Der Überraschungscoup: Vorgezogene Neuwahlen
Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering überrascht während eines Fernsehauftrittes am Abend des 22. Mai 2005 nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen mit der Ankündigung, die für den Herbst 2006 angesetzten Bundestagswahlen auf den Herbst 2005 vorziehen zu wollen. „Wir suchen die Entscheidung“, verkündet er und kommt damit dem politischen Gegner in der Forderung nach Neuwahlen zuvor, die nach dem desaströsen Ergebnis der SPD in Nordrhein-Westfalen für die Opposition im Bund nun unausweichlich scheinen.
Mit der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen muss die SPD nach knapp 40 Jahren ihr „Stammland“ an eine Koalition aus CDU und FDP abtreten und sieht sich nun im Bundesrat einer Zweidrittel-Oppositionsmehrheit gegenüber. Der Regierungsverlust im größten deutschen Bundesland ist aber nur der vorgeschobene Grund für die Forderung nach Neuwahlen. Neben der möglichen Blockade im Bundesrat – zustande gekommen durch eine Folge von verlorenen Landtagswahlen der SPD – droht der Bundesregierung zudem aus den eigenen Reihen eine Blockade der weiteren Reformvorhaben, insbesondere aus dem linken Lager der SPD. Die knappe Mehrheit der Bundesregierung im Bundestag macht ein solches Vorgehen sehr wahrscheinlich, und Bundeskanzler Gerhard Schröder will mit den vorgezogenen Wahlen einen „Kanzlersturz“ nach Art seiner Vorgänger Willy Brandt und Helmut Schmidt vermeiden.
Am 1. Juli 2005 stellt Schröder deshalb im Bundestag die Vertrauensfrage mit der Absicht, den Bundestag aufzulösen und den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Dieses Vorgehen wurde in der Geschichte der Bundesrepublik bislang nur zweimal angewendet: 1972 von Willy Brandt und 1982 von Helmut Kohl, der nach dem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt seine Regierung durch Neuwahlen legitimieren lassen wollte. 2005 erklärt Schröder seine Vertrauensfrage damit, dass es „negative Auswirkungen für die Handlungsfähigkeit im parlamentarischen Raum“ (Plenarprotokoll 15/185) geben würde. Gegen diese Begründung werden verfassungsrechtliche Bedenken vorgebracht; Bundespräsident Horst Köhler prüft die Begründung Schröders zur Abhaltung von Neuwahlen intensiv und entscheidet erst am 21. Juli die Festsetzung von Neuwahlen auf den 18. September 2005.
„Ich will Deutschland dienen“ – Nominierung zur Kanzlerkandidatin
Die überraschende Ankündigung von Neuwahlen zwingt die Unionsparteien zu schnellem Handeln bei der Nominierung eines gemeinsamen Kanzlerkandidaten. Eigentlich hätte diese Ernennung erst ein halbes Jahr später – ein Jahr vor dem regulären Termin der Bundestagswahlen – stattfinden sollen. In diesem Fall hätte die Schwesterpartei CSU bei einer Einigung auf einen CDU-Kandidaten noch politische Zusagen herausschlagen können. In der Kürze der Zeit ist dies nicht mehr möglich, bereits zwei Tage nach Ankündigung der Neuwahlen ruft das CDU-Präsidium Angela Merkel, Parteivorsitzende und Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, als Kanzlerkandidatin aus. In Absprache mit der CSU erfolgt die offizielle Nominierung erst in der darauffolgenden Woche. Nach der gemeinsamen Sitzung der Präsidien von CDU und CSU ist es Edmund Stoiber, der am 30. Mai Angela Merkel zunächst hinter verschlossenen Türen vorschlägt und sie anschließend der Presse offiziell als gemeinsame Kanzlerkandidatin der Union vorstellt. Neben ihm steht die frisch gekürte Kandidatin, die am Ende ihrer Rede ankündigt: „Ich will Deutschland dienen.“
Die Nominierung zur Kanzlerkandidatin stellt den Höhepunkt in der bisherigen politischen Karriere Angela Merkels dar. In die aktive Politik gelangte sie im Herbst 1989 durch den Beitritt in den Demokratischen Aufbruch, wurde Pressesprecherin Lothar de Maizières und trat nach der Wiedervereinigung schließlich der CDU bei. Neben ersten Schritten in der Bundespolitik als Ministerin in den beiden Kabinetten Kohls nach der Wiedervereinigung übernahm sie auch verantwortliche Posten im Parteiapparat. Bereits 1991 löste Merkel auf dem Dresdner Parteitag de Maizière als stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU ab. Auf Landesebene konnte sich Merkel 1993 eine Machtposition durch die Übernahme des Amts der Landesvorsitzenden von Mecklenburg-Vorpommern sichern. Nachdem die Union 1998 den Gang in die Opposition antreten musste, erlangte Merkel im Zuge der personellen Neuaufstellung im November 1998 das Amt der CDU-Generalsekretärin. Während der Parteispendenaffäre veröffentlichte Merkel im Dezember 1999 einen Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen“, in dem sie ihre eigene Partei aufforderte, sich von Kohl zu emanzipieren und einen Neuanfang zu wagen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass auch Wolfgang Schäuble durch die weiteren Enthüllungen in der Spendenaffäre als Partei- und Fraktionsvorsitzender nicht mehr zu halten war. Auf dem Essener Parteitag am 10. April 2000 wurde Merkel schließlich zur Nachfolgerin Schäubles als Parteivorsitzende gewählt, den Fraktionsvorsitz erlangte sie nach den verlorenen Bundestagswahlen 2002. Mit der Vereinigung beider Ämter in einer Person hatte Angela Merkel ihre innerparteiliche Machtposition derart verstärkt und gefestigt, dass sie für die Nominierung zur Kanzlerkandidatin die erste Wahl war.
Blitzwahlkampf und ein ernüchterndes Wahlergebnis
Die Ausgangslage der Union zu Beginn des Wahlkampfs scheint recht komfortabel, weisen Umfragen der verschiedenen Institute doch auf einen deutlichen Sieg von CDU und CSU hin, sogar die absolute Mehrheit deutet sich zwischenzeitlich ab. Aus dieser Position der „gefühlten“ Regierungspartei heraus konzentriert sich die Union nicht wie für Oppositionsparteien normalerweise üblich auf eine Angriffslinie gegen die Bundesregierung, sondern setzt stattdessen auf eine „reality campaign“ zu den Hauptthemen Arbeit und Wachstum. Mit dieser „‚Ehrlichkeitsstrategie’ setzt die Union somit auf Vertrauenswürdigkeit und Sachkompetenz als zentrale Imagekomponenten“ (Oskar Niedermayer: Wahlkampf).
Diese „Ehrlichkeitsstrategie“ setzen CDU und CSU in ihrem „Regierungsprogramm“ weiter um und kündigen darin Mehrbelastungen für die Bürger wie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und Einschränkungen im Kündigungsschutz an. Für die SPD bietet dieses Programm die willkommene Gelegenheit, ihren Wahlkampf auf Angriff zu schalten und die Vorhaben der Union als „sozialen Kahlschlag“ anzuprangern. In den Umfragen können die Sozialdemokraten den Rückstand zu CDU und CSU mit der Zeit verringern. Diese Trendwende abwenden soll die Vorstellung des Kompetenzteams Angela Merkels am 17. August, in dem unter anderem der Verfassungs- und Steuerrechtler und ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof vertreten ist. Der Überraschungsgriff führt allerdings zu einer weitergehenden Verschärfung des Wahlkampfes, da der „Professor aus Heidelberg“, wie ihn Gerhard Schröder auf Wahlkampfveranstaltungen abfällig nennt, die „Ehrlichkeitsstrategie“ der Union ausreizt und unter anderem eine weitgehende Steuerreform in Aussicht stellt.
Der Union gelingt es letztlich nicht, ihren klaren Vorsprung in den Umfragewerten bis zum Ende des Wahlkampfs aufrechtzuerhalten. Am 18. September erreichen CDU und CSU zusammen nur 35,2 Prozent und liegen damit deutlich hinter den erwarteten Ergebnissen und nur knapp vor den Sozialdemokraten mit 34,2 Prozent. Dennoch: Als stärkste Fraktion hat die Union Anspruch auf das Kanzleramt. Durch ihre Wahl zur Fraktionsvorsitzenden am Tag nach den Bundestagswahlen unterstreicht Angela Merkel diesen Anspruch.
Der Weg zur Kanzlerschaft – Zähe Koalitionsverhandlungen
Die Ergebnisse der Bundestagswahlen machen Wunschkoalitionen nicht möglich; weder Rot-Grün kann fortgeführt werden, noch ist eine Koalition aus Union und FDP möglich. Ein Bündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei steht nicht zur Debatte, eine sogenannte „Jamaika-Koalition“ aus Union, FDP und Grünen taucht nur kurz in den Bündnisspekulationen auf. Letztlich treten CDU/CSU und SPD in Verhandlungen über die Bildung einer Großen Koalition ein, eine Konstellation, die sich keine der drei Parteien im Vorfeld der Wahlen gewünscht hat.
Bereits zu Beginn der Gespräche tritt die Frage in den Vordergrund, welche der Parteien den Kanzler beziehungsweise die Kanzlerin stellen wird. Die Hoffnung einiger Sozialdemokraten, die potentiellen „Erben“ Angela Merkels, wie der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff oder der hessische Ministerpräsident Roland Koch, würden einen Sturz Merkels anstreben und damit die CDU mit innerparteilichen Querelen beschäftigen, geht nicht auf. Die Geschlossenheit der Union hinter ihrer Kandidatin bleibt nach außen hin ungebrochen.
Am 10. Oktober setzt sich Merkel in einer weiteren Verhandlungsrunde schließlich durch und soll als erste Frau zur Bundeskanzlerin einer Großen Koalition gewählt werden. Dafür erhält die SPD acht Ministerien, darunter mit Auswärtiges, Finanzen und Justiz drei der sogenannten klassischen Ministerien. So entsteht in einigen Kreisen der Union der Eindruck, die Partei habe einen zu hohen Preis für die Wahl Merkels bezahlt. Allerdings sind unter den sieben unionsgeführten Bundesministerien diejenigen, die wichtige Zukunftsthemen repräsentieren, wie Bildungspolitik, Familienpolitik oder Forschungs- und Technologiepolitik, was wiederum in der SPD für einigen Unmut sorgt.
Eine weitere Stärkung ihrer Position in den laufenden Koalitionsverhandlungen erfährt Merkel Anfang November durch den Rücktritt des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering und der Ankündigung Edmund Stoibers, nicht mehr im künftigen Bundeskabinett vertreten sein zu wollen. Ein Chaos nach den Personalwirren bleibt aber aus und die Verhandlungen werden zügig fortgesetzt, sodass Mitte November der Koalitionsvertrag vorliegt.
Trotz innerparteilichen Widerstandes – vor allem aus den Reihen des Wirtschaftsflügels der CDU – bestätigt der Kleine CDU-Parteitag am 15. November den ausgehandelten Koalitionsvertrag mit großer Mehrheit und kann somit fünf Tage später von CDU/CSU und SPD unterzeichnet werden.
Am 22. November 2005 wird Angela Merkel schließlich zur Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Mit 64,9 Prozent der Stimmen erreicht sie das zweitbeste Ergebnis bei einer Wahl zum Bundeskanzler nach 1949; nur Kurt Georg Kiesinger, der erste Bundeskanzler einer Großen Koalition, erhielt im Dezember 1966 mehr Stimmen.
Seit nunmehr zehn Jahren führt Merkel die Geschicke des Landes als Bundeskanzlerin, von 2009 bis 2013 mit einer schwarz-gelben, seit 2013 wieder mit einer großen Koalition.