveränität. Die ersten Risse bildeten sich nicht in der Sowjetunion selbst, sondern in dem System der von ihr beherrschten Satellitenstaaten. Nicht freiwillig hatten sich diese dem kommunistischen Block angeschlossen. Vielmehr war ihre Zugehörigkeit zum östlichen Block das Ergebnis des nach dem Zweiten Weltkrieg von der UdSSR oktroyierten Systems moskautreuer kommunistischer Diktaturen. Mehrfach hatte die Bevölkerung der betroffenen Länder gegen ihre Unterdrückung aufbegehrt, und wiederholt hatte nur das direkte militärische Eingreifen der Sowjetunion die kommunistischen Regime gerettet, so 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei. Als 1980 eine Streikwelle Polen erschütterte, verhängte die dortige Regierung das Kriegsrecht, angeblich auch, um einem Eingreifen Moskaus zuvorzukommen. Der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt äußerte öffentlich sein Verständnis für die Unterdrückung der polnischen Arbeiter.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre begann sich die Situation jedoch deutlich zu wandeln. Weder dem von der Gewerkschaft Solidarność erkämpften Wandel Polens zu einer Demokratie, noch den Veränderungen, den die ungarischen Reformsozialisten angestoßen hatten, setzte die sowjetische Regierung entscheidenden Widerstand entgegen. Auch als in Leipzig, Ost-Berlin und anderswo erste Zehn-, dann Hunderttausende auf die Straße gingen, blieben die Panzer der Roten Armee in den Kasernen. Die UdSSR war nicht länger bereit, den Zusammenhalt des Ostblocks mit Gewalt sicherzustellen. Offen blieb allerdings, ob dies auch für die eigene territoriale Integrität galt.

 

Entwicklung in den baltischen Staaten

Vor allem in Georgien und in den baltischen Staaten, war die Unzufriedenheit über die Zugehörigkeit zur Sowjetunion groß. Estland, Lettland und Litauen waren in der Zwischenkriegszeit unabhängige Staaten gewesen. Im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt hatten sich Deutschland und die Sowjetunion auf eine weitgehende Aufteilung Osteuropas geeinigt. Das Baltikum war dem sowjetischen Einflussgebiet zugeschlagen worden. Im Sommer 1940 hatte die Rote Armee die drei Staaten besetzt, und nach fingierten Volksabstimmungen wurden sie der Sowjetunion zugeschlagen, hunderttausende Menschen wurden nach Sibirien deportiert. Die Erinnerung an die eigene Unabhängigkeit und den Terror der Besatzer blieb im kollektiven Gedächtnis des Baltikums lebendig. Und als die vorsichtige Liberalisierung der Perestrojka den Raum dafür bot, artikulierte sich der Wunsch nach nationaler Eigenständigkeit:

So beschloss ausgerechnet das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Lettlands im Oktober 1988 die Einführung des Lettischen als neben Russisch gleichberechtigter Amtssprache. Im Frühjahr des Folgejahres wurden vergleichbare Gesetze in den beiden anderen baltischen Ländern beschlossen. Ebenfalls im Herbst 1988 gründeten sich mit der „Lettischen Volksfront“ und der litauischen Sajūdis (Erneuerung) neue nationale Sammlungsbewegungen. Kurz darauf erklärte der Oberste Sowjet Litauens den 16. Februar zum Nationalfeiertag. 1918 war an diesem Tag die Unabhängigkeit des Landes erklärt worden. 71 Jahre später, am 16. Februar 1989, wurde der Tag erstmals seit der Eingliederung des Landes in die Sowjetunion auch offiziell begangen. Ähnliches passierte acht Tage später in Estland. Wieder einen Monat später, am 25. März 1989, demonstrierten in Riga mehr als 300.000 Menschen im Gedenken an die Opfer des Stalinismus.

 

Wahl zum Volksdeputiertenkongress

Die Zentralmacht erkannte, dass sie auf diese Entwicklung reagieren musste, und versuchte, den baltischen Staaten größere Unabhängigkeit, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet zuzubilligen, sie aber zugleich im Verbund der Sowjetunion zu halten. Immer deutlicher zeigte sich jedoch, dass dies nicht gelingen konnte. Und wiederum war es ausgerechnet das Bemühen Gorbatschows zur Reform der Sowjetunion, die ihren Zusammenbruch beförderte.

Als wichtiger Schritt zur Demokratisierung hatte er bereits 1988 die Einrichtung eines Volksdeputiertenkongresses als Ersatz für den weitgehend bedeutungslosen Obersten Sowjet vorgeschlagen. Auch wenn nur 1500 der insgesamt 2250 Deputierten in geheimer Wahl direkt vom Volk gewählt werden sollten, bedeutete dies dennoch eine Sensation: Erstmals seit 1917 fand auf sowjetischem Boden wieder eine einigermaßen freie Wahl durch die Bevölkerung statt. Noch dazu durften die Kandidaten nicht nur aus den Reihen der Kommunistischen Partei kommen.

Die Wahlen fanden am 26. März 1989 statt, und bereits bei der Stimmauszählung wurde deutlich, wie ausgeprägt der Wunsch nach nationaler Eigenständigkeit im Baltikum war: Die Kandidaten der estnischen, litauischen und lettischen Volksfronten (wobei es sich in Estland nur um von der Volksfront vorgeschlagene, nicht um eigene Kandidaten handelte) schlugen fast überall ihre kommunistischen Konkurrenten aus dem Feld. Die kommunistischen Parteien der drei Sowjetrepubliken erkannten, dass sie nur dann noch Aussicht auf Erfolg hätten, wenn sie sich selbst zum Anwalt der nationalen Sache machten. In den kommenden Monaten trieben sie deshalb die politische Liberalisierung ebenso voran, wie den Kampf um größere Unabhängigkeit von der Zentralregierung in Moskau. Bereits im Juli 1989 beschloss das Zentralkomitee der litauischen KP, einen unabhängigen, demokratischen litauischen Rechtsstaat zu schaffen. Oberster Gesetzgeber der Republik sollte nicht mehr der Oberste Sowjet des Unionsstaats, sondern der Litauens sein. In weiteren Beschlüssen wurde größere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Moskau gefordert. Ende des Jahres erklärte sich dann auch die Partei für eigenständig und sagte sich von der sowjetischen Mutterpartei los. Vergleichbare Entwicklungen gab es auch in Lettland und Estland. Die Zentralregierung in Moskau protestierte wiederholt, ohne die Entwicklungen aufhalten zu können. Im Gegenteil, mit der Einrichtung des Volksdeputiertenkongresses hatte sie den baltischen Unabhängigkeitsbewegungen ein entscheidendes Instrument in die Hand gegeben, ein Instrument zur Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit.

 

Baltischer Weg

Bis dahin hatte die sowjetische Führung die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt immer geleugnet. Nicht als Folge der Absprache zwischen den beiden Diktatoren und der sowjetischen Aggression seien Estland, Lettland und Litauen Teil der Sowjetunion geworden, sondern aus eigenem Willen. Die baltischen Abgeordneten forderten nun, der Volksdeputiertenkongress möge einen Untersuchungsausschuss einrichten, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Auch wenn Gorbatschow dem Ansinnen nur halbherzig zustimmte, und versuchte, die Behandlung des geheimen Zusatzprotokolls auszuklammern, war schon der Beginn der Untersuchung eine Initialzündung. Hinter die grundsätzliche Erkenntnis, dass der Pakt der beiden totalitären Regime unter Bruch des Völkerrechts zustande gekommen war und mithin keine Gültigkeit besaß, konnte niemand mehr zurück. In der Moldau (die ebenfalls im Zuge des Abkommens von der Sowjetunion annektiert worden war), vor allem aber im Baltikum mehrten sich die Demonstrationen. Ihren Höhepunkt erreichten sie am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts: Rund zwei Millionen Menschen bildeten eine 600 Kilometer lange Menschenkette, die vom estnischen Tallinn über das lettische Riga bis ins litauische Vilnius reichte. An einem Tag demonstrierte damit ein Drittel aller Bewohner der drei baltischen Länder für die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit ihrer Heimat! Selbst aus der an Manifestationen des Freiheitswillens reichen Umbruchszeit 1988-91 ragt diese Aktion heraus.

Ende des Jahres musste dann auch die sowjetische Führung die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zugeben. (Sie konnte davon nicht überrascht sein, hatte das Original doch jahrzehntelang in ihrem eigenen Archiv gelegen!) Bereits im November 1989 hatte Estland seinen 1940 erzwungenen Beitritt zur UdSSR für ungültig erklärt, Litauen und Lettland zogen mit analogen Erklärungen im Februar des Folgejahres nach. Im selben Monat gewann Sajūdis die litauischen Parlamentswahlen mit überwältigender Mehrheit, am 11. März erklärte das Parlament ohne Gegenstimme die staatliche Unabhängigkeit des Landes. Obwohl vergleichbare Erklärungen aus Tallinn und Riga nicht lange auf sich warten ließen, richtete Moskau seine Politik – eine Mischung aus Appellen, Zugeständnissen und Drohungen – in erster Linie gegen Vilnius. In den Augen der Zentralmacht kam den Separatisten aus Litauen eine Vorreiterrolle zu. Im April 1990 verhängte Gorbatschow deshalb eine Wirtschaftsblockade. Sie resultierte in einer dramatischen Verschlechterung der ökonomischen Zustände in Litauen, aber nicht zu der von Moskau geforderten Aussetzung der Unabhängigkeit. Im Gegenteil – im Laufe des Jahres erklärten auch sämtliche übrigen Sowjetrepubliken ihre Souveränität (wohlgemerkt, nicht ihre Unabhängigkeit) und forderten mehr Rechte. Unter diesem Druck war Gorbatschow zu weitgehendem Entgegenkommen bereit. Ein Ausscheiden aus der Sowjetunion wollte er jedoch weiterhin nicht zulassen. Aber genau darauf beharrten die baltischen Länder.

 

Zuspitzung in Litauen: „Blutsonntag in Vilnius“

Anfang Januar 1991 spitzten sich die Ereignisse zu. Die moskautreue Bewegung Edinstvo (Einheit) verstärkte ihre Proteste gegen die Unabhängigkeitsbewegung, die sowjetische Armee verlegte mehrere Einheiten nach Litauen, und Gorbatschow forderte den Obersten Sowjet Litauens auf, sämtliche Gesetze zurückzunehmen, die gegen die sowjetische Verfassung verstießen (zuvörderst natürlich die Erklärung der nationalen Unabhängigkeit). Indirekt drohte er mit militärischem Eingreifen.

Der Oberste Sowjet unter seinem Vorsitzenden Vytautas Landsbergis beugte sich dem Ultimatum nicht. Am 12. Januar begannen sowjetische Truppen mit der Besetzung strategisch wichtiger Gebäude, und schossen dabei teilweise auf umstehende Zivilisten. Landsbergis versuchte wiederholt vergeblich, Gorbatschow telefonisch zu erreichen, um ihn zu einem Ende der Intervention zu bewegen. Gleichzeitig strömten besorgte Menschen aus ganz Litauen in ihre Hauptstadt und bildeten einen Schutzring um die wichtigsten Gebäude der Stadt, den Obersten Sowjet, das Radio- und Fernsehstudio und den etwas außerhalb des Stadtzentrums gelegenen Fernsehturm. Kurz nach Mitternacht am 13. Januar rückten sowjetische Panzer auf das Gebäude vor, feuerten in die Menschenmenge, die sich schützend um den Turm gestellt hatte, und fuhren ungebremst in die Menge. Insgesamt vierzehn Zivilisten kamen bei den Angriffen ums Leben, ein sowjetischer Soldat wurde von einer Kugel der eigenen Leute getroffen, mehr als tausend Personen wurden verletzt. Gegen halb drei stürmten Soldaten auch das Fernsehstudio und beendeten die Übertragung. Völlig unerwartet begann jedoch nur eine halbe Stunde später eine Live-Berichterstattung aus dem etwa hundert Kilometer entfernten Kaunas. Auf die Aufforderung eines dortigen TV-Technikers fanden sich innerhalb kürzester Zeit mehrere Universitätsdozenten dort ein, die die Nachrichten von den sowjetischen Angriffen in unterschiedlichen Sprachen über die Welt verbreiteten. Gleichzeitig strömten immer mehr Menschen zum Gebäude des Obersten Sowjets, in dem die litauische Regierung ausharrte. Als der Tag anbrach, waren es schließlich mehr als 50.000, die Barrikaden und Verteidigungsstellungen errichteten, um den drohenden Angriff abzuwehren. Den anrückenden sowjetischen Truppen wurde klar, dass eine Eroberung des Obersten Sowjets nur um den Preis eines gewaltigen Blutbades machbar sein würde. Schließlich zogen sie sich zurück. Dieser Rückzug war nicht gleichbedeutend mit der Anerkennung der litauischen Unabhängigkeit. Bis in den Sommer hinein kam es wiederholt zu kleineren militärischen Aktionen. Unter anderem wurden bei einem Angriff auf einen litauischen Grenzposten sieben Litauer getötet. Auch in Lettland kostete ein Schusswechsel bei der Besetzung des dortigen Innenministeriums durch eine sowjetische Sondereinheit fünf Menschen das Leben. Aber offensichtlich war die Sowjetmacht nicht mehr bereit, den territorialen Zusammenhalt des Imperiums mit Waffengewalt zu erzwingen.

 

Volksabstimmung in Litauen

Die litauische Regierung ließ als Konsequenz aus dem „Blutsonntag in Vilnius“ (13. Januar 1991) die Bevölkerung über die Unabhängigkeit des Landes abstimmen. In einem Referendum sprachen sich am 9. Februar über 90 Prozent dafür aus (bei einer Wahlbeteiligung von über 85 Prozent). Kurz darauf erkannte Island als erstes Land den neuen Staat offiziell an. Gorbatschow dagegen erklärte die Abstimmung für ungültig. Allerdings musste er schon bald erkennen, dass ihm die Situation nicht nur im Baltikum immer mehr entglitt. Zum neuen starken Mann stieg der Präsident der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), Boris Jelzin, auf. Um sich gegen Michail Gorbatschow durchzusetzen, war auch er an einer möglichst weitgehenden Souveränität der von ihm regierten Republik interessiert. Die Loslösungsbestrebungen der Balten kamen ihm dabei zupass. Bereits am Tag nach den blutigen Ereignissen in Vilnius unterzeichnete er in Tallinn mit Vertretern aller drei baltischen Länder eine Erklärung zum gegenseitigen Beistand für den Fall der Bedrohung ihrer Souveränität. Im weiteren Verlauf des Jahres 1991 konnte Jelzin seine Machtstellung stetig erweitern, während sein Rivale Gorbatschow beständig an Einfluss verlor.

 

Putsch gegen Gorbatschow

Zum Wendepunkt nicht nur für das Schicksal der baltischen Länder, sondern der gesamten Sowjetunion wurde der Putsch gegen Gorbatschow am 19. August 1991, als einige reaktionäre Kader aus Gorbatschows engster Umgebung den Präsidenten der Sowjetunion für abgesetzt erklärten und noch einmal versuchten, die von ihm durchgesetzten (so wie die nicht intendierten) Neuerungen zurückzudrehen. Als der Staatsstreich nach nur drei Tagen scheiterte – in erster Linie an der Unfähigkeit seiner Protagonisten – war damit auch das Ende der Sowjetunion nicht mehr aufzuhalten. Jelzin, der als Verteidiger der Demokratie während des Putsches endgültig zur entscheidenden Figur geworden war, verbot noch am Folgetag die Kommunistische Partei und entzog damit ihrem Vorsitzenden Gorbatschow die politische Machtbasis. Und er trieb die Auflösung der UdSSR mit aller Macht voran. Bereits im Monat zuvor hatte die RSFSR die litauische Unabhängigkeit offiziell anerkennt, nun nahm sie auch diplomatische Beziehungen zu Estland und Lettland auf, mehr als 90 Länder folgten in den darauffolgenden Tagen, am 6. September schließlich auch die Sowjetunion.

Jelzin ging daran, auch die führenden Köpfe der übrigen Sowjetrepubliken für die Idee staatlicher Unabhängigkeit zu gewinnen. Am 8. Dezember trafen er und sein ukrainischer und belarussischer Amtskollege, Leonid Krawtschuk und Stanislau Schuschkewitsch sich in der Beloweschskaja Puschtscha und unterzeichneten einen Vertrag über die Auflösung der Sowjetunion. Gorbatschow wurde von dessen Inhalt nur noch telefonisch in Kenntnis gesetzt. Nachdem am 21. desselben Monats de facto auch die obersten Repräsentanten von Kasachstan, Armenien, Aserbaidschan, Kirgistan, Moldaus, Tadschikistans, Turkmenistans und Usbekistans dem Vertrag zugestimmt hatten, trat Gorbatschow am 25. Dezember 1991 von seinem Amt als Präsident des Sowjetunion zurück. Am 25. Dezember 1991 wurde die rote Fahne über dem Kreml eingeholt. Die Sowjetunion hatte aufgehört zu bestehen.

 

Literatur:

  • Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums. München 2009.
  • Stephen Kotkin: Armageddon Averted. The Soviet Collapse 1970-2000. Oxford/New York 2001.

 

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