Prof. Dr. Norbert Lammert, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, begrüßte die rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur mittlerweile 19. Veranstaltung der Gesprächsreihe „Die Ära Kohl im Gespräch“. Er unterstrich, dass deren Ziel nicht die „Arbeit am Denkmal“ sei, sondern ein Beitrag zur kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Bundesrepublik und der CDU, die zu den in der Satzung festgeschriebenen Aufgaben der Stiftung zähle. Helmut Kohl, der ein bekennender Vertreter der Ökumene gewesen sei, habe um die Bedeutung von Kirche und Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewusst. Dennoch sei er – wenn für nötig erachtet – vor Konflikten mit der Amtskirche nicht zurückgeschreckt. Dass das Thema „Helmut Kohl und die Kirchen“ in dem Jahr aufgegriffen werde, indem die Mitglieder der Kirchen sich in Deutschland erstmals in der Minderheit befinden, verleihe ihm zusätzliche Aktualität.
Prof. Dr. Markus Raasch (Mainz) behandelte das Thema „Die Katholische Kirche und die Politik in der Ära Kohl“ angesichts des bisher sehr lückenhaften Forschungsstandes am konkreten Beispiel der Auseinandersetzung um die Konfessionsschule in Rheinland-Pfalz. Hier habe es seit den frühen 1960er Jahren heftige Kritik an der nach NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg wiederhergestellten konfessionellen Trennung im Bildungswesen gegeben. Sie kam auch vom Koalitionspartner FDP, während die CDU in dieser Frage gespalten war und die katholischen Bischöfe, gestützt auf das Reichskonkordat, vehement ein Festhalten am konfessionell gegliederten Schulsystem verlangten. Helmut Kohl, der allzu starke politische Einflussnahmen von außerhalb des Parlaments grundsätzlich ablehnte und stets betonte, die CDU sei „keine Kirchenpartei“ bemühte sich um einen überparteilichen Schulkompromiss. Er kannte die demoskopischen Befunde, wonach die Bevölkerung mehrheitlich die Einführung christlicher Gemeinschaftsschulen befürwortete. Gemeinsam mit SPD und FDP wurde am 1. März 1967 ein „Ur-Antrag“ zur Reform des Schulwesens eingebracht, ohne dass die Bischöfe die Möglichkeit zur Mitsprache bekamen. Unmittelbar danach suchte Kohl allerdings wieder das Gespräch mit der Kirche und signalisierte die Bereitschaft, ein „großzügiges Privatschulgesetz“ einzuführen, um so die Fortexistenz konfessioneller Schulen zu ermöglichen. Auch ließ er gegenüber den Bischöfen durchblicken, dass die CDU die einzige parteipolitische Option sei, ihre Interessen auch in Zukunft erfolgreich einbringen zu können. Raasch betonte, dass bei vergleichbaren Problemlagen die Reaktionen und Handlungen Kohls ein ähnliches Muster aufgewiesen hätten: Er habe immer „dem Volk aufs Maul geschaut“, die Kontakte zur Kirche gesucht, ohne den Dissens zu scheuen, darauf geachtet, die CDU nicht als katholische Partei zu positionieren und dem innerparteilichen Konfessionsproporz stets große Aufmerksamkeit gewidmet.
Prof. Dr. Jürgen Plöhn (Halle-Wittenberg), der über das Thema „Die EKD und die CDU in der Ära Kohl: eine komplexe Beziehung“ sprach, wies darauf hin, dass die Vielgestaltigkeit und Vielstimmigkeit der evangelischen Kirchen eine gewisse Parallele zur föderalen Struktur der CDU aufweise. Dass daher innerhalb des deutschen Protestantismus häufig ein inhomogenes Meinungsklima geherrscht habe – etwa zur Friedensthematik – und politische Stellungnahmen oft nicht widerspruchsfrei gewesen seien, habe immer wieder Gesprächs- und Anknüpfungspunkte für protestantische CDU-Politiker geboten. Helmut Kohl habe stets auf eine starke Vertretung der evangelischen Mitglieder in den Führungsgremien der Partei geachtet und die Wahl protestantischer Persönlichkeiten in hohe Staatsämter gefördert, um Identifikationsangebote für die evangelische Wählerschaft zu schaffen. Dennoch seien während seines Parteivorsitzes die Protestanten in einer „doppelten Minderheitenposition“ gewesen: Sie hätten innerhalb der CDU mit dem Evangelischen Arbeitskreis die konfessionelle und in den Gremien der evangelischen Kirche die politische Minderheit gebildet.
Dr. Michael Borchard, Leiter der Hauptabteilung WD/ACDP, sprach zum Thema „Helmut Kohl, das Judentum und Israel“. Kohl habe eine starke Affinität zum Judentum gehabt, die – wie er selbst wiederholt betonte – auf die Erziehung und Prägung durch seine Mutter, aber auch auf seine religiöse Einstellung und seinen Katholizismus zurückging. Die Erinnerung und das Gedenken an die Untaten der NS Zeit zu bewahren, sei Kohl ein tief empfundenes Anliegen gewesen. Er habe stets die Gemeinsamkeiten von Juden und Christen betont und die durch die Shoah bedingte, besondere Verantwortung der Deutschen für Israel und das Judentum hervorgehoben. Mit dem Abkommen, das er gemeinsam mit dem damaligen Zentralratsvorsitzenden Heinz Galinski zur Aufnahme von Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion auf den Weg gebracht habe, habe er einen entscheidenden Beitrag zur Zukunft der jüdischen Gemeinden in Deutschland geleistet und damit eine Tat vollbracht, die vielleicht nicht mit der Deutschen Einheit und der europäischen Integration gleichzusetzen sei, aber ebenfalls das Antlitz unseres Landes verändert habe.
Prof. Dr. Detlef Pollack (Münster) zeichnete unter der Überschrift „Eine säkularisierte ´Bonner Republik´?“ den religionssoziologischen Kontext nach. Dieser sei von einem fortschreitenden Prozess der Säkularisierung gekennzeichnet gewesen, über dessen Ursachen unterschiedliche Auffassungen innerhalb der soziologischen Forschung bestünden. Augenfällig sei der anhaltende Rückgang der Zugehörigkeit zu den Kirchen, wobei vor allem seit den 1970er Jahren starke Abbrüche der religiösen Sozialisation zu erkennen seien, weil etwa immer mehr Eltern ihre Kinder nicht mehr taufen ließen. Zwischen der Mitte der 1960er Jahre und der Mitte der 1970er Jahre sei außerdem eine dramatische Abnahme der religiösen Praxis, das heißt zum Beispiel des Besuchs von Gottesdiensten, zu verzeichnen; seither habe es eine kontinuierlich weitergehende Aushöhlung in diesem Bereich gegeben. Zudem hätten sich die Säkularisierungsprozesse mit einem Prozess der „Individualisierung des Religiösen“ verknüpft: Die Gottesvorstellung vieler Menschen habe sich zunehmend von den Lehren der Kirchen gelöst und sich – wie Pollack es nannte – „verflüssigt“. Diese Prozesse verliefen weitgehend abgekoppelt vom Verhalten der Kirchen, wie die fast vollständig synchronen Austrittskurven beider Kirchen zeigen.
Prof. Dr. Antonius Liedhegener (Luzern) konnte wegen Krankheit seine „Religionsstatistische(n) Überlegungen zur Ära Kohl“ nicht selbst vortragen. Der Vortrag wurde von Markus Lingen, Mitarbeiter der Abteilung Publikationen/Bibliothek, verlesen. Auch Liedhegener betonte das Phänomen der Individualisierung und Entinstitutionalisierung des religiösen Lebens in Deutschland. Der starke Rückgang der kirchlichen Bindungen seit 1970 habe auch zum Verlust bis dato verbindlicher Wahlnormen geführt, wenngleich die CDU/CSU bis heute einen überproportional hohen katholischen Wähleranteil aufweise. Die Konfessionszugehörigkeit stelle nach wie vor einen wichtigen Faktor des Wahlverhaltens dar. Wegen des Rückgangs der Kirchenzugehörigkeit und der aktiv praktizierten Religiosität fielen die Auswirkungen auf das Wahlergebnis jedoch zunehmend schwächer aus.
Im abschließenden, von Michael Borchard moderierten Zeitzeugengespräch zwischen der ehemaligen Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Rita Waschbüsch, dem Mitgründer des „Demokratischen Aufbruchs“ und ehemaligen Minister für – wie dieser ausdrücklich betonte – Abrüstung und Verteidigung der DDR sowie langjährigen CDA-Vorsitzenden, Rainer Eppelmann, dem langjährigen Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Dr. Hans Langendörfer SJ, und dem Ehrenvorsitzenden der Konrad Adenauer Stiftung, Prof. Dr. Bernhard Vogel, wurde nochmals betont, dass ein aus dem christlichen Glauben resultierendes Verantwortungsgefühl eine Motivation für Helmut Kohl gewesen sei, sich in der Politik und in der CDU zu engagieren. Sein bisweilen ostentativ betonter Katholizismus sei authentisch gewesen. Frau Waschbüsch unterstrich die angesprochene Konfliktbereitschaft Kohls gegenüber der Amtskirche durch den Hinweis, dass dieser nach dem Ausstieg der katholischen Kirche aus der Schwangerschaftskonfliktberatung von Anfang an den von ihr und Bernhard Vogel mitgegründeten Verein Donum Vitae unterstützt habe. Pater Langendörfer wie auch Bernhard Vogel betonten, dass Kohl zum Mainzer Kardinal Lehmann ein sehr gutes, wenn auch von Spannungen nicht freies Verhältnis gehabt habe. Beim Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meisner habe es sich dagegen um ein „Nichtverhältnis“ gehandelt.
Wie bei den vorausgegangenen Veranstaltungen der Reihe „Die Ära Kohl im Gespräch“ werden auch die Beiträge dieser Tagung in den von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen „Historisch-Politischen Mitteilungen“ veröffentlicht und so allen Interessierten und der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht.
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