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Regierungsfraktion in Krisenzeiten
Geschichte der CDU/CSU-Fraktion 2005–2021
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Nach sieben Jahren in der Opposition gewann die Union knapp die Bundestagswahl am 18. September 2005. Der Wahlabend markierte den Auftakt zur Ära Merkel. In den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft musste die Unionsfraktion in unterschiedlichen Regierungskonstellationen eine Vielzahl an Krisen bewältigen.
☛ Krisenpolitik: Die Fraktion zwischen „Loyalität und Malaise“
☛ Fraktionsgemeinschaft in Gefahr
Kampf ums Kanzleramt
Im November 2005 kehrten CDU und CSU nach sieben Jahren in der Opposition an die Regierung zurück. Dass es dazu kam, war zu Beginn nicht ganz sicher, denn am „traumatischen Wahlabend des 18. September [2005]“ (Schwarz) fiel das Ergebnis deutlich enger aus als erwartet, und der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder bekundete vollmundig seine Absicht, im Amt zu bleiben. Weder die Fortführung der rot-grünen, noch die Bildung einer schwarz-gelben Koalition waren möglich, sondern nur die Bildung einer Großen Koalition, die die Bundesrepublik einzig zwischen 1966 und 1969 regiert hatte. In dieser unklaren Situation unterstrich die bisherige Oppositionsführerin Angela Merkel ihren internen Führungsanspruch, indem sie sich gleich am 20. September 2005 wieder zur Vorsitzenden der Unionsfraktion wählen ließ (mit 219 von 222 Stimmen). Mit Blick auf das Verhalten Schröders erklärte sie zudem, es gelte nun, „dafür Sorge zu tragen, dass dieser Mann versteht, dass er nicht mehr Bundeskanzler sein wird.“ Ebenfalls am 20. September 2005 erneuerten die Parteivorsitzenden Merkel und Edmund Stoiber die Vereinbarung zur Fortsetzung der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU.
In der Presse, aber auch unionsintern wurde bald über die Frage der Richtlinienkompetenz des Regierungschefs in einer Großen Koalition und über die Fähigkeit, diese gegenüber den Sozialdemokraten auch durchzusetzen, spekuliert. Vor den Abgeordneten der Unionsfraktion sah sich Merkel daher am 17. Oktober 2005 zu folgender Klarstellung veranlasst: „Ein Bundeskanzler, auch wenn er weiblich ist, hat die Richtlinienkompetenz. Punkt. Ende.“ Nach mehrwöchigen Verhandlungen einigten sich CDU, CSU und SPD auf die Bildung einer Großen Koalition unter der Führung von Merkel. „Es ist ein Mädchen“, titelte die taz humoristisch. Die Unionsfraktion stimmte dem Koalitionsvertrag, dessen Kompromisscharakter allseitig betont wurde, bei einer Enthaltung zu. Zum Nachfolger im Fraktionsvorsitz wurde am 21. November 2005 der bisherige Generalsekretär der Bundes-CDU, Volker Kauder, gewählt (196 Ja-Stimmen, 14 Nein-Stimmen, 4 Enthaltungen).
Um ihr Handeln besser zu koordinieren, wurde eine Kooperationsvereinbarung zwischen den beiden Regierungsfraktionen ausgehandelt, in der nicht nur wechselnde Mehrheiten ausgeschlossen, sondern zudem als Besonderheit festgelegt wurde, dass Initiativen der Fraktionen nur gemeinsam eingebracht werden können. Zwischen den beiden Fraktionsvorsitzenden Kauder und dem bis 2009 amtierenden Peter Struck entwickelte sich ein gutes Einvernehmen, das später gar in einer persönlichen Freundschaft mündete.
Krisenpolitik: Die Fraktion zwischen „Loyalität und Malaise“
In den ersten Jahren der Regierungszeit beschäftigten Themen der Außenpolitik wie der G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni 2007 die Parlamentarier. Ausführliche Debatten wurde in der Fraktion etwa im September 2006 zum Afghanistan-Einsatz und im Dezember 2007 zur Stammzellforschung geführt. Da sich im Vorfeld der letztgenannten Debatte Fragen zum „Fraktionszwang“ ergeben hatten, stellte Kauder hierzu am 11. Dezember 2007 vor den Unionsabgeordneten klar: „[W]ir hatten bei Fragen dieser Art nie einen Fraktionszwang, das wird auch so bleiben. Denn wir als Union sind ja in besonderer Weise für die Freiheit, und gerade in Gewissensfragen muss es Freiheit geben.“
Mit den globalen Auswirkungen der Insolvenz der US-Investmentbank Lehman Brothers begannen 2008 die für die „Ära Merkel“ charakteristischen „Krisenjahre“ (Ralph Bollmann): Finanzkrise, Eurokrise, Ukrainekrise, Flüchtlingskrise und schließlich die COVID 19-Pandemie. Die Politik befand sich fast durchgängig im Reaktionsmodus, das „Regieren auf Sicht“ wurde zum bevorzugten Regierungsstil, wovon auch die Fraktionsarbeit geprägt wurde. Die Fraktion befand sich gegenüber der Regierung „in einer primär dienenden Position“, so Hans-Peter Schwarz.
Bei der Bewältigung der einzelnen Krisen gab es jedoch jeweils innerfraktionelle Kritik am Regierungshandeln, das galt insbesondere in der Euro-Rettungspolitik. Einige Unionsabgeordnete favorisierten die Haltung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der in der Frage eines Verbleibs oder möglichen Ausscheidens Griechenlands aus dem Euro-Raum eine härtere Haltung als die Bundeskanzlerin zu vertreten schien. Letztlich gelang es Kauder als „Zuchtmeister“ der Union (SZ online, 11. August 2015), die Fraktion durch alle Krisen hindurch auf Kanzlerinnenkurs zu halten.
Fraktionsgemeinschaft in Gefahr
Das Jahr 2018 brachte jedoch für die Unionsfraktion die größte Krise seit dem Kreuther Trennungsbeschluss 1976. Seit der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 war die liberale Migrationspolitik der Bundesregierung auch unionsintern umstritten. Der Bundesinnenminister und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer forderte zur Vermeidung eines erneuten Flüchtlingsansturms die Abweisung bereits registrierter Flüchtlinge an der deutschen Grenze, was von der Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden Merkel kategorisch abgelehnt wurde. In dieser Situation hing die Fraktionsgemeinschaft an einem seidenen Faden, die Abgeordneten beider Parteien tagten am 14. Juni 2018 parallel in getrennten Sitzungen. Mit einer europapolitischen Initiative Merkels zur Stärkung der EU-Außengrenzen sowie einem „Formelkompromiss“ (Bollmann) zur Einrichtung von Transitzentren auf deutschem Boden kam am 2. Juli 2018 unter Vermittlung Schäubles eine Einigung zustande. Der Bruch zwischen den beiden Schwesterparteien und das Ende der Fraktionsgemeinschaft wurden abgewendet.
„Kanzlerinnendämmerung“
Am 25. September 2018 folgte ein weiteres „politisches Erdbeben“ (Cicero online, 25. September 2018). Bei der routinemäßigen Neuwahl des Fraktionsvorsitzenden der Unionsfraktion unterlag Kauder überraschend dem Finanzpolitiker Ralph Brinkhaus mit 112 zu 125 Stimmen. Zu seiner Motivation erklärte Brinkhaus später, der drohende Bruch der Fraktionsgemeinschaft habe für ihn den Ausschlag gegeben (FAS, 16. Dezember 2018). In der Presse wurde seine Wahl als Beleg „für ein neues Selbstbewusstsein der Fraktion gegenüber dem Kanzleramt“ interpretiert (FAZ, 26. September 2018).
Die zweite Hälfte der 19. Wahlperiode wurde jedoch fast ausschließlich von der Bekämpfung des SARS-COV-II-Virus bestimmt, das zu Beginn des Jahres 2020 eine globale Pandemie auslöste. Das parlamentarische Agieren unter den Bedingungen einer akuten Gesundheitsgefährdung sowie der Beschluss freiheitseinschränkender Schutzmaßnahmen bedeuteten eine Ausnahmesituation auch für die Mitglieder der Unionsfraktion. Nach mehreren Wahlniederlagen der CDU, zuletzt bei der Landtagswahl in Hessen, erklärte Merkel am 29. Oktober 2018, beim bevorstehenden CDU-Bundesparteitag nicht erneut für den Parteivorsitz zu kandidieren und bei der Bundestagswahl 2021 auch nicht erneut als Spitzenkandidatin der Union anzutreten. Im Frühjahr 2021 war die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dann einer der Schauplätze der Debatte über die Unions-Kanzlerkandidatur zwischen den Anhängern des CDU-Vorsitzenden Armin Laschet und denen des CSU-Vorsitzenden Markus Söder. Dass die Wortbeiträge der Fraktionsmitglieder auf den Social-Media-Kanälen einer Boulevard-Zeitung fast in Echtzeit öffentlich mitverfolgt werden konnten, kritisierte deren Vorsitzender Brinkhaus scharf. 16 Jahre intensiver Krisenbewältigung als Regierungsfraktion endeten mit dem Machtverlust der Union bei der Bundestagswahl vom 26. September 2021.
Philip Rosin
Literatur:
- Robin Alexander: Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik. Ein Report. München 2021.
- Ders.: Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik. Report aus dem Innern der Macht. Aktualisierte Ausgabe, München 2018.
- Ralph Bollmann: Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit. München 2021.
- Dominik Geppert: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. München 2021.
- Manfred Görtemaker: Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung. Berlin 2009.
- Margaret Heckel: So regiert die Kanzlerin. Eine Reportage. München 2009.
- Hans-Peter Schwarz: In der zweiten Großen Koalition, 2005 – 2009, in: Ders. (Hg.): Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag 1949 bis heute. München 2009, S. 229–252.
- Ursula Weidenfeld: Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche. Berlin 2021.