Kein Nachfolger für Bouteflika
Algerien, das größte Land Afrikas, das über enorme Erdöl- und Erdgasvorkommen verfügt und als wichtiger Stabilitätsanker in der Region gilt, steht im Frühjahr 2019 vor Präsidentschaftswahlen. Präsident Bouteflika, seit 20 Jahren im Amt und seit einem Schlaganfall vor sechs Jahren gesundheitlich stark eingeschränkt, strebt eine fünfte Amtszeit an und dürfte gute Chancen auf eine Wiederwahl haben. Als Gegenkandidaten stellen sich unter anderem der ehemalige Premierminister Ali Benflis, der ehemalige Generalmajor Ali Ghediri und der Chef der moderaten islamistischen Oppositionspartei MSP, Abdarezak Makri, zur Wahl. Einige Oppositionsvertreter rufen aus Kritik am Regime zudem zum Boykott der Wahl auf. Die Opposition ist angesichts verschiedenener Gegenkandidaten und Boykottforderungen fragmentiert. Überdies wird nicht mit einer hohen Wahlbeteiligung gerechnet, die zu einem überraschenden Ergebnis führen könnte, da große Teile der Bevölkerung von der Politik entfremdet sind, was sich in der Vergangenheit immer wieder in niedrigen Wahlbeteiligungen ausgedrückt hat. In der Vergangenheit warf die Opposition dem Regime zudem immer wieder Wahlfälschungen vor.
Die anstehende Präsidentschaftswahl ist dennoch gerade zu diesem Zeitpunkt von großer Bedeutung für die Zukunft Algeriens. Auch wenn Präsident Bouteflika zu einer erneuten Amtszeit antritt, wird dies gemäß der Verfassungsänderung von 2016 seine letzte sein. Die einflussreichen Kräfte in Algerien, also Generäle, Geschäftsleute und Politiker, die oft einfach als „le pouvoir“ (die Macht) bezeichnet werden, setzen erneut auf Bouteflika, da sie sich nicht auf einen Nachfolger einigen können. Die Regimeeliten sind in interne Machtkämpfe verstrickt. Der loyale Generalstabschef Gaïd Salah versucht seine Macht auszubauen, ebenso wie Bouteflikas Bruder Said, von dem einige behaupten, dass er längst die Entscheidungen des kranken Bouteflika trifft. In der Vergangenheit wurden mehrere Personen aus dem Kreis des Regimes, die zu sehr nach Macht strebten, entlassen, so wie beispielsweise der einflussreiche Geheimdienstchef General Mohamed Mediène im Jahr 2015. Eine Nachfolge Bouteflikas zu finden wird aber zu einem drängenderen Problem denn je. Den Posten eines Vizepräsidenten, der ein wichtiges Signal für die Nachfolge sein könnte, gibt es nicht, obwohl seine Einführung in der Vergangenheit diskutiert wurde. Während der vierten Amtszeit Bouteflikas gab es einige Bewegung im algerischen Machtapparat, die Beobachter als einen Machtzuwachs des Präsidenten gegenüber dem Militär interpretieren.
Mit Präsident Bouteflika ist zudem eine Figur des Unabhängigkeitskampfes gegen den französischen Kolonialismus an der Macht, jemand der schon in der ersten unabhängigen Regierung Algeriens 1963 Minister war. Neben diesem historischen Legitimationsanspruch, ist der amtierende Präsident derjenige, der Algerien nach dem Bürgerkrieg zwischen islamistischen Milizen und der Armee in den 1990er Jahren wieder versöhnt hat und sich in seinem Herrschaftsanspruch daher stets auf die durch ihn erreichte Stabilität beruft. Über 70% der Algerier sind jedoch unter 30 Jahre alt und weit nach der Unabhängigkeit, viele von ihnen sogar nach dem „schwarzen Jahrzehnt“ des Bürgerkriegs geboren. Die über 60-Jährigen machen in Algerien gerade einmal 9% der Bevölkerung aus, die wichtigsten Positionen im Land sind jedoch in ihrer Hand. Neben dem 81-jährigen Präsidenten, ist auch der Präsident des Senats, das Oberhauses des algerischen Parlaments, Abdelkader Bensalah 78 Jahre alt und Berichten zufolge ebenfalls schwer krank. Im Januar 2019 wurde er dennoch für eine erneute Amtszeit gewählt. Er bekleidet damit ein wichtiges Amt, da der Senatspräsident für den Fall, dass Bouteflika ausfällt oder stirbt, für 90 Tage Interimspräsident wird. Der Präsident des Verfassungsrats, Mourad Medelci, der ein loyaler Anhänger Bouteflikas war, ist erst Ende Januar im Alter von 76 im Amt gestorben. Gerade vor den Wahlen spielt diese Institution eine wichtige Rolle, da sie über die Zulassung der Kandidaten entscheidet. Darüber hinaus kann nur der Verfassungsrat Artikel 102 der Verfassung anwenden, der die Absetzung des Präsidenten vorsieht, wenn dieser sein Amt aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Die Rolle der Generation der Unabhängigkeit in Algerien sei zu Ende und die Zeit gekommen, die Macht an die junge Generation abzugeben, so sagte es Bouteflika bei einer Ansprache im Jahr 2012. Seitdem sind jedoch keine wesentlichen Schritte in diese Richtung erfolgt.
Wirtschaftskrise in der algerischen Rentenökonomie
Zudem steckt das Land seit dem Ölpreisverfall 2014 in einer schweren Wirtschaftskrise. 60% des Staatshaushalts und 95% der Exporte Algeriens stammen aus dem Öl – und Gasgeschäft. Dieser Ressourcenreichtum hat es dem Regime bisher erlaubt, sozialen Frieden durch Subventionen, Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor und hohe Sozialausgaben zu erkaufen. Diese Art der Rentenökonomie ist jedoch nicht nur nicht nachhaltig, da auch die größten Öl- und Gasvorkommen endlich sind und die Entwicklung produktiver Wirtschaftszweige ausbleibt, sie ist auch durch Schwankungen des Ölpreises auf dem Weltmarkt gefährdet. Welche Auswirkungen dies haben kann, zeigt sich in Algerien seit 2014 deutlich. Durch den niedrigen Ölpreis sinken die Staatseinnahmen, die Regierung musste Subventionen kürzen, Steuern erhöhen und sich bei den Devisenreserven bedienen.
Die Bevölkerung leidet währenddessen unter der hohen Arbeitslosigkeit, dies trifft besonders die junge Generation. 30 % der 16- bis 25-Jährigen finden keinen Job. Die Schaffung beruflicher Perspektiven ist daher eine der großen Herausforderungen. Für viele junge Algerier erscheint indes angesichts der schwierigen Wirtschaftslage und der grassierenden Korruption Migration als die einzige Möglichkeit, ihre Lebensumstände zu verbessern.
Die Opposition zwischen Boykott und Gegenkandidatur
Wie von seinen Anhängern bereits vor einiger Zeit angekündigt, bestätigte Bouteflika seine erneuten Ambitionen auf das Präsidentenamt am 10. Februar 2019. Er ist weiterhin in der Öffentlichkeit nicht präsent und sein Wahlkampf wird ausschließlich von einigen loyalen Unterstützern vorgenommen. Weitere Kandidaten können sich noch bis zum 4. März beim Verfassungsrat registrieren. Dieser entscheidet dann, ob sie zur Wahl zugelassen werden. Obwohl Beobachter beim Wahlergebnis keinen Raum für Überraschungen sehen, stellen sich Gegenkandidaten aus verschiedenen Lagern zur Wahl. Besonders drei Kandidaten sind relevant, nicht aufgrund ihrer Erfolgschancen, sondern weil sie etwas über die politischen Dynamiken hinter den Kulissen aussagen.
Der Erste, Ali Ghediri, tritt mit dem Ziel an, die Politik aus den Kasernen zu holen. Der pensionierte Generalmajor präsentiert sich als besonders qualifiziert für diese Aufgabe und die damit einhergehende Reform der zivil-militärischen Beziehungen in Algerien, dessen Politik in der Vergangenheit maßgeblich von direkten und indirekten Interventionen des Militärs bestimmt wurde. Seine Kandidatur hat im Vorfeld innerhalb des Militärs daher zu Aufruhr geführt. Einige hohe Offiziere der Armee, die ihre Unterstützung für Ghediri zum Ausdruck gebracht haben, ließ Generalstabschef Gaïd Salah kurzerhand verhaften.
Der Zweite, Ali Benflis, war früher Premierminister unter Bouteflika und trat bereits 2004 und 2014 gegen den Staatschef an. Unterstützt wurde er 2004 von wichtigen Personen in der Armee und, wie vermutet wird, auch einigen FLN-Anhängern. Er bekam jeweils die zweitmeisten Stimmen, blieb aber trotzdem weit hinter Bouteflika zurück.Benflis kritisierte, dass das Regime durch Wahlfälschungen Einfluss auf das Ergebnis genommen habe.
Die dritte Kandidatur, die gerade in Hinblick auf die algerische Geschichte und die regionalen Dynamiken wichtig ist, kommt mit Abderezak Makri von der moderat islamistischen Partei MSP (Gesellschaftsbewegung für den Frieden). Die Entwicklung islamistischer Akteure in Algerien gestaltet sich historisch bedingt anders als in anderen Ländern der Region. Als das Regime 1991 freie Wahlen zuließ und sich ein Sieg der islamistischen FIS (Front Islamique du Salut) abzeichnete, brach das Militär die politische Liberalisierung mit Gewalt ab und es folgte ein jahrelanger Bürgerkrieg, dessen Trauma noch heute einen starken Einfluss auf die algerische Gesellschaft ausübt. Die FIS ist seitdem verboten, andere islamistische Parteien existieren jedoch. Das Regime versucht auf verschiedene Weise, islamistische Gesinnungen zu bedienen, sei es durch das kostspielige Großprojekt der großen Moschee von Algier, oder durch eine gezielte Kooptation einiger Akteure und damit Fragmentierung und Kontrolle des islamistischen Spektrums. So war die MSP bis 2012 sogar an der Regierung beteiligt. Allerdings verließ sie später die Koalition und schärfte unter dem neuen Parteivorsitzenden Makri ihr Profil als Oppositionspartei, was besonders von jüngeren Parteimitgliedern gefordert wurde. Nun stellt sie mit Makri einen Gegenkandidaten, der Bouteflika zwar nicht direkt gefährlich werden wird, die Kooptationsstrategien des Regimes jedoch vor neue Herausforderungen stellt.
Der Vorsitzende der islamistischen Partei Adala, Abdallah Djaballah, berief am 20. Februar ein Treffen mit Oppositionsvertretern, darunter auch den Kandidaten Ali Benflis und Abderezak Makri, ein, um einen gemeinsamen Kandidaten für die Wahl aufzustellen. Das Treffen verlief jedoch erfolglos, da sich die Opposition nicht auf einen Kandidaten einigen konnte. Zudem nahm ein weiterer wichtiger Kandidat, Ali Ghediri, nicht an dem Treffen teil.
Andere Oppositionsparteien rufen aus Kritik an politischer Repression und aufgrund der von ihnen erwarteten Wahlmanipulationen stattdessen zum Boykott der Wahl auf, um diese nicht zu legitimieren. Darunter sind die sozialistische FFS (Front Sozialistischer Kräfte), Djil Djadid (Neue Generation), die für eine demokratische Transition eintritt und die säkularen Parteien RCD (Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie) und PLD (Partei für Laizismus und Demokratie). Auch das zivilgesellschaftliche Bündnis Mouwatana (frz. citoyenneté) kündigte an, die Wahl im Falle einer erneuten Kandidatur Bouteflikas boykottieren zu wollen.
Ausblick
Auch wenn Beobachter von einem erneuten Wahlsieg Bouteflikas ausgehen, sendet die Wahl wichtige Signale für die Zukunft des Landes. Die Kandidatur des schwerkranken Präsidenten Bouteflikas lässt vermuten, dass im inneren Machtzirkel Uneinigkeit über die Nachfolge besteht und verschiedene Regimeeliten ihren Einfluss in einer Post-Bouteflika Ära vergrößern wollen. Inwiefern die fragmentierte Opposition in dieser Zeit eine bedeutende und gestaltende Rolle spielen wird, ist angesichts eines bislang fehlenden gemeinsamen Vorgehens jedoch fraglich. Zudem gibt es im Land trotz Repressionen durchaus immer wieder Proteste. Nach Aufrufen in sozialen Medien gingen am 22. Februar tausende Menschen in mehreren Städten des Landes, trotz Demonstrationsverbots auch in der Hauptstadt Algier, gegen die fünfte Kandidatur Bouteflikas auf die Straße. Weitere Demonstrationen sind geplant, unter anderem ruft das Bündnis Mouwatana dazu auf. Die Gegenkandidaten Ali Benflis und Ali Ghediri forderten von der Regierung angesichts der Proteste, den Willen der Bevölkerung anzuerkennen und die Kandidatur Bouteflikas zurückzuziehen. So befindet sich Algerien vor der anstehenden Wahl im April in einer äußerst angespannten Situation, die jederzeit durch ein vorzeitiges Ausscheiden Bouteflikas aufgrund seines Gesundheitszustands neue Dynamiken bei Regimeeliten, Oppositionsparteien und Bevölkerung freisetzen kann. Diese könnten zu einem Ende des politischen Stillstands führen, bergen aber auch Risiken für die Stabilität des Landes. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Proteste in den nächsten Wochen weiter ausbreiten.
Für Deutschland und Europa ist die Zukunft Algeriens in mehrerer Hinsicht wichtig. Erstens verfügt das Land über große Erdöl- und Gasvorkommen und ist somit von strategischer Bedeutung. Zweitens spielt Algerien im Kampf gegen den Terrorismus eine wichtige Rolle. Eine größere Instabilität in Algerien würde letztlich auch die regionale Stabilität und Sicherheit weiter negativ beeinflussen. Drittens ist Algerien gerade in den vergangenen Jahren verstärkt ins Blickfeld der deutschen und europäischen Migrationspolitik gerückt. Die Debatte um die Einstufung als sicheres Herkunftsland und damit verbundene Rücknahme abgeschobener Asylbewerber verdeutlicht dies. Die zunehmend schlechte Wirtschaftssituation verstärkt zudem den Migrationswunsch vieler Algerier. Ein stabiles und demokratisches Algerien, das seiner Bevölkerung politische Rechte gibt und auch wirtschaftlich eine Perspektive bieten kann, ist daher im Interesse Deutschlands und Europas. Wie der Weg dorthin aussehen wird, ist allerdings vor der Präsidentschaftswahl im April, nach der Präsident Bouteflika vermutlich seine fünfte Amtszeit antreten wird, völlig unklar. Die Stabilität, die sich das Regime von dieser Kontinuität erhofft, ist jedoch schon jetzt nur noch eine Fassade.
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