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Konservatismus
von Matthias Oppermann
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„A general history of ‘conservative’ doctrine cannot be written; too many minds have been trying to ‘conserve’ too many things for too many reasons.“ Jeder Versuch, den Konservatismus als geistig-politische Strömung zu erfassen, muss mit dieser Einsicht J. G. A. Pococks beginnen. Konservatismus, beziehungsweise das, was darunter verstanden wird, ist abhängig von Zeit und Raum, vom politischen und gesellschaftlichen Kontext. Wer konservatives Denken verstehen will, muss immer von den Bedingungen des politischen Regimes ausgehen, in dem es sich äußert. Selbst innerhalb eines Regimes können konkurrierende, sich sogar ausschließende Varianten des Konservatismus auftreten.
Ursprünge und Kriterien
Der Begriff selbst wird meist auf die Zeitschrift Le Conservateur zurückgeführt, die der französische Schriftsteller und Politiker François-René de Chateaubriand 1818 ins Leben rief. Tatsächlich verlief die Begriffsentwicklung aber in verschiedenen Ländern parallel zueinander. Wichtiger als die Verwendung durch Chateaubriand ist, dass das Adjektiv conservative in Großbritannien seit dem Ende des 18. Jahrhunderts allmählich seine heutige Bedeutung annahm, zwar durchaus im Austausch mit der Diskussion in Frankreich, aber doch unabhängig davon. 1832 begannen einige Tories ihre Partei als Conservative Party zu bezeichnen.
Die Sache selbst ist freilich älter als der Begriff. Als Beginn des modernen Konservatismus, das heißt des Konservatismus als einer der wesentlichen politischen Strömungen der Neuzeit, werden entweder die ersten Jahre nach der Französischen Revolution oder die Jahrzehnte unmittelbar vor der Revolution angegeben. Panajotis Kondylis hat den Beginn des Konservatismus sogar auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts datiert.
Auf theoretischer Ebene gibt es zwei Möglichkeiten, Konservatismus zu verstehen. Erstens lässt er sich durch die Absicht definieren, die bestehende politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung zu bewahren. Der so verstandene Konservatismus wird durch Interessen oder Ideale bestimmt und ist kontextgebunden. Konservatismus kann zweitens eine Herangehensweise an die Politik sein, die sich wiederum in zwei Formen ausdrücken kann: in dem Versuch, jede Veränderung zu verhindern, oder in dem Bemühen, den unvermeidlichen Wandel aller Dinge zu begleiten und zu gestalten. Der Konservatismus als Haltung ist nicht an eine politische Ordnung gebunden, sondern von überzeitlicher Relevanz, erhält aber seine ideologische Bedeutung erst durch das politische Regime, in dem er vertreten wird. Michael Oakeshott bezeichnet die zweite Variante dieser Form des Konservatismus als „conservative disposition“. Die Verbindung beider Formen des Konservatismus – des interessegeleiteten Bewahrens und der „konservativen Disposition“ – lässt sich erstmals im Großbritannien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Form einer Parteidoktrin beobachten.
Konservatismus in Großbritannien
In dieser Zeit war das Ziel der Whig-Partei, deren wichtigster Vordenker Edmund Burke war, die Bewahrung einer politischen Ordnung durch gelegentliche Reformen. Diese Ordnung war seit der Glorious Revolution von 1688/89 aristokratisch, sogar oligarchisch, aber gleichzeitig postfeudal und freiheitlicher als alle anderen Staaten. Die Whigs repräsentierten den größten Teil der britischen Aristokratie, also eine Schicht von Landeigentümern, hatten sich aber der Förderung des Handels verschrieben, um das von ihnen verteidigte politische System zu finanzieren. Das machte sie aus Pococks Sicht zu den ersten „progressive conservatives in the history of modern political debate“. Sie stellten eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung in den Dienst der Erhaltung des bestehenden Systems. Das erklärt, warum der Wirtschaftsliberalismus trotz gelegentlicher protektionistischer Anwandlungen zu einem Kernelement des britischen (und amerikanischen) Konservatismus geworden ist.
Man kann den „philosophische Konservatismus“ der Whigs nicht aus dem postfeudalen, liberalen Kontext der britischen Verfassung des 18. Jahrhunderts herauslösen, ohne seinen Charakter zu entstellen. Auf seiner Basis und nicht ausgehend vom Toryismus des 18. Jahrhunderts entwickelte sich nach der Französischen Revolution eine neue Tory-Partei, aus der schließlich die Conservative Party hervorging, die wie die neuen Whigs des 19. Jahrhunderts beziehungsweise später die Liberalen nicht Thron und Altar verteidigten, sondern den liberalen und parlamentarischen Charakter der britischen Monarchie.
Konservatismus in Frankreich
Dieser Liberalkonservatismus, der beide britischen Parteien des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichem Maße prägte, wirkte auf Vertreter des Konstitutionalismus im Frankreich der Restaurationszeit besonders anziehend. Nach 1814 entwickelte sich dort eine vielgestaltige Strömung des konservativen Liberalismus, die ihre Blütezeit unter der Julimonarchie (1830–1848) hatte. Die von dem Historiker François Guizot angeführte Partei der Doktrinäre war zwar genuin liberal, wurde aber aufgrund ihrer Verteidigung des Systems der Julimonarchie als „parti conservateur“ bezeichnet. Andere Varianten des Konservatismus, die im Stil der Gegenrevolutionäre zum Absolutismus des Ancien Régime oder gar zur feudalistischen Ordnung des Mittelalters zurückkehren wollten, verloren dagegen ihre Grundlage. So kam es in der politischen Sprache Frankreichs zu einer Verschmelzung von Konservatismus und Liberalismus, die bis in die Zeit der Dritten Republik (1870–1940) nachwirkte, zum Teil sogar bis heute. Die radikale oder extreme Rechte wurde und wird in Frankreich nur selten als konservativ bezeichnet.
Konservatismus in Deutschland bis 1945
Der Konservatismus in Deutschland nahm dagegen einen anderen Weg. Auch der deutsche Frühkonservatismus entstand am Ende des 18. Jahrhunderts – sowohl vor der Französischen Revolution als auch als Reaktion auf sie. Aber anders als im britischen 18. Jahrhundert und oder im Frankreich der konstitutionellen Monarchie bewegten sich konservative Denker in Deutschland nicht in einem postfeudalen Umfeld. Autoren wie August Wilhelm Rehberg und der Burke-Übersetzer Friedrich Gentz vertraten zwar einen für notwendige Veränderungen offenen Konservatismus, aber sie verließen dabei nicht den Rahmen einer monarchischen Ordnung, die weit entfernt vom britischen Parlamentarismus und seinen liberalen Implikationen war. Sie waren Reformkonservative, keine Liberalkonservativen.
Trotz vielversprechender Ideen zu einer konstitutionellen Weiterentwicklung des monarchischen Systems etwa bei Friedrich Julius Stahl haben die meisten deutschen Konservativen des 19. Jahrhunderts nie ein positives Verhältnis zum Liberalismus gefunden. Das ist der Kern der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnenden „Krise des Konservatismus“ (Klemens von Klemperer) in Deutschland, die sich bis in die Weimarer Republik fortsetzte. Gleichwohl gab es auch in Deutschland liberalkonservative Ansätze. Die sogenannte Wochenblattpartei im Preußen der 1850er Jahre ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Reichs- und Freikonservative Partei des Kaiserreichs. Beide Parteien lehnten zwar eine Parlamentarisierung Preußens beziehungsweise des Reiches ab, waren aber entschieden konstitutionell und standen dem Liberalismus aufgeschlossen gegenüber. Liberalkonservative Substanz gab es zudem – wie in Frankreich – im Lager des gemäßigten Liberalismus, etwa in der Casino-Fraktion der Nationalversammlung von 1848 oder in der Nationalliberalen Partei des Kaiserreichs.
Auf der anderen Seite standen die konservativen Gegner des Liberalismus wie der preußische Hochkonservatismus und der katholische Konservatismus. Die Hochkonservativen, die in Treue zur alten preußischen Monarchie die Reichsgründung abgelehnt hatten und die Interessen der ostelbischen Großgrundbesitzer vertraten, fügten sich 1876 in das Unvermeidliche und gründeten die Deutschkonservative Partei, die sich zum Reich bekannte. Bald öffnete sich die Partei dem Einfluss des radikalen Nationalismus, der völkischen Bewegung und des Antisemitismus in seiner wirtschaftlichen, dann auch rassistischen Gestalt.
Nach der Niederlage von 1918 sammelten sich die Konservativen aller Schattierungen, die Völkischen und Alldeutschen, aber auch einige Nationalliberale in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Die Gründer der Partei verzichteten bewusst auf den Begriff des Konservatismus, um damit jede Verantwortung für das Scheitern des mit dem Konservatismus identifizierten Kaiserreich von sich zu weisen. Der liberal-demokratische Rahmen bot durchaus eine Chance für die Entwicklung einer liberalkonservativen Partei, und zunächst setzten sich tatsächlich die gemäßigten Kräfte durch, etwa die Gruppe um den ehemaligen freikonservativen Politiker Siegfried von Kardorff. Obwohl auch sie die Restauration der Monarchie anstrebten, wollten die Gemäßigten die DNVP auf die Akzeptanz des parlamentarischen Systems verpflichten. Schon bald aber gewannen die Deutschkonservativen, Völkischen und Alldeutschen die Oberhand, so dass es den Gemäßigten nicht gelang, die DNVP auf eine gouvernementale Linie zu führen. Von 1928 an führte Alfred Hugenberg die Partei als Vorsitzender auf einen dauerhaften rechtsradikalen Kurs.
Mit der Völkischen Bewegung und den rechtsintellektuellen Vertretern der sogenannten „Konservativen Revolution“ bildete die DNVP ein antiliberales, republikfeindliches Milieu, das nicht nur den Boden für den Nationalsozialismus bereitete, sondern auch mehr und mehr im Austausch mit ihm stand. Im Januar 1933 ermöglichten die DNVP, der Stahlhelm und die Kamarilla um Reichspräsident Paul von Hindenburg mit Franz von Papen an der Spitze schließlich die Übertragung der Macht an Hitler. Auch die Gruppierungen, die sich nach 1928 aufgrund der zunehmenden Radikalisierung der DNVP von ihr abspalteten, traten lediglich für eine konstruktive Regierungsbeteiligung der konservativen Kräfte ein, standen dem Liberalismus aber weiterhin ablehnend gegenüber. Ein nennenswertes liberalkonservatives Potential gab es in der Weimarer Republik nur in der kleinen nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), allerdings nur bis zum Tod Gustav Stresemanns im Jahr 1929.
Am Ende fielen auch die Konservativen der Zerstörung der Weimarer Republik zum Opfer, die sie selbst tatkräftig betrieben hatten. Während der Zeit der nationalsozialistischen Tyrannei waren sie zunächst vor allem auf der Seite des Regimes zu finden. Manche schwankten später zwischen Anpassung und Widerstand, und eine kleine Minderheit, die aktiv Widerstand leistete, zeigte, dass die ethischen, im Christentum wurzelnden Überzeugungen des deutschen Konservatismus noch nicht völlig abgestorben waren.
Konservatismus in der Bundesrepublik Deutschland
Trotz dieses konservativen Widerstands war nach 1945 auch für viele Konservative nicht daran zu denken, eine konservative Partei zu gründen. Als Sammlungsbewegungen der Mitte nahmen mit CDU und CSU zwei Parteien auf der Grundlage des christlichen Menschenbilds den Platz der alten konservativen Parteien und des Zentrums ein. Obwohl CDU und CSU keine genuin konservativen Parteien waren, sind sie in vierfacher Hinsicht Erben des älteren deutschen Konservatismus. Erstens nahmen sie den gesellschaftlichen Konservatismus in sich auf, der vor allem, aber nicht nur, das Zentrum geprägt hatte. Zweitens fanden auch Politiker zur CDU, die sich als Konservative oder Nationalliberale verstanden. Drittens ist der Ordoliberalismus, auf dem das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft beruht, der Strömung des konservativen Liberalismus in Europa zuzurechnen. Und schließlich übernahmen CDU und CSU als Mitte-Rechts-Parteien im System der Bundesrepublik die Rolle, die in anderen Ländern konservative Parteien spielten.
Der Entwicklung der westlichen Gesellschaften entsprechend, hat sich der religiös grundierte „Wertkonservatismus“ in der Union im Laufe der Jahre immer weiter abgeschwächt. Viele, die den Verlust des Konservativen in CDU und CSU beklagen, meinen damit diesen gesellschaftspolitischen Konservatismus. Im Gegenzug entwickelte sich eine andere Form des Konservatismus, der die Union dem damaligen britischen oder amerikanischen Konservatismus näherbrachte. Gegen die Bestrebungen bestimmter Intellektueller, die seit den 1950er versuchten, den Konservatismus zu beanspruchen, indem sie ihn in der Tradition der „Konservativen Revolution“ als militanten Antiliberalismus definierten, setzten andere einen Liberalkonservatismus, zu dessen Begründung sie westliche Denker wie Burke oder Alexis de Tocqueville anführten. Auch in der Union versuchten Politiker seit dem Ende der 1950er Jahre den Konservatismusbegriff zu rehabilitieren, indem sie einen Umweg über Großbritannien nahmen.
Diese Konservativen – etwa Eugen Gerstenmaier oder Richard von Weizsäcker – nahmen für die Union einen Konservatismus in Anspruch, der, dem britischen Vorbild entsprechend, auf dem Liberalismus beruhte und im Einklang mit dem Ideal der aktiven Gestaltung des Fortschritts stand. Der Hamburger CDU-Politiker Erik Blumenfeld fasste diesen Liberalkonservatismus der CDU 1964 in den Worten zusammen: „Konservativ sollten wir sein, was das Ideal der Freiheit betrifft. Es zu bewahren, sind unsere westlichen Verfassungen geschaffen worden.“
Literatur:
- Alexander, Matthias, Die Freikonservative Partei 1890–1918. Gemäßigter Konservatismus in der konstitutionellen Monarchie. Düsseldorf 2000.
- Booms, Hans, Die Deutschkonservative Partei. Preußischer Charakter, Reichsauffassung, Nationalbegriff. Düsseldorf 1954.
- Grondeux, Jérôme, Histoire des idées politiques en France 1814–1914. Paris 1998.
- Klemperer, Klemens von, Konservative Bewegungen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München/Wien 1962 (engl. 1957).
- Kondylis, Panajotis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Berlin 2023 (erstmals 1986).
- Oakeshott, Michael, On Being Conservative (1956), in: ders., Rationalism in Politics and Other Essays. New and Expanded Edition. Foreword by Timothy Fuller. Indianapolis 1991 (erstmals 1962), S. 407–437.
- Ohnezeit, Maik, Zwischen „schärfster Opposition“ und dem „Willen zur Macht“. Die Deutschnationale Volkspartei in der Weimarer Republik 1918–1928, Düsseldorf 2011.
- Oppermann, Matthias, Triumph der Mitte. Die Mäßigung der „Old Whigs“ und der Aufstieg des britischen Liberalkonservatismus, 1750–1850. Berlin/Boston 2020.
- Pocock, J. G. A., The Varieties of Conservatism: British and American. Public lecture, Arizona State University: April 13, 1977, in: University of St Andrews, Intellectual History Archive
- Pocock, J. G. A., Introduction, in: Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France. Edited with Introduction and Notes by J. G. A. Pocock. Indianapolis/Cambridge 1987, S. vii–lvi.
- Schildt, Axel, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 1998.