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Die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs

by Matthias Oppermann
Mit dem Überfall auf Polen entfesselte Adolf Hitler am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg. Er machte damit den Auftakt zur Verwirklichung seines außenpolitischen „Programms“, dessen Ziel die Errichtung der zunächst kontinentalen, dann globalen Herrschaft einer imaginierten germanischen „Rasse“ und die Lösung der sogenannten „Judenfrage“ war.

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Zumindest Winston Churchill war nicht überrascht. Als am 1. September 1939 mit dem Überfall des Deutschen Reichs auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, bestätigte sich, wovor er seit 1937 unermüdlich gewarnt hatte. Gemeinsam mit wenigen gleichgesinnten britischen Politikern ließ er in seiner Kritik der Appeasement-Politik der Regierung Neville Chamberlains nicht nach, teilte aber das Schicksal der Kassandra der griechischen Mythologie. Als brillanter Außenseiter in der eigenen Konservativen Partei hatte Churchill anders als Chamberlain das Wesen und die Absichten Hitlers durchschaut. Und er wusste, welche Konsequenzen die Beschwichtigung des nationalsozialistischen Tyrannen haben würde. Das Münchner Abkommen, mit dem Großbritannien und Frankreich Deutschland das Sudetenland überließen, kommentierte er am 5. Oktober 1938 im Unterhaus mit düsteren Worten: „Alles ist vorbei. Stumm, trauernd, verlassen, zerbrochen, verschwindet die Tschechoslowakei in der Dunkelheit. (…) Und nehmen Sie nicht an, dass dies das Ende ist. Dies ist nur der erste Schluck, der Vorgeschmack eines bitteren Bechers, der uns Jahr um Jahr gereicht werden wird, wenn wir nicht durch die Wiedererlangung unserer moralischen Gesundheit und kriegerischen Energie wiederaufsteigen und wie in alten Zeiten Stellung für die Freiheit beziehen.“


Den Kampf für die Freiheit nahm Großbritannien freilich erst nach dem deutschen Überfall auf Polen auf, den die Regierungen in London und Paris, ihrer Garantieerklärung für Polen entsprechend, am 3. September 1939 mit der Kriegserklärung an die Reichsregierung beantworteten. Churchill war mittlerweile als Marineminister in die Regierung Chamberlain eingetreten und ließ am selben Tag in einer Radioansprache keinen Zweifel daran, welche Prüfung seinem Land bevorstand: „Dies ist keine Frage des Kampfes für Danzig oder für Polen. Wir kämpfen, um die ganze Welt vor der Pestilenz der Nazi-Tyrannei zu bewahren und in Verteidigung dessen, was den Menschen heilig ist. (…) Im Kern ist dies ein Krieg, um auf unverrückbarem Fels die Rechte des Individuums aufzupflanzen und den Menschen in seiner wahren Statur zu etablieren und wieder aufleben zu lassen.“

Noch bevor Churchill am 10. Mai 1940 das Amt des Premierministers von Chamberlain übernahm, machte er deutlich, dass sein Land kein geringeres Ziel hatte, als die Freiheiten des Westens gegen eine bislang unvorstellbare Barbarei zu verteidigen. Er wurde dabei von einer Erkenntnis geleitet, deren Richtigkeit heute kein seriöser Historiker bestreitet: Der Beginn des Zweiten Weltkriegs lässt anders als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs keine Debatte über die Kriegsschuld zu. Der Ursprung dieses neuen Krieges, der sich durch den Angriff Japans auf die im Hafen von Pearl Habor liegende amerikanische Flotte vom 7. Dezember 1941 sowie die deutsche Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten vom 11. Dezember desselben Jahres zu einem Weltkrieg ausweitete, lag unzweifelhaft im absoluten Eroberungswillen des sogenannten „Führers“ des „Dritten Reichs“. 1939 gab es keinen „Kriegsausbruch“; vielmehr muss man, wie der Schweizer Historiker Walther Hofer 1964 vorgeschlagen hat, von der „Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ durch Hitler sprechen.
 


Hitlers außenpolitisches „Programm“

Gewiss gab es zeitgenössisch und auch später noch Zweifel daran, dass Hitler diesen Weg seit seiner Machtübernahme am 30. Januar 1933 konsequent beschritt. Neville Chamberlains Glaube, Hitler sei zu einer rationalen Bestandsaufnahme des internationalen Systems fähig und mit wirtschaftlichen oder territorialen Zugeständnissen zu beschwichtigen, ist nur ein Beispiel dafür. Der Eindruck, dass der Tyrann nicht von Beginn an auf Krieg zielte, dass der Aufbau seines Regimes also nicht in erster Linie der Vorbereitung zukünftiger Eroberungen diente, konnte tatsächlich entstehen. Denn keine andere Partei hatte in der Weimarer Republik mit Blick auf ihre außenpolitische Programmatik ein ähnlich disparates Bild abgegeben wie die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP). Der interessierte Beobachter konnte in diesem Wirrwarr der Positionen stets das entdecken, was seinen eigenen Vorstellungen und Präferenzen entsprach. Tatsächlich kam es darauf aber gar nicht an. Die Außenpolitik des „Dritten Reichs“ war nicht den Zielen der einen oder anderen Gruppierung innerhalb der NSDAP unterworfen, sondern dem Willen des  in dieser Frage noch mehr als auf anderen Gebieten absolut bestimmenden „Führers“ des Nationalsozialismus. Was zählte war „Hitlers Weltanschauung“ (Eberhard Jäckel), die er dem Publikum in seinem Buch Mein Kampf von 1923 und dem unveröffentlichten, sogenannten Zweiten Buch von 1928 unterbreitet hatte.


Zwischen 1919 und 1923 bewegten sich Hitlers außenpolitische Gedanken in relativ konventionellen Bahnen. Sein Traum von einer Restauration der Hohenzollernmonarchie und des verlorengegangenen Kolonialreichs unterschied sich kaum von den Vorstellungen der Deutschnationalen. Allmählich wandelte sich sein Denken jedoch zu jener Mischung aus Antisemitismus, Antibolschewismus und Lebensraumideologie, die er in seinen Schriften präsentierte. Beide Texte enthalten ein außen- und rassenpolitisches „Programm“, das alles in allem darauf zielte, eine die Welt umfassende, sich auf die angebliche Überlegenheit einer imaginierten „germanischen Rasse“ stützende „Pax Germanica“ zu errichten. Drei Stufen lassen sich dabei unterscheiden: zunächst die durch ein Bündnis mit Großbritannien abgestützte Unterwerfung Kontinentaleuropas und der Sowjetunion als Basis einer künftigen Weltmachtstellung; dann die Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten, die Hitler als den Auftakt des Ringens um die Weltherrschaft betrachtete; und schließlich – nach dem vom Tyrannen als sicher geglaubten Sieg des deutschen Volkes – die Etablierung der Weltherrschaft des neuen germanischen Menschen, dessen Überlegenheit jede Machtpolitik, ja überhaupt jede Art von Politik obsolet machen sollte. Ziel war somit, die Weltgeschichte in einer biologistischen Utopie enden zu lassen, die in Wirklichkeit die schlimmste aller möglichen Dystopien war.
 


Die Vorbereitung des Krieges

Den Weg zur Realisierung der ersten Stufe schlug Hitler gleich nach seiner Machtübernahme ein. Zunächst ging es darum, den Frieden zu wahren, um in Ruhe aufrüsten zu können, ein Ziel, das den Eindruck verstärkte, Hitler handele wie ein gewöhnlicher konservativer Revisionspolitiker der Weimarer Republik. Auch die Remilitarisierung des Rheinlands im März 1936, der „Anschluss“ Österreichs im März 1938 und das Münchner Abkommen zerstreuten diesen Eindruck nicht. Doch bereits in der Sudetenkrise war Hitlers Ziel nicht allein eine weitere territoriale Ausdehnung des Reiches, sondern die Provokation eines Krieges, den der Abschluss des Münchner Abkommens am Ende doch noch verhinderte.

Vier weltpolitisch bedeutsame Umstände trugen in hohem Maße dazu bei, dass Hitler diesen Weg überhaupt gehen konnte, dass er also in der Lage war, seine den Eroberungskrieg vorbereitende Expansionspolitik gleichsam ungestört führen zu können. Erstens war die Aufmerksamkeit Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von der Dauerkrise in Ostasien gebunden. Seit Japan im September 1931 China in der Mandschurei angegriffen hatte, befanden sich die beiden asiatischen Mächte in einem anhaltenden Konflikt. Zweitens wurde die Situation in Europa durch die Ereignisse im Mittelmeerraum dominiert, das heißt durch den Krieg Italiens gegen Abessinien von 1935 bis 1936 und den von 1936 bis 1939 tobenden Spanischen Bürgerkrieg, in dem alle europäischen Großmächte, aber auch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion mehr oder weniger engagiert waren. Drittens zeigte sich ein ums andere Mal, auf welch wackliger Grundlage die Pariser Friedensordnung stand, der es eben nicht gelungen war, alle innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Probleme zu lösen. Und viertens gab der weltpolitische Gegensatz zwischen Großbritannien und der Sowjetunion, der bis 1941 fortwirkte, Hitler den Raum, den er zum Handeln brauchte. Die konkrete Politik der beiden Garantiemächte der Pariser Friedensordnung – zunächst die französische Fixierung auf ein System der kollektiven Sicherheit, in dem Deutschland nicht gleichberechtigt war, dann die britische Appeasementpolitik – tat das Übrige.


Die Entfesselung des Krieges

Nur wenige ahnten, dass Hitlers außenpolitische Erfolge ihn nicht befriedigen konnten, dass sie vielmehr nur Etappen auf der Reise zu weiter ausgreifenden Zielen waren. Vor allem aber Josef Stalin, dessen Sowjetunion das eigentlich Ziel von Hitlers Expansionspolitik war, hatte sich schon früh durch die Lektüre von Mein Kampf ein Bild von den Absichten des künftigen nationalsozialistischen Tyrannen gemacht. Das hinderte ihn freilich nicht daran, ein – auf Zeit geschlossenes – Bündnis mit dem Hitler-Reich einzugehen. Dieses Bündnis war in Hitlers Plänen, die er flexibel an die sich verändernden internationalen Umstände anzupassen wusste, durchaus nicht vorgesehen gewesen. Vielmehr sollte ihm eine Allianz mit Großbritannien oder zumindest die Neutralität des Königreichs den Angriff auf die Sowjetunion und damit die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten ermöglichen. Dass sich die Briten dem Bündnis verweigerten, brachte ihn nicht von seinen Plänen ab. Sogar nach dem Überfall auf Polen hielt er an der Hoffnung auf einen „Ausgleich“ mit Großbritannien fest.

Für Hitlers Entschluss zum Krieg spielte die Haltung Großbritanniens im Sommer 1939 freilich gar keine Rolle mehr. Stattdessen versuchte das „Dritte Reich“ seit Oktober 1938 mehr denn je, Polen in ein antisowjetisches Bündnis einzubeziehen, indem es Warschau das prima vista verlockende Angebot von Gebietserweiterungen in der Ukraine machte. Dieses Werben um den von Hitler im Grunde tief verachteten Nachbarn hatte eine längere Vorgeschichte, die die Fähigkeit des Tyrannen zur taktischen Ausgestaltung seines „Programms“ vor Augen führt.

Am 26. Januar 1934 hatte Hitler mit dem von Marschall Józef Piłsudski autoritär regierten Polen einen Nichtangriffspakt geschlossen, der die Vorzeichen der Ostpolitik der Weimarer Republik umkehrte. Die Weimarer Regierungen und das Auswärtige Amt hatten bis 1933 stets die Linie verfolgt, allein oder mit der Sowjetunion eine antipolnische Politik zu betreiben. Was bei Hitlers Deutschnationalen Partnern Unverständnis, wenn nicht Entsetzen hervorrief, war in Wirklichkeit ein geschickter Schachzug zur Zersprengung des französischen Bündnissystems, das das Reich umklammerte. „Programmatisch“ machte Hitler bereits früh deutlich, dass er es mit seiner ideologisch motivierten Expansionspolitik, das heißt mit dem Streben nach dem Erwerb von „Lebensraum“ in den Weiten Russlands, bitter ernst meinte. Piłsudski seinerseits ließ sich auf dieses Abenteuer ein, weil er glaubte, sich nicht mehr auf den französischen Partner verlassen zu können, seit die Regierung in Paris im Frühjahr 1933 einen Präventivkrieg gegen das sich neu etablierende nationalsozialistische Regime in Deutschland verworfen hatte.


Nun, von Herbst 1938 bis zum Frühjahr 1939, warb das Deutsche Reich also abermals um Polen. Der nach „Lebensraum“ im Osten strebende „Führer“ sah sich vor die Alternative gestellt, entweder gemeinsam mit Polen gegen die Sowjetunion vorzugehen oder aber zuerst Polen zu besiegen und dann von dieser Basis aus die Eroberung Russlands zu beginnen. Als Polen am 21. März 1939 sein Angebot ablehnte, war die Entscheidung getroffen. Während die polnische Führung noch zögerte, entschloss sich Hitler zur sogenannten „Zerschlagung der Rest-Tschechei“. Der tschechische Landesteil der Tschechoslowakei wurde in das von Deutschland unterworfene Protektorat Böhmen und Mähren verwandelt, und die Slowakei zu einem Vasallenstaat des „Dritten Reichs“ gemacht.

Damit war sogar für die über alle Maßen kompromissbereite Regierung Chamberlain in London die Grenze des Erträglichen überschritten. Es folgte am 31. März – zehn Tage nachdem Polen Hitlers scheinbar attraktives Angebot ausgeschlagen hatte – die britische Garantieerklärung für Polen, die freilich nicht bedeutete, dass London nun zum Krieg bereit gewesen wäre, sondern nur, dass die britische Regierung dem Tyrannen ein letztes Warnsignal senden wollte. Doch dieses Signal kam nicht an, konnte den Adressaten gar nicht erreichen, weil der von seiner wahnhaften Weltanschauung getriebene Hitler längst zum Äußersten entschlossen war. Wiederum in taktisch meisterhafter Manier kehrte er die Vorzeichen der internationalen Konjunktur noch einmal um, als er am 23. August 1939 mit Josef Stalin den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt schloss. Obwohl die Sowjetunion das eigentliche Ziel seines Expansionsstrebens war, verständigte sich der nationalsozialistische Tyrann mit seinem kommunistischen Gegner, um den ersten Schlag gegen Polen in Ruhe ausführen zu könne. Zugleich vereinbarten die beiden Tyrannen in einem geheimen Zusatzprotokoll die Aufteilung des zwischen Deutschland und Russland liegenden Gebiets. Am selben Tag ließ Hitler die Oberbefehlshaber der Wehrmacht wissen, dass er beschlossen habe, Polen anzugreifen und niederzuwerfen.

Ermöglicht durch diesen Pakt, aber allein motiviert von seinem unbedingtem Kriegswillen, befahl Hitler am 31. August 1939 den Überfall auf Polen, der am folgenden Morgen um 4:45 Uhr stattfinden sollte. Statt den Krieg zu erklären, täuschte Deutschland verschiedene Vorfälle vor, die der polnischen Seite den Beginn der Kampfhandlungen zuschob. Der bekannteste von ihnen ist der „Überfall“ auf den Sender Gleiwitz, den am 31. August als polnische Freischärler verkleidete SS-Männer verübten und dabei eine falsche polnische Kriegserklärung an das Deutsche Reich verbreiteten.


Damit hatte Hitler den Krieg entfesselt, der von Beginn an das Gesicht des „Religions- und Ausrottungskriegs“ (Raymond Aron) trug, der aus den ideologischen Überzeugungen des Tyrannen folgte. Dabei verband sich das Streben nach „Lebensraum“ im Osten von der ersten Minute an mit der Absicht, die sogenannte „Judenfrage“ zu lösen. Zwar konkurrierten zu Beginn verschiedene „Lösungsansätze“, aber der schließlich eingeschlagene Weg einer alles in den Schatten stellenden Vernichtungspolitik ergab sich konsequent aus den Anschauungen und Zielen Hitlers.

Denn der Antisemitismus war das eigentliche Bewegungsgesetz des „Dritten Reichs“ und die aus ihm folgende Vernichtungspolitik ein Ziel der Hitler’schen Außenpolitik, das gleichberechtigt neben, ja sogar über dem Verlangen nach Weltherrschaft einer nur in der Einbildung des Tyrannen und einiger Weggefährten existierenden „germanischen Rasse“ stand. Oder anders gewendet: Die Lösung der „Judenfrage“ war in der nationalsozialistischen Vorstellung ein Ziel, dessen Verwirklichung die globale Herrschaft überhaupt erst ermöglichte. Insofern war das, was Churchill in seiner Radioansprache vom 3. September 1939 sagte, nur eine blasse Ahnung des Bevorstehenden. Im Kern aber hatte er verstanden, was auf dem Spiel stand: Es ging nicht allein um Danzig oder die Unabhängigkeit Polens; es ging um das Schicksal der liberalen westlichen Zivilisation.

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Prof. Dr. Matthias Oppermann

Dr. Matthias Oppermann

Stv. Leiter Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Leiter Zeitgeschichte

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