Innenpolitische Diskussion um die Westbindung
Aus der Rückschau scheint Konrad Adenauers Politik der Westbindung vor dem Hintergrund von Besatzungsherrschaft, Demilitarisierung, Kaltem Krieg und der Teilung Deutschlands geradezu alternativlos gewesen zu sein. Tatsächlich war die Westbindung jedoch innenpolitisch – und auch innerhalb der Union – überaus umstritten.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit hegten viele Deutsche die Hoffnung, dass die deutsche und europäische Teilung bald wieder überwunden werden könne. So gesehen schien die Westbindung das Risiko zu bergen, den Weg zur Wiedervereinigung zu erschweren. Nicht nur parteipolitische Gegner Adenauers, sondern auch einige Unionsmitglieder befürworteten daher einen neutralen Kurs Deutschlands zwischen den Blöcken.
Adenauer jedoch hatte früher als viele andere Politiker die kommende Spaltung Europas und den Expansionswillen der Sowjetunion erkannt. Er ging davon aus, dass eine Neutralisierung unweigerlich zur Sowjetisierung Deutschlands führen würde. Dem bedingungslos antikommunistischen Adenauer ging es darum, die gerade wiedergewonnene Freiheit und Demokratie in West-Deutschland durch seine Einbindung in die westliche Wertewelt zu sichern. Zum einen verfolgte er mit seiner Westbindungspolitik das Ziel, Schutz – insbesondere durch die USA – vor der UdSSR zu erhalten. Zum anderen wollte er damit dem Misstrauen entgegenwirken, das vor allem Frankreich und Belgien Deutschland nach den Erfahrungen aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs entgegenbrachten. Die wirtschaftliche, politische und militärische Westintegration bot dabei für die westlichen Staaten die Möglichkeit, den ehemaligen Kriegsgegner zu kontrollieren. Die Bundesrepublik wiederum erhielt die Chance, über den Vertrauensgewinn, der sich durch diesen partiellen Souveränitätsverzicht auf europäischer Ebene ergab, Teil der internationalen Gemeinschaft zu werden, schrittweise Souveränität auf nationaler Ebene zurückzuerlangen, den wirtschaftlichen Wiederaufbau voranzutreiben und die freiheitlich-demokratischen Strukturen und Werte zu festigen.
Adenauers Politik der Westbindung ruhte dabei auf zwei Pfeilern: der europäischen Integration, deren Herzstück die deutsch-französische Aussöhnung bildete, und der transatlantischen Zusammenarbeit, durch die der amerikanische Schutz vor der Sowjetunion sichergestellt wurde. Eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West, die eine Tendenz deutscher Außenpolitik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gewesen war, verbot sich angesichts des Misstrauens, den diese bei den westlichen Partnern hervorrufen musste.
Westintegration und Wiedervereinigung schlossen sich für Adenauer dabei keinesfalls aus. Die Integration in den Westen sah er vielmehr als Voraussetzung für die Einheit an: Nur ein freier, starker, geeinter Westen werde letztlich zu einem Zusammenbruch des Ostblocks und der Möglichkeit der deutschen Einheit führen.
Schritt für Schritt zu Sicherheit und Souveränität
Bereits Ende 1949 signalisierte der Bundeskanzler seine Bereitschaft, deutsche Kontingente in einer europäischen Armee bereitzustellen. Dafür waren zum einen Sicherheitsgründe ausschlaggebend, denn schließlich konnte Adenauer die Sicherheitsgarantie der Westmächte für die Bundesrepublik nicht für alle Zeiten als selbstverständlich annehmen. Deshalb bot er einen deutschen Verteidigungsbeitrag an. Zum anderen ging er davon aus, dass die Bundesrepublik ohne eigene Armee keine vollständige Souveränität erlangen und kein gleichwertiges Mitglied der Staatengemeinschaft werden könne.
Auf dem CDU-Bundesparteitag in Berlin im Oktober 1952 fasste Adenauer seine Auffassung zusammen: „Deutschland ist um seiner Existenz willen absolut darauf angewiesen, aus seiner Isolierung und Wehrlosigkeit herauszukommen. Wir Deutsche gehören aus weltanschaulichen und kulturellen Gründen und aus unserer ganzen Lebensauffassung heraus zum Westen. Und nur durch den Anschluß an den Westen kann unsere Isolierung und Wehrlosigkeit ein Ende finden.“
Traf Adenauers Vorstoß anfangs noch in weiten Kreisen auf Skepsis, wirkte der Koreakrieg vom Sommer 1950 an als Katalysator für die westdeutsche Wiederbewaffnung. Diese wurde zunächst im europäischen Rahmen angedacht. Die geplante Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sah eine Aufstellung westdeutscher Truppenkontingente unter europäischer Führung vor. Auf Drängen Bonns wurde zugleich der auch Generalvertrag genannte Deutschlandvertrag ausgearbeitet, der die Ablösung des Besatzungsstatuts und weitgehende Souveränität für die Bundesrepublik vorsah.
Nach zähem Ringen wurden schließlich am 26./27. Mai 1952 in Paris der EVG-Vertrag und der Deutschlandvertrag unterzeichnet, die ein Jahr später im Deutschen Bundestag ratifiziert wurden. Der am 17. Juni 1953 blutig niedergeschlagene Volksaufstand in der DDR wirkte schließlich wie eine moralische Rechtfertigung für die Westbindungspolitik. Zusammen mit der medienwirksam inszenierten USA-Reise Adenauers trug dies neben anderen Faktoren maßgeblich zu seinem grandiosem Wahlsieg im Jahr 1953 bei der als Plebiszit für Adenauers Westkurs gewertet werden kann. Von diesem Zeitpunkt an stießen alternative außenpolitische Konzepte auf keine breite Akzeptanz in der Bundesrepublik mehr.
Umso herber war die Nachricht vom Scheitern des EVG-Vertrags in der französischen Nationalversammlung am 30. August 1954. Adenauer bezeichnete diesen Tag in seinen Erinnerungen als „[s]chwarze[n] Tag für Europa“, auf den weitere „qualvolle Tage“ folgten. Kurz darauf schlug der britische Außenminister Anthony Eden mit amerikanischer Zustimmung die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO vor. Zudem sollte der Brüsseler Pakt – ein Militärbündnis, das 1948 von Frankreich, Großbritannien und den Benelux-Staaten sowohl gegen eine deutsche als auch gegen eine sowjetische Aggression geschlossen worden war – um Deutschland erweitert und in die Westeuropäische Union (WEU) umgewandelt werden. Adenauer stimmte diesem Plan sofort zu, äußerte aber auch seine Hoffnung auf die Fortsetzung der europäischen Integration zu einem späteren Zeitpunkt.
Vom 20. bis 23. Oktober 1954 kamen daraufhin in Paris die damaligen NATO-Mitglieder und die Bundesrepublik zu einer „Monsterveranstaltung von vier ineinander verschachtelten Konferenzen“ (Hans-Peter Schwarz) zusammen. Mit den NATO-Mitgliedern verhandelte die Bundesregierung über die Aufnahme der Bundesrepublik in die Atlantische Allianz; die Mitglieder des Brüsseler Pakts beschlossen dessen Erweiterung zur WEU um die Bundesrepublik und Italien; die drei westlichen Besatzungsmächte und die Bundesrepublik diskutierten über eine Modifizierung des Deutschlandvertrags; in bilateralen Gesprächen mit Frankreich wurden unter anderem eine Lösung für das Saarproblem sowie Fragen der wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit erörtert.
Obwohl die Pariser Verträge Ergebnis eines nur zweimonatigen Krisenmanagements waren, stellten sie eine deutliche Verbesserung gegenüber den ursprünglichen Plänen zur Wiederbewaffnung und zur Ausweitung der Selbständigkeit der Bundesrepublik dar. So wurde im modifizierten Deutschlandvertrag, der das Besatzungsstatut aufhob, beispielsweise die erstrebte Souveränität nun explizit erwähnt, indem der Bundesrepublik die „volle Macht eines souveränen Staates“ zugesprochen wurde. Dies geschah allerdings mit der Einschränkung, dass unter anderem die alliierten Vorbehaltsrechte für Deutschland als Ganzes bis zur Vereinigung fortbestehen sollten. Die Bundesrepublik verpflichtete sich darüber hinaus dazu, die Wiedervereinigung nur gewaltfrei anzustreben. Die westlichen Alliierten erklärten ihrerseits ihre Absicht , sich weiterhin für das Ziel der deutschen Einheit einzusetzen.
Das Pariser Vertragswerk enthielt außerdem verschiedene Verträge, um den Übergang vom besetzten Land zum gleichberechtigten Mitglied des kollektiven Sicherheitssystems der NATO zu regeln. Um die französische Furcht vor einem wiederbewaffneten deutschen Nachbarn zu zerstreuen, verzichtete die Bundesrepublik auf die Produktion von ABC-Waffen auf deutschem Boden. Außerdem verpflichteten sich Großbritannien und die USA, Truppen in Europa zu belassen.
Geschickt hatte der Bundeskanzler bedeutende Parlamentarier der oppositionellen SPD – Erich Ollenhauer, Herbert Wehner, Carlo Schmid und Karl Mommer – nach Paris mitgenommen, die ernüchtert die Realität der ineinander verzahnten Konferenzen wahrnehmen und vor allem bei der Saarfrage die Grenzen des Möglichen erkennen mussten. Dennoch lehnte ein Großteil der SPD die Pariser Verträge ab, da die Sozialdemokraten bis 1959/60 einen bündnisfreien Status für die Bundesrepublik bevorzugten. Innerhalb der CDU/CSU befürchteten die Anhänger eines westeuropäischen Verteidigungsbündnisses, dass die NATO-Lösung kein gleichwertiger Ersatz für solch eine Allianz sein werde.
Bedeutung der Pariser Verträge
Adenauer verkündete vor dem CDU-Bundesvorstand am 11. Oktober 1954: „Für uns Deutsche insgesamt ist die neue Organisation viel besser, als es die EVG gewesen ist.“ Die Bundesrepublik sei nun direkt NATO-Mitglied und somit an deren Entscheidungen beteiligt, außerdem schließe die NATO-Lösung den Schutz durch die USA und Großbritannien mit ein. „Wir haben das Besatzungsregime nicht mehr. Wir sind wieder ein freies Volk. […] Wir können dann mit Fug und Recht behaupten, daß wir wieder eine Großmacht geworden sind.“ Schon jetzt kündigte Adenauer an, was er bald nach Inkrafttreten der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 auch umsetzen sollte: Die souveräne Bundesrepublik könne nun diplomatische Beziehungen mit Moskau aufnehmen – ein wichtiger Schritt, um deutschlandpolitische Fragen selbst voranzutreiben.
Die alliierten Vorbehaltsrechte bestanden trotz der gewachsenen deutschlandpolitischen Bewegungsfreiheit jedoch fort. Sie bildeten bis zur Wiedervereinigung 1990 eine wichtige völkerrechtliche Voraussetzung für den Fortbestand Deutschlands als Ganzes. Von diesen Einschränkungen abgesehen betrachteten die westlichen Alliierten die Bundesrepublik Deutschland de facto als politisch gleichberechtigtes Mitglied im westlichen Bündnis. De jure war die Bundesrepublik jedoch zwischen 1955 und dem formellen Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 15. März 1991 ein Staat mit beschränkter Souveränität.
Die Pariser Verträge waren umstritten und Adenauers Abkehr von der traditionellen Schaukelpolitik sowie sein völlig neuer außenpolitischer Entwurf der Westbindung wurden als „revolutionär“ (Klaus Hildebrand) beschrieben. Gleichwohl war Adenauer trotz aller innenpolitischen und innerparteilichen Auseinandersetzungen nicht der einzige Vorkämpfer der Westintegration. Es ist aber maßgeblich seiner Entschlossenheit zu verdanken, dass sich ein prowestlicher, antikommunistischer Konsens herausbildete, der ein wesentliches Merkmal der Stabilität der westdeutschen Demokratie darstellte.
Quellen:
- Dokumente zur Deutschlandpolitik (DzD). II. Reihe/Bd. 4. Die Außenminister-Konferenzen von Brüssel, London und Paris, 8. August bis 23. Oktober 1954, hg. vom Bundesministerium des Innern/Bundesarchiv, bearb. von Hanns Jürgen Küsters. München 2003.
Literatur:
- Granieri, Ronald J.: The Ambivalent Alliance. Konrad Adenauer, the CDU/CSU, and the West, 1949–1966. New York/Oxford 2003.
- Kißener, Michael: Westbindung. Die politische Koordinatenverschiebung, in: Andreas Rödder/Wolfgang Elz (Hg.): Deutschland in der Welt. Weichenstellungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Göttingen 2010, S. 13–27.
- Küsters, Hanns Jürgen: Die Pariser Verträge, 23. Oktober 1954, in: 100(0) Schlüsseldokumente zu deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Online: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0018_par&l=de
- Lappenküper, Ulrich: Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“ I: 1949–1958. München 2001
- Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967. Stuttgart 1991.
Externer Link: Pariser Verträge