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Christliches Menschenbild
von Arnd Küppers
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Kern des christlichen Menschenbildes ist die bedingungslose Zuschreibung personaler Würde an jeden Menschen. Bedingungslos heißt, dass die Menschenwürde sich aus dem bloßen Menschsein ergibt, also unabhängig ist von kontingenten Merkmalen und Eigenschaften wie Lebensalter, Gesundheitszustand, sozialem Status oder geistigen bzw. physischen Fähigkeiten.
Aus der Anerkennung der Menschenwürde ergibt sich das Verständnis des Menschen als autonomes, moralisches Subjekt, das sich Ziele setzen, zwischen Gut und Böse unterscheiden und dementsprechend handeln kann. Daran wiederum knüpfen die Anerkennung der Gewissensfreiheit und des Selbstbestimmungsrechts des Menschen an, zugleich aber auch die Zuschreibung personaler Verantwortung für menschliches Handeln und Unterlassen.
Als politischer Grundwert ist das christliche Menschenbild verknüpft mit dem sozialethischen Prinzip der Personalität. Demnach sind die Achtung der Menschenwürde und der personalen Freiheit die zentralen Maßstäbe der Gestaltung sozialer Ordnung. Das heißt, alle politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und gesellschaftlichen Institutionen, Strukturen, Prozesse und Regelsysteme stehen unter dem ethischen Anspruch, der personalen Entfaltung des Menschen zu dienen.
Ideengeschichtliche Wurzel und Kern
Seine ideengeschichtliche Wurzel hat das christliche Menschenbild im alttestamentlichen Schöpfungsglauben, genauer gesagt, in dem Theologumenon von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, das im ersten Buch Mose in folgenden Worten seinen Ursprung hat: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie“ (Genesis 1,27). Weil diese Worte aus der hebräischen Bibel stammen, wird auch von einem jüdisch-christlichen Menschenbild gesprochen.
Dieser Schöpfungsglaube steht im scharfen Kontrast zu der in der griechisch-römischen Antike dominanten hellenistischen Gedankenwelt. Das betrifft nicht nur die Anthropologie, sondern auch Theologie und Kosmologie. Die griechische Philosophie vertritt ein dualistisches Weltbild, in der die einem ständigen Wandel unterworfene Welt mehr Nicht-Sein als Sein ist. Das eigentlich Wahre ist demgegenüber das, was die Sinnenwelt übersteigt, was unwandelbar und ewig ist. Gott beziehungsweise das Göttliche ist in diesem Denken ein ewiges Seinsprinzip: das „unbewegt Bewegende“ (Aristoteles).
Diesem Dualismus im hellenistischen Weltbild entspricht ein dualistisches Menschenbild. Im Menschen spiegelt sich die Dualität von ewigem Sein und wandelbarer Erscheinung wider: er wird geteilt in seine unsterbliche Seele und seinen vergänglichen Körper. Die Seele entstammt der Sphäre des Geistigen und damit der eigentlichen Wirklichkeit, der Körper gehört zur Welt des Scheins. Literarisch verewigt ist diese Weltsicht in Platons (427–347) Phaidon. Dort sagt der auf seine Hinrichtung wartende Sokrates, dass der Tod nichts Anderes sei als die Befreiung der Seele aus dem Gefängnis des Körpers.
Der Schöpfungsglauben stellt dieses hellenistische Weltbild auf den Kopf, denn dadurch wird die tatsächliche Welt mit ihrem ständigen Wechsel von Werden und Vergehen zum Eigentlichen. Hier ist das Individuelle die primäre Wirklichkeit, die substantia prima. Das Allgemeine, die Begriffe, hingegen sind davon bloß abgeleitete Abstraktionen; sie sind substantia secunda. Gott selbst erscheint in diesem Glauben nicht mehr als bloßes kosmisches Seinsprinzip, sondern als Person, und die Schöpfung ist sein freier Willensakt. Der Mensch, von Gott als sein Ebenbild geschaffen, ist in diesem Schöpfungswerk gleichsam der Schlussstein, auch er ist Person und als solche mit einer unvergleichlichen Würde ausgestattet.
Das Christentum geht über diesen Schöpfungsglauben dann noch hinaus in dem einzigartigen Bekenntnis, dass Gott in Jesus Christus selbst Mensch geworden ist, dass Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich geboren wurde, dass er eine menschliche Mutter hatte, dass er als Mensch gelebt und gelitten hat und dass er schließlich am Kreuz gestorben ist. Dieser Glaube begründet die kulturgeschichtlich wirkmächtige christliche Überzeugung von der Heiligkeit des menschlichen Lebens und zwar jedes menschlichen Lebens, insbesondere auch des Lebens der Schwachen, Armen und Kranken sowie auch derer, die als noch Ungeborene oder als Sterbende an den beiden Schwellen des Lebens stehen. Nicht weniger als diese anspruchsvolle Grundhaltung kommt in der Rede vom christlichen Menschenbild zum Ausdruck.
Soziale und politische Implikationen
Im historischen Rückblick muss man feststellen, dass die ethischen Implikationen des christlichen Menschenbildes in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht über weite Strecken der christlich-abendländischen Geschichte nur sehr unvollkommen zum Tragen gekommen sind. Menschenrechte wie die Religions- und Meinungsfreiheit sind von den Kirchen anfänglich sogar bekämpft worden.
Gleichwohl sind schon in der frühen Geschichte des Christentums signifikante soziale Auswirkungen festzustellen. Das betrifft beispielsweise den Bereich der Diakonie. Weder im antiken Griechenland noch in Rom galt es als moralische oder religiöse Pflicht, Notleidenden zu helfen. Schon in den ersten christlichen Gemeinden hingegen hatte die Fürsorge für Arme und Notleidende eine wesentliche Bedeutung. Bereits Tertullian (ca. 160 – nach 220) berichtet, dass diese diakonische Praxis bei den Zeitgenossen viel Aufmerksamkeit erregte und den Gemeinden, selbst in den wiederkehrenden Phasen der Verfolgung, immer mehr Taufbewerberinnen und -bewerber bescherte. Nachdem das Christentum im 4. Jahrhundert zur herrschenden Religion geworden war, wurde die Diakonie zunehmend institutionalisiert. Es entstanden die ersten öffentlichen Krankenhäuser, etwa in Caesarea auf Veranlassung von Bischof Basilius dem Großen (ca. 330 – 379). Später widmeten sich vor allem die Klöster der Armen- und Krankenfürsorge. In den Synoden von Aachen (816–819), die sich mit der Ordnung der geistlichen Gemeinschaften im Fränkischen Reich beschäftigten, wurde bestimmt, dass jedes Kloster und Kanonikerstift ein Hospital unterhalten sollte.
Jedoch erst in der frühen Neuzeit entwickelte sich ein Humanitätsideal, aus dem auch genuin politische Forderungen abgeleitet wurden. Das zeigt sich in ersten Anfängen seit dem 16. Jahrhundert in wachsender Kritik an der Folter oder an dem Protest spanischer Spätscholastiker gegen die Entrechtung der Indigenen im Rahmen der Conquista. Ein weiteres Beispiel sind die Überlegungen zur Humanisierung des Kriegsrechts im 17. Jahrhundert. Ihren endgültigen Durchbruch erlebten diese Ideen dann im 18. Jahrhundert in den Erklärungen universaler Menschenrechte.
Anfangs war dieser neuzeitliche Humanitätsdiskurs noch stark durch biblisch-christliche Motive geprägt, aber vor allem die Aufklärungsphilosophen legten Wert auf eine explizit nicht-religiöse Begründung der Freiheits- und Menschenrechte. Diese Abgrenzung hatte auch damit zu tun, dass die Kirchen in den machtpolitischen Auseinandersetzungen des 18. und 19. Jahrhunderts in Europa ihre eigenen Pfründe zu sichern versuchten und deshalb meist auf der Seite der Verteidiger der überkommenen Ordnung standen. Ganz anders war die Situation in Nordamerika, wo die Aufklärung zu einem Gutteil von den Kanzeln herab verkündet wurde.
In Europa rezipierte im 19. Jahrhundert zunächst die liberale Theologie innerhalb des Protestantismus die modernen Humanitäts- und Menschenrechtsideen – eine Entwicklung, die im Bereich des Katholizismus mit der kirchenamtlichen Durchsetzung eines dezidierten Antimodernismus zunächst verhindert wurde. Das änderte sich erst in den Auseinandersetzungen mit den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts. Der „christliche Personalismus“, eine Bewegung von Theologen, Philosophen und politischen Aktivisten, trat der Menschenverachtung der totalitären Regime entgegen und propagierte eine explizit christliche Begründung der Menschenwürde und der Menschenrechte. Der wichtigste Vertreter des christlichen Personalismus, der französische Philosoph Jacques Maritain (1882–1973), legte 1936 in seinem Buch Humanisme intégral den Entwurf eines dezidiert christlichen Humanismus vor, dessen grundlegendes Konzept die katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) übernahm. Maritain entwickelte auch eine politische Theorie mit einer Begründung der freiheitlichen Demokratie auf christlicher Grundlage. Damit legte er gemeinsam mit anderen Personalisten, namentlich Luigi Sturzo (1871–1959) in Italien, eine wichtige programmatische Grundlage für die Bewegung der Christdemokratie, was nach dem Zweiten Weltkrieg zur Überwindung der überkommenen konfessionellen Weltanschauungsparteien und zur Gründung christdemokratischer Sammlungsparteien führte.
Insofern die Christdemokratie noch heute das christliche Menschenbild programmatisch zum Fundament ihrer Politik erklärt, kommt darin kein religiöses Bekenntnis zum Ausdruck, sondern das Personprinzip als politisches Leitprinzip. Christdemokratische Politik ist personalistisch, das heißt, sie begreift Staat und Gesellschaft als Gemeinschaften von Personen, deren Würde und Autonomie allem Sozialem vorausgehen und als zentraler Maßstab allen politischen Handelns zu betrachten sind. Der Personalismus grenzt sich damit nicht nur scharf von jeder Art des Kollektivismus ab, sondern auch vom Individualismus. Weil es ihm um die bestmögliche personale Entfaltung aller Menschen geht, gehört zum Personalismus eine Gemeinwohlorientierung, die auf die Schaffung einer belastbaren öffentlichen Infrastruktur und von sozialen Dienstleistungen gerichtet ist, die insbesondere auch den schwachen und verwundbaren Menschen ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an den politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensvollzügen der Gesellschaft ermöglichen.
Literatur:
- Belardinelli, Sergio: Die politische Philosophie des christlichen Personalismus, in: Karl Ballestrem / Henning Ottmann (Hrsg.): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts. München 1990, S. 243–262.
- Gauger, Jörg-Dieter u.a. (Hrsg.): Das christliche Menschenbild. Zur Geschichte, Theorie und Programmatik der CDU. Freiburg i.Br. 2013.
- Joas, Hans: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011.
- Küppers, Arnd: Art. Personprinzip. in: Staatslexikon, hrsg. v. d. Görres-Gesellschaft, 8. Aufl. (völlige Neubearbeitung), Bd. 4. Freiburg u.a. 2020, S. 751–757.
- Maritain, Jacques: Christlicher Humanismus. Politische und geistige Fragen einer neuen Christenheit. Heidelberg 1950.
- Maritain, Jacques: Christentum und Demokratie. Augsburg 1949.
- Schmidinger, Heinrich: Der Mensch ist Person. Ein christliches Prinzip in theologischer und philosophischer Sicht. Innsbruck 1994.
- Schockenhoff, Eberhard: Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen, 2. Aufl. Freiburg i. Br. 2013.
- Spaemann, Robert: Personen. Versuch über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“. Stuttgart 1996.
- Sturma, Dieter: Person und Menschenrechte, in: Ders. (Hg.): Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie. Paderborn 2001, S. 337–362.