Reportajes internacionales
In seiner Rede verteidigte Piñera das Vorhaben vehement. Chiles positives Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren könne in Zukunft nur durch eine nachhaltige Steigerung der Energieerzeugung und -versorgung gewährleisten werden, so das chilenische Staatsoberhaupt. Von der Opposition hagelte es hingegen Kritik.
Chiles Präsident Piñera, seit März 2010 im Amt, ist derzeit nicht zu beneiden. Die ersten Monate seiner Amtszeit waren durchaus positiv verlaufen. Der schwerreiche Unternehmer konnte im Januar 2010 als erster Kandidat der Mitte-Rechts-Parteien seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahre 1989 die Wahlen um die Präsidentschaft Chiles gewinnen. Der Wiederaufbau des Landes nach dem verheerenden Erdbeben vom 27. Februar 2010 sowie die spektakuläre Rettung der 33 verschütteten Minenarbeiter im August desselben Jahres verhalfen dem neuen Präsidenten zu einem weiteren Popularitätsschub. Seitdem hat sich das Blatt jedoch gewendet. Zahlreiche innenpolitische Konflikte, teils heftige Auseinandersetzungen mit der Opposition sowie eine allgemeine Unzufriedenheit über den politischen Kurs der Regierung haben in den letzten Monaten dafür gesorgt, das Ansehen des an der Macht stehenden Parteien-Bündnisses „Coalición por el Cambio“ und insbesondere des Präsidenten in der Bevölkerung zu belasten.
Nachdem es Anfang des Jahres in der Region Magallanes zu mehrwöchigen Unruhen angesichts einer von der Regierung geplanten Gaspreiserhöhung (welche die Bevölkerung in der südlichsten und kältesten Region Chiles besonders hart getroffen hätte) gekommen war, wurden alleine im vergangenen Monat im ganzen Lande zahlreiche Demonstrationen gegen die Politik der Regierung organisiert. Eine Woche vor Piñeras Regierungserklärung gingen in der Hauptstadt Santiago 15.000 Studierende und Dozenten auf die Straße, um ihren Unmut gegenüber dem chilenischen Hochschulsystem zum Ausdruck zu bringen. Kritisiert wurde insbesondere die staatliche Finanzierung von Privatuniversitäten, des Weiteren forderten die Demonstranten einen besseren Hochschulzugang sowie mehr öffentliche Mittel für Studenten aus ärmeren Schichten. An den darauffolgenden Tagen kam es im ganzen Land zu weiteren Tumulten, die sich in erster Linie gegen den geplanten Bau eines massiven Wasserkraftwerks im Süden des Landes in der Region Aysén richteten.
Besagtes Projekt ist in Chile schon seit Jahren hoch umstritten. Nach Meinung von Kritikern müssten durch den Bau der insgesamt fünf Staudämme im chilenischen Teil Patagoniens circa 6.000 Hektar überflutet werden. Ferner würden zahlreiche Naturschutzgebiete durch den Bau der Stromleitungen, die benötigt werden, um die gewonnene Energie in die Hauptstadt Santiago zu transportieren, in Mitleidenschaft gezogen werden. Laut den jüngsten Meinungsumfragen lehnt eine deutliche Mehrheit, nämlich drei von vier chilenischen Bürgern, dieses Großprojekt ab. Befürworter argumentieren derweil, dass Chile seinen „komparativen Kostenvorteil“ bei Wasser ausnutzen müsse. Durch den Bau der fünf Staudämme würden 2.750 Megawatt Energie erzeugt werden. Die Alternativen zur Energieerzeugung seien entweder kostspieliger (Solar, Wind), würden der Umwelt schaden (Öl, Kohle, Erdgas) oder seien mit hohen Risiken verbunden (Kernenergie).
Nachdem das kontroverse Megaprojekt wenige Tage vor Piñeras Rede von einer regionalen Umweltkommission mit großer Mehrheit bewilligt worden war, riefen verschiedene Umweltorganisationen und Naturschutzverbände zu landesweiten Großdemonstrationen auf. Allein am Tag vor der Regierungserklärung gingen in Santiago und Valparaíso schätzungsweise 40.000 bzw. 10.000 Menschen auf die Straße, um ihrem Unmut gegenüber dem Bauvorhaben Luft zu machen. Obwohl die Proteste größtenteils friedlich verliefen, kam es in mehreren Städten Chiles auch zu vereinzelten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den vor allem jugendlichen Demonstranten und den Sicherheitskräften. Zahlreiche Autos und Geschäfte wurden zerstört. Die Polizei ging mit Wasserwerfern und dem Einsatz von Tränengas gegen die Randalierer vor. Laut Medienberichten wurden am Samstag rund 120 Menschen vorübergehend festgenommen. Staatspräsident Piñera verurteilte die Ausschreitungen aufs Äußerte: „Die Gewalt wird in diesem Land nie das letzte Wort haben!”
Auch die Ablehnung der Bevölkerung gegenüber HidroAysén sei nicht nachvollziehbar. „Es kann nicht sein, dass wir uns alle einig sind, dass Chile in Zukunft mehr Energie braucht und wir gegenwärtig auch bereit sind, diese Energie großzügig in Anspruch zu nehmen, uns dann aber gegen alle Formen ihrer Erzeugung stellen“, so das Staatsoberhaupt in Hinblick auf die landesweiten Proteste. In seiner Rede stellte Piñera den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung Chiles in den letzten Jahren heraus. Um diese positive Entwicklung und das starke Wirtschaftswachstum aber auch in Zukunft zu gewährleisten, ist nach Auffassung des chilenischen Präsidenten eine Steigerung der Strom- und Energieerzeugung jedoch unabdingbar: „Ich habe mein Engagement für die Umwelt ganz klar zum Ausdruck gebracht, gleichzeitig habe ich aber auch eine sehr klare Verpflichtung hinsichtlich der Entwicklung unseres Landes”. Erneuerbare Energien würden derzeit lediglich drei Prozent des chilenischen Energiebedarfs decken, weshalb man in Zukunft nicht auf Wasserkraftwerke wie HidroAysén verzichten könne. Mit Blick auf die angespannte Lage rief Piñera bei seiner Rede zur nationalen Einheit auf und versprach die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Bestimmung der künftigen Umweltpolitik des Landes mit Vertretern der Politik und der Bürger.
Wie die Bevölkerung scheint sich auch das oppositionelle Mitte-Links-Bündnis vermehrt gegen HidroAysén zu stellen. So wurde die fast zweistündige Rede Piñeras mehrfach durch Zwischenrufe und Pfiffe von Senatoren und Abgeordneten der „Concertación“ unterbrochen. Dieses Benehmen wurde in Regierungskreisen scharf kritisiert. Die Tatsache, dass die Opposition den Bau des Staudamm-Projekts in den Jahren an der Macht jahrelang unterstützt habe, würde belegen, dass sie nun aus der öffentlichen Ablehnung gegenüber dem Vorhaben Profit ziehen wolle. In der Tat muss man fairerweise anerkennen, dass Piñera viele der derzeitigen Maßnahmen und Probleme, die in der Bevölkerung auf Ablehnung stoßen, von der Concertación „geerbt“ hat. Seine seit Monaten enttäuschenden Umfragewerte sind daher nicht nur auf seine eigene Politik zurückzuführen. Auch hatte es mit der Opposition in den Tagen vor der Rede zahlreiche Verstimmungen gegeben, z.B. hinsichtlich des neuen Mutterschaftsgesetzes oder der Reform des Kupfergesetzes zur Finanzierung der Verteidigungsausgaben. Mehrere Mitglieder der Opposition, die sich lange quer gestellt hatten, kritisierten das „offensichtliche“ Bestreben Piñeras, rechtzeitig bis zum 21. Mai zahlreiche Gesetzesvorhaben im Parlament abzusegnen, um in seiner Rede noch einige Erfolgsmeldungen verkünden zu können.
Angesichts des Konflikts um HidroAysén gerieten andere Themen der Rede eher in den Hintergrund. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Piñera in seiner ersten Regierungserklärung vor einem Jahr dem Thema der nachhaltigen Entwicklung und der Energiesicherheit Chiles kaum Beachtung geschenkt hatte. Damals hatte der Präsident seine Rede dazu benutzt, die sieben Prioritäten für seine vierjährige Amtszeit zu präsentierten. Hierzu zählten unter anderem ein andauerndes Wirtschaftswachstum von jährlich 6 Prozent, die Beseitigung der absoluten Armut, die Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens oder die Implementierung einer Reihe von politischen Reformen zur weiteren demokratischen Konsolidierung des Landes. Das Thema Energie gehörte überraschenderweise nicht dazu.
Die Behauptung, der Ausbau der erneuerbaren Energien hätte sich nicht auf der politischen Agenda des Präsidenten in den ersten Monaten seiner Amtszeit befunden, wäre jedoch eine Fehleinschätzung, wie die Schaffung eines Energieministeriums oder die Verkündung zahlreicher ambitiöser Ziele (wie z.B. einen Anteil an erneuerbaren Energien in der Stromerzeugung von 20 Prozent bis zum Jahre 2020 zu ereichen) belegen. Angesichts der hohen Sprengkraft des Themas steckte hinter Piñeras Entscheidung sicherlich auch eine Menge politisches Kalkül sowie die Hoffnung, sich der Frage der sicheren und nachhaltigen Energieversorgung Chiles eher unauffällig im Stillen widmen zu können. Dies dürfte angesichts der öffentlichen Ablehnung gegenüber HidroAysén nun nicht mehr möglich sein – die Regierung wird in den nächsten Monaten eine aggressive Kampagne starten müssen, um die Bevölkerung von den vermeintlichen Vorzügen des Projekts zu überzeugen.
Angesichts des hohen Bedarfs an Energie steht in Chile seit längerem auch die Nutzung von Atomenergie auf der politischen Agenda. Laut Energieminister Laurence Golborne gegenüber der Presse Anfang des Jahres ist die Atomenergie „eine der vielen Optionen, die wir analysieren müssen“. Selbst nach der jüngsten Reaktorkatastrophe von Fukushima und der Tatsache, dass die Kernenergie in Chile wie in Japan aufgrund der hohen Erdbebengefährdung mit einem überdurchschnittlichen Risiko verbunden wäre, ist diese Form der Energieerzeugung noch nicht vom Tisch. So wurde u. a. im Vorfeld der Reise des US-Präsidenten Barack Obama nach Chile Mitte März ein bilaterales Abkommen zur nuklearen Zusammenarbeit unterzeichnet, wenngleich dieses laut Regierungssprecherin Ena von Baer lediglich auf eine „Verbesserung des wissenschaftlichen Austauschs“ ausgerichtet sei. In seiner Rede äußerte sich Piñera zum Thema lediglich am Rande und versprach, dass die Regierung während seiner Amtszeit keine Entscheidung hinsichtlich des Baus von Kernkraftwerken treffen werde.
Mit Blick auf die bereits erwähnten sieben Prioritäten seines Regierungsprogramms habe man nach Meinung des Präsidenten auf allen Gebieten wichtige Fortschritte erzielen können. So betonte das Staatsoberhaupt unter anderem, dass die Wirtschaft des Landes seit seiner Amtsübernahme um 7,2 Prozent gewachsen sei („die höchste Rate in der Geschichte des Landes“) und gleichzeitig 487.000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden seien. Die Opposition ist in dieser Frage erwartungsgemäß anderer Ansicht. Eine im Vorfeld der Regierungserklärung veröffentlichte Studie des Centro Democracia y Comunidad (CDC), der neuen Partnerorganisation der Konrad-Adenauer-Stiftung in Chile, kam zum Ergebnis, dass bisher lediglich 14 Prozent der Versprechen, die Piñera vor einem Jahr verkündet hat, erfüllt worden seien.
In seiner Rede gab der Präsident ferner die Schaffung von zwei neuen Ministerien für die Bereiche Kultur und Sport sowie von zwei Staatssekretariaten (subscretarías) für die Bereiche Menschenrechte und Höhere Bildung bekannt. Auch auf das angesichts einer Reihe von Grenzstreitigkeiten angespannte Verhältnis zu den Nachbarländern Peru und Bolivien kam Piñera ausführlich zu sprechen. Das Vorgehen beider Länder, vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag einen autonomen Zugang zum Meer (angestrebt im Falle Boliviens) bzw. eine Revidierung der maritimen Grenze (laufend im Falle Perus) einzufordern, würde die bilateralen Beziehungen nachhaltig belasten, so das chilenische Staatsoberhaupt.
Temas
Proporcionado por
Oficina de la Fundación Chile
Sobre esta serie
La Fundación Konrad Adenauer está representada con oficina propia en unos 70 países en cinco continentes . Los empleados del extranjero pueden informar in situ de primera mano sobre acontecimientos actuales y desarrollos a largo plazo en su país de emplazamiento. En los "informes de países", ellos ofrecen de forma exclusiva a los usuarios de la página web de la fundación Konrad Adenauer análisis, informaciones de trasfondo y evaluaciones.