SED/SPD-„Dialogpapier“: „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“
Die Veröffentlichung des Papiers ist ein spektakuläres Ereignis, v.a. für die Bürger der DDR. Das ansonsten ob seiner Langeweile wenig beliebte SED-Parteiblatt „Neues Deutschland“ ist im Handumdrehen ausverkauft. Die Bewertungen des Papiers gehen auseinander: Kritiker sprechen von Anbiederung an die DDR, Legitimierung und Stabilisierung der SED-Diktatur und Preisgabe des Ziels der deutschen Einheit; die Befürworter rechtfertigen das Dokument als Beitrag zum friedlichen Miteinander im Atomzeitalter, als Instrument der Differenzierung innerhalb der Staatspartei und Katalysator des demokratischen Umbruchs in der DDR. Tatsächlich ist es das Produkt falscher Prämissen und der Tendenz führender Sozialdemokraten, zentrale deutschlandpolitische Positionen aufzugeben.
Zeitgeschichtlicher Hintergrund: Endphase des Kalten Krieges, Machtwechsel und sozialdemokratische NebenauĂźenpolitik
Das Papier entsteht in der Endphase der Ost-West-Konfrontation. Die Jahre zwischen 1979 und 1985 sind zunächst geprägt von erneuter Konfrontation und wechselseitiger Aufrüstung. Auf die Aufstellung moderner SS 20-Raketen durch die Sowjetunion reagiert die NATO mit dem sog. „Doppelbeschluss“. Zunächst soll in Verhandlungen mit der UdSSR versucht werden, die Stationierung dieser Waffen rückgängig zu machen. Im Fall des Scheiterns werde die NATO mit der Aufstellung amerikanischer Pershing II- und Cruise-Missile-Raketen auch in der Bundesrepublik reagieren. Tatsächlich kommt es erst nach der Durchsetzung des Doppelbeschlusses und der Nachrüstung durch die neue Regierungskoalition unter Helmut Kohl zu erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen. Seit 1985 betreibt der neue sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow eine Politik der inneren Reformen und äußeren Entspannung. 1987 wird der INF-Vertrag über den Abbau aller landgestützten Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa unterzeichnet.
In dieser Zeit bemüht sich die jegliche Reformen ablehnende SED-Führung unter Erich Honecker verstärkt darum, eigene politische Akzente zu setzen und internationales Prestige zu gewinnen. Die SPD, seit dem Machtverlust im Oktober 1982 in der Opposition, ist tief verunsichert und auf der Suche nach Profilierungsmöglichkeiten. Die SPD/FDP-Koalition war nicht zuletzt deshalb zerbrochen, weil große Teile der SPD Bundeskanzler Helmut Schmidt in der Nachrüstungsfrage die Gefolgschaft verweigert hatten. Zudem fürchtet man – zu Unrecht, wie sich bald zeigt – es werde nach dem Regierungswechsel zu einer neuen Eiszeit im Verhältnis zur DDR kommen. Offizielle Gespräche mit der SED, die es seit Mai 1983 auf Anregung des Parteivorsitzenden Willy Brandt auf zahlreichen Ebenen regelmäßig gibt, sind somit Teil einer Art „Nebenaußenpolitik“, mit der man sich von der Regierungspolitik Helmut Kohls abzusetzen versucht. Bald gehört es „für die ´wahlkämpfenden´ SPD-Spitzenpolitiker zur ´Pflicht´, Erich Honecker einen Besuch abzustatten und sich mit ihm gemeinsam in den Medien zu präsentieren“ (Reißig). Gemeinsame Arbeitsgruppen formulieren Papiere zu sicherheitspolitischen Fragen, die präsentiert werden, als handle es sich um zwischenstaatliche Verträge und nicht um Parteipapiere. Im Rahmen dieser Parteikontakte treffen sich auch Vertreter der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, um über ideologische Streitfragen des Ost-West-Konflikts zu diskutieren.
Die Akteure
Die Zusammensetzung der insgesamt sieben Gesprächsrunden im Zeitraum von Februar 1984 bis April 1989 ist unterschiedlich. Leiter der SPD-Delegation ist der Vorsitzende der Grundwertekommission, Erhard Eppler. Neben ihm nehmen Klaus Mehrens, Burkhard Reichert und der Leiter der Gustav-Heinemann-Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Thomas Meyer, an allen Treffen teil. Weitere wichtige Mitglieder auf Seiten der SPD bei mehreren Sitzungen sind die bekannten Politologen Richard Löwenthal und Iring Fetscher, die Parteihistorikerin Susanne Miller sowie der ehemalige stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungsozialisten und spätere Präsident des Deutschen PEN-Zentrums, Johano Strasser.
Die SED-Delegation wird geleitet von Otto Reinhold, Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften (AfG) beim Zentralkomitee der SED. Außer ihm ist Erich Hahn, Leiter des Instituts für marxistisch-leninistische Philosophie der AfG, bei allen Treffen beteiligt. Beide gehören dem Zentralkomitee der SED an. Weitere Teilnehmer sind u.a. Rudi Weidig, Harald Neubert, Rolf Reißig und der spätere Vorsitzende der SED-Nachfolgepartei PDS, Lothar Bisky. Auf dem 4. Treffen im Februar 1986 in Freudenstadt wird der Beschluss gefasst, ein gemeinsames Positionspapier zu erarbeiten. Die Erstellung eines Textentwurfs übernehmen Rolf Reißig (SED) und Thomas Meyer (SPD). Das Dokument wird am 27. August 1987 auf parallelen Pressekonferenzen in Bonn und Ost-Berlin präsentiert.
„Friedenssicherung“ und „friedlicher Wettbewerb der Systeme“
Leitmotiv des Papiers, das sich „über weite Strecken keineswegs wie ein Manifest der Arbeiterbewegung, sondern wie das Erziehungsbrevier aus einer protestantischen Studienratsfamilie jener friedensbewegten Jahre“ liest (Walter), ist die Friedenssicherung, die „zur Grundvoraussetzung aller verantwortbaren Politik geworden“ sei. Diese sei nur gemeinsam zu erreichen, weshalb kein System das Ziel verfolgen dürfe, das jeweils andere abzuschaffen. Vielmehr müsse man „sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen“. Notwendig sei ein „friedlicher Wettbewerb der Gesellschaftssysteme“, durch den man, einhergehend mit einer „Verringerung der Rüstungen“, „den sozialen Fortschritt in beiden Systemen befördern und beschleunigen“ könne. Die fundamentalen Unterschiede zwischen SPD und SED hinsichtlich des Verständnisses von Demokratie, Menschenrechten und gesellschaftlichem Pluralismus werden zwar benannt, im Anschluss daran jedoch betont, „dass Kommunisten und Sozialdemokraten die Grundentscheidungen des jeweils anderen beachten (müssten), keine Feindbilder aufbauen, die Motive der anderen Seite nicht verdächtigen, deren Überzeugungen nicht absichtlich verzerren und ihre Repräsentanten nicht diffamieren“ dürften. Die Hoffnung sei darauf zu richten, „dass beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt. Koexistenz und gemeinsame Sicherheit gelten also ohne zeitliche Begrenzung.“ Man müsse einander „Entwicklungsfähigkeit und Reformfähigkeit“ zugestehen. Auch innerhalb der jeweiligen Systeme müsse eine „offene Diskussion“ möglich sein, was eine „umfassende Informiertheit“ der Bürger, nicht zuletzt durch „die Verbreitung von periodisch und nicht periodisch erscheinenden Zeitungen und gedruckten Veröffentlichungen aus den anderen Teilnehmerstaaten“ voraussetze. Letzteres erscheint als beachtliches Zugeständnis seitens der SED-Führung, an das diese sich – wie bald deutlich wird – jedoch keineswegs zu halten gedenkt. Die Frage der Wiedervereinigung ist in dem Papier über die genannte Feststellung hinaus, man werde „noch lange nebeneinander bestehen“, überhaupt nicht thematisiert. Es fehlt auch jeder Hinweis auf das Wiedervereinigungsgebot in der Präambel des Grundgesetzes.
Zeitgenössische Reaktionen: Kritik auch aus den eigenen Reihen
Die Reaktionen auf die Veröffentlichung sind gespalten. Die Notwendigkeit, im Interesse der Menschen mit den Machthabern in der DDR einen Dialog zu führen, wird nicht in Frage gestellt, wohl aber zentrale Aussagen des gemeinsamen Papiers. Die Kritik betrifft v. a. die in der Tat hochproblematische Relativierung des Gegensatzes von Demokratie und Diktatur. So erinnert die spätere Kandidatin der SPD für das Bundespräsidentenamt, Gesine Schwan, an den „Unvereinbarkeitsbeschluss“ der Partei von 1971, in dem der „Gegensatz von Rechtsstaatlichkeit und Willkür, von freiheitlicher Demokratie und Parteidiktatur, von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung“ hervorgehoben wird. Demgegenüber würden im SED/SPD-Papier das Freiheitsproblem nicht thematisiert, gegensätzliche Positionen als „gleichberechtigt präsentiert“ und von einem „grundlegenden Ansatz der formellen Gleichstellung beider Systeme“ ausgegangen. Die FAZ konstatiert, die SPD stelle Grundwerte in Frage und habe offenbar aus der Parteigeschichte nichts gelernt, als etwa in der Endphase der Weimarer Republik Sozialdemokraten von den Kommunisten als „Sozialfaschisten“ bekämpft worden seien. Bundeskanzler Helmut Kohl betrachtet das Papier als „erbärmliches Machwerk“ und lehnt die Parteigespräche zwischen SPD und SED uneingeschränkt und prinzipiell ab. Wegen des bevorstehenden Besuchs von SED-Generalsekretär Erich Honecker in der Bundesrepublik hält er sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück und überlässt es anderen führenden Politikern der Union, Stellung zu nehmen.
CDU-Generalsekretär Heiner Geißler benennt ein zentrales Problem des „Gemeinsamen Papiers“, nämlich die Verwischung der „grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem Menschenbild der freiheitlichen Demokratie und den Grundwerten der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität einerseits und der fundamental unterschiedlichen Werte- und Gesellschaftsordnung in der DDR andererseits“. Die SPD täte besser daran, gemeinsam mit der Bundesregierung am „Ziel der Einheit der Nation festzuhalten“. Andere Vertreter der Unionsparteien kritisieren das zum Ausdruck kommende Friedensverständnis und die Vernachlässigung von Freiheit und Menschenrechten als Voraussetzungen für einen menschenwürdigen Frieden. Auf genau diesen Zusammenhang weist Kohl in seiner auch in der DDR live ausgestrahlten Tischrede anlässlich des Honecker-Besuchs zwei Wochen nach der Veröffentlichung des Papiers eindringlich hin. Er betont zudem das Festhalten am Ziel der Wiedervereinigung, das durch die Präambel des Grundgesetzes Verfassungsrang besitzt. So macht er Honecker und der Öffentlichkeit diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs bei aller Bereitschaft zu Verhandlungen die fundamentalen Gegensätze zum SED-Regime deutlich.
Die Reaktionen regimekritischer Kreise in der DDR auf das Papier sind zwiespältig: Während Eppler von Vertretern der Evangelischen Kirchen Zustimmung und Zuspruch erfährt, sind viele Bürgerrechtler skeptisch, weil sie das Papier – mit Recht, wie sich bald zeigt – vor allem als Instrument der DDR-Auslandspropaganda betrachten und nicht als Beleg einer ernsthaften Dialog- und Veränderungsbereitschaft der SED.
Bilanz: Falsche Prämissen, Blauäugigkeit und enttäuschte Hoffnungen
Tatsächlich bestätigt sich der Verdacht, dass die SED-Führung das Papier lediglich propagandistisch auszuschlachten sucht, nicht aber als Ausgangspunkt eines offenen und kritischen Dialogs mit oppositionellen Kräften versteht. Die Hoffnungen, „über eine Streitkultur zwischen den beiden Systemen zu einer freien Diskussion innerhalb des kommunistischen Systems zu kommen“ (Eppler), erweisen sich als blauäugig. Gleiches gilt für die Annahme, das kommunistische System und die SED-Führung seien reformfähig. Tatsächlich begibt sich die SPD mit der wechselseitigen Bescheinigung der Reformfähigkeit unverständlicherweise auf Augenhöhe mit der SED, die in den Jahren zuvor keinerlei Reformbereitschaft hatte erkennen lassen. Die klare Abgrenzung gegenüber der diktatorischen Staatspartei fällt damit zusehends schwerer. Erhard Eppler räumt rückblickend selbstkritisch ein, man habe den Marxismus/Leninismus ernster genommen, als er es in den 1980er Jahren verdient habe. Zudem könne er heute die Kritik daran nachvollziehen, „dass wir den Kommunismus allen Ernstes für reformfähig gehalten haben“. Allerdings nimmt er für das Papier in Anspruch, dass sich in den Diskussionen darüber innerhalb der SED „zum ersten Mal deutlich die Reformer von den Betonköpfen geschieden“ hätten. Insofern habe es „seine Funktion für den Umbruch von 1989 gehabt“. Indes liegt dies seinerzeit erklärtermaßen gar nicht in der Absicht der Beteiligten, betrachten doch nicht wenige Sozialdemokraten die Erschütterung des Status quo als „den Gefahrenherd für die Auslösung eines Atomkriegs schlechthin“ (Walter). Die Ausgangsprämissen bezüglich der unabsehbaren Dauer des Ost-West-Konflikts, der Stabilität des Regimes in der DDR und der Reformfähigkeit des kommunistischen Systems erweisen sich jedoch als falsch. Das Papier, aber auch das Verhalten führender Sozialdemokraten in den Jahren danach zeigen zudem eine deutschlandpolitische Fixierung auf die SED, die deren Machterosion und die wachsenden oppositionellen Kräfte in der DDR kaum zur Kenntnis nimmt bzw. mit Misstrauen betrachtet. So erklärt Horst Ehmke, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, noch im Oktober 1989, dass der Beweis der Reformunfähigkeit des DDR-Systems „noch nicht erbracht“ sei. Offensichtlich waren führende Sozialdemokraten „in den achtziger Jahren in Gefahr, ihre politischen Wünsche mit der Wirklichkeit zu verwechseln“ (Winkler).
Letztlich ist das SED/SPD-Papier Ausdruck einer nach dem Machtverlust von 1982 um sich greifenden Entwicklung in großen Teilen der SPD: Deutschlandpolitische Positionen, bei denen man sich jahrzehntelang über die Parteigrenzen hinweg einig gewesen war, werden nun zunehmend in Frage gestellt. Dies betrifft u.a. die Anerkennung einer eigenen Staatsbürgerschaft der DDR oder die Auflösung der Zentralen Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter, aber eben auch die grundsätzliche Infragestellung des in der Präambel des Grundgesetzes formulierten Wiedervereinigungsgebots. Ende der 1980er Jahre streichen Lafontaine, Johannes Rau und weitere SPD-Ministerpräsidenten die jährlichen Zuschüsse ihrer Länder an die Erfassungsstelle. Für den späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder ist es damals „selbstverständlich, die DDR-Staatsbürgerschaft zu respektieren“. Damit machen sich führende Sozialdemokraten zentrale Forderungen der SED zu eigen, deren Erfüllung es stark erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht hätte, die historische Chance zur Wiederherstellung der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit zu nutzen, die sich kurz darauf bietet.
Den problematischsten Aspekt des 1987 vorgestellten „Dialogpapiers“, der zugleich den zentralen Unterschied zur Politik der CDU-geführten Bundesregierung gegenüber dem SED-Regime markiert, benennt der Historiker Heinrich August Winkler: „Die SPD ging über die Anerkennung der staatlichen Existenz der DDR hinaus, wenn sie die Existenzberechtigung des Gesellschaftssystems der DDR ausdrücklich bestätigte.“ Damit habe die Partei eine Abkehr von der grundsätzlichen Ablehnung des Systems vollzogen, „das nicht aufgehört hatte, eine Diktatur zu sein“.
Literatur
- Erhard Eppler: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik. Frankfurt a. M. 1996, S. 173–190.
- Jörg-Dieter Gauger: Das „Friedenspapier“ von SPD und SED – Zur Analyse eines „historischen Dokuments“. In: Eichholzbrief 1/88, S,. 59–65.
- Helmut Kohl: Erinnerungen 1982–1990. München 2005.
- Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Mit einem Nachwort von Erhard Eppler. Frankfurt a. M. 2002 (darin auch der Wortlaut des Dokuments).
- Gesine Schwan: „Ein Januskopf – Gefahren und Chancen. In: FAZ v. 23.9.1987.
- Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006.
- Franz Walter: Wie SPD und SED die DDR destabilisierten. In: Der SPIEGEL v. 26. August 2007.
- Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen 2. Band: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung. München 2000, S. 452–462.