Informes sobre los eventos
Ganz herzlichen Dank, liebe Frau Schorpp.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wir kennen es alle aus den Medien, aus unzähligen
Fernsehsondersendungen: Im monatlichen
oder zweimonatlichen Abstand
nehmen wir in der Öffentlichkeit wahr, dass
es in der Bundesrepublik Deutschland wieder
einmal einen Fall von Kindesvernachlässigung,
von Kindestötung, von unglaublichen
Missständen in einer Familie gegeben
hat. Ein Fall, auf den man vielleicht hätte
vorher aufmerksam werden können, ein
Fall, von dem in seiner Entwicklung vielleicht
sogar relativ viele Menschen gewusst
haben, ein Fall, der dann aber entweder in
den Mühlen der Administration hängen
geblieben ist oder für den sich niemand in
der Nachbarschaft zuständig gefühlt hat,
denn man nahm an, die Behörden würden
sich schon darum kümmern. Und was geht
mich das Kindergeschrei in einer Nachbarwohnung
an? Was interessiert mich, wenn
ich feststelle, dass ein Drogenabhängiger
oder ein drogenproblematisches Paar gemeinsam
mit einem Kind in einer Wohnung
lebt? Vielleicht mache ich mir zwar durchaus
Sorgen um das Wohl des Kindes, sage aber
dann schließlich doch: Jeder muss seine
Dinge selbst regeln! Und Behörden, Allgemeinheit,
irgendjemand wird sich schon
kümmern.
Wir kennen auch viele Fälle, in denen Jugendbehörden
rechtzeitig Hinweise auf bestimmte
Gefährdungslagen bekommen haben.
Sie haben dann jedoch nicht eingegriffen
– keineswegs aus Fahrlässigkeit, nicht,
weil sie zu faul waren oder keine Lust hatten.
Die geltende Rechtsprechung legt die
Hürden für die Jugendbehörden sehr hoch
für Interventionen, die wirklich in den Kernbereich
des Artikels 6 des Grundgesetzes eingreifen,
es dann zunächst mit ambulanter Hilfe versucht
und einen Sozialarbeiter hingeschickt.
Dieser hat sich vielleicht gekümmert,
aber 14 Tage oder drei Wochen später
stellt man fest, dass in der Zeit zwischen
Kümmern und Verbleib in seiner Familie, in
der es eigentlich wohl behütet sein sollte,
das Kind dann zu Tode gekommen ist.
Solche Fälle lösen jedes Mal die gleichen
Muster und Reflexe aus, Reflexe, die wir im
Saarland nicht länger mitmachen wollten,
wegen derer wir gehandelt haben.
Was geschieht nämlich dann? Alle sind betroffen,
alle sagen: Das darf nicht passieren!
Wir müssen eine neue Kultur des Hinschauens
konstruieren! Wir müssen aufpassen,
es muss eine Gesellschaft der Nachbarschaftskultur
entstehen! Der eine schreit:
„Das Kinder- und Jugendhilfegesetz muss
geändert werden!“ Der andere schreit: „Die
Kinderärzte müssen besser aufpassen!“
Und dann kommt nach drei oder vier Tagen
ein Erdbeben in Kasachstan oder ein Grubenunglück
irgendwo in der Welt – und das
Thema verschwindet aus der Öffentlichkeit,
bis der nächste Fall die Medien beschäftigt
und alles von vorn beginnt.
Wir haben gesagt: Wir müssen handeln,
wenn wir vernünftige Politik betreiben wollen
in diesem Bereich. Hier geht es darum,
Menschen zu schützen, die sich selbst noch
nicht artikulieren können. Diese kleinen
Kinder können noch kein Pappschild schreiben,
um eine Demonstration zu veranstalten,
sie können sich noch nicht an jemanden
wenden und sagen: Hilf mir.
Wir müssen den Schutz zuverlässiger gestalten.
Dazu müssen wir ein Modell konstruieren,
das auf zwei Säulen ruht, das
uns unabhängig macht von den Beliebigkeiten
und Zufälligkeiten des Alltages, von
Kommissar Zufall, der möglicherweise konstatiert,
dass irgendjemand etwas bemerkt
und vielleicht sogar etwas meldet, dass aber
eine geplante und gezielte Nachschau nicht
erfolgt. Diese geplante und gezielte Nachschau
ist die erste Säule.
Wir müssen aber zweitens den Familien
auch flächendeckend verlässliche und belastbare
Hilfsangebote machen. Denn, das
muss ich hier auch betonen, kaum ein Elternpaar,
das ich auch in meiner juristischen
Karriere kennen gelernt habe, hat
Kinder vernachlässigt, gequält oder gar getötet,
weil es bösartig auf die Welt gekommen
ist, oder weil es einen geheimen Plan
gab, der da lautete: Ich werde jetzt ein Kind
zur Welt bringen, um es dann am Ende in
fürchterlichster Weise zu misshandeln oder
zu töten.
Regelmäßig resultieren die Ereignisse, die
wir in der Öffentlichkeit wahrnehmen, aus
dem, was Sie eben genannt haben, Frau
Schorpp: aus Überforderung, Ohnmacht,
aus Suchtproblematik oder ähnlichem. Deshalb
muss eben Hilfe neben der Überwachung,
neben der Repression stehen. Anderenfalls
laufen wir Gefahr, einen Papiertiger
zu erzeugen, der allenfalls einige Obergerichtsvollzieher
ernährt, aber für das Kindeswohl
und dessen Beförderung überhaupt
nichts bringt.
Wir haben im Saarland gesagt: Wir versuchen
zunächst, eine bundeseinheitliche Regelung
zu schaffen, denn wir waren der Auffassung,
dass es verlässlicher ist, wenn die
Rahmenbedingungen in ganz Deutschland
einheitlich sind, was die Nachverfolgbarkeit
der Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen
angeht. Wir wollen eine solche Regelung,
auch um zu vermeiden, dass sich Leute
durch den Umzug von einem ins andere
Bundesland den Untersuchungspflichten
entziehen können.
Wir haben mehrere Versuche unternommen,
um das zu erreichen, und sind damit
bis heute kläglich gescheitert. Zwar fand am
19. Dezember der in den Medien stark beachtete
Kindergipfel im Bundeskanzleramt
statt, in dem man sich auf allgemeine Programmsätze
verständigt hat, seither ist in
konkreter Politik jedoch nichts geschehen.
Das ist aber wahrscheinlich der Weihnachtszeit
geschuldet und wir werden sicher in
den kommenden Wochen und Monaten
überall mit viel Kraft und Energie parteiübergreifend
handeln. Wenn nicht, werde
ich im Bundesrat erneut darauf dringen,
dass etwas geschieht.
Wir haben zwei Bundesratsinitiativen gestartet,
in denen wir zum einen die Einführung
der Verbindlichkeit der Kindervorsorgeuntersuchungen
und zum anderen eine
Verdichtung der Untersuchungsrhythmen
und eine Modifikation der Untersuchungsrichtlinien
gefordert haben. Denn es nutzt
überhaupt nichts, wenn es lange Lücken
zwischen einzelnen Untersuchungen gibt,
oder wenn zwar Untersuchungen stattfinden,
aber der Kinderarzt gemäß den Untersuchungsrichtlinien
eben nicht nach Anzeichen
der Vernachlässigung, des Missbrauchs,
der Misshandlung sucht, hierzu sogar
nicht einmal befugt ist.
Wir haben dann als weitere Komponente die
Abstimmung der vorhandenen Hilfsprogramme,
die es in jedem Land gibt, gefordert.
Jeder macht irgendetwas, von dem er
hofft, dass es gut sei, es wäre aber besser,
ein flächendeckendes Netz in der ganzen
Bundesrepublik Deutschland zu implementieren.
Beide Bundesratsinitiativen haben im Bundesrat
jeweils eine 16-zu-Null-Mehrheit gefunden.
Es scheint, als sei ich den Kollegen
aus den Ländern irgendwann so auf die
Nerven gegangen, dass sie gesagt haben:
Stimmen wir zu, dann ist er ruhig.
Beide Bundesratsinitiativen sind aber in den
Stellungnahmen der Bundesregierung – salopp
und unpolitisch formuliert - abgebügelt
worden. Die Bundesregierung verwarf
den Beschluss des Bundesrates aus grundsätzlichen
Erwägungen. Sie lehnt die Einführung
einer Verpflichtung zur Teilnahme
von Kindern an Vorsorgeuntersuchungen
ab, weil damit all diejenigen Eltern in der
Bundesrepublik Deutschland, die sich täglich
rührend um das Kindeswohl kümmern, unter
Generalverdacht gestellt würden. Das
heißt, bei diesen Eltern könnte dann der
Eindruck entstehen, dass Vater Staat mit
der Taschenlampe unter dem Bett nachsieht,
ob dort auch sauber gefegt ist. Und
dieser Generalverdacht, den es zweifellos zu
vermeiden gilt, war für die Bundesregierung
Anlass genug für die Ablehnung.
Daneben wurden von der Bundesregierung
verfassungsrechtliche Bedenken ins Feld
geführt, die lauteten: Man kann auf der Basis
des SGB 5, also des Rechtes der gesetzlichen
Krankenversicherung, keine verpflichtenden
Untersuchungen implementieren.
Hierzu bedürfe es landesgesetzlicher Grundlagen.
Das ist richtig.
Die Bundesregierung
hat also im Prinzip zwei Bundesratsinitiativen
ins Leere laufen lassen. Das hat mich
dazu bewogen, im vorletzten Jahr auf dem
Bundesparteitag meiner Partei gegen die
Bundesfamilienministerin, gegen die Bundesvorsitzende,
gegen die Antragskommission
in einer streitigen Diskussion einen Beschluss
herbeizuführen, der lautete: Wir
wollen die Einführung der bundesweiten
Verpflichtung zur Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen.
Ich war ganz stolz, als wir diesen Beschluss
hatten. Er hat für einigen Ärger gesorgt,
wie das immer ist, wenn man gegen die Antragskommission
angeht und dann auch
noch die Mehrheit bekommt. Dieser Stolz ist
aber sehr schnell einem tiefen Gefühl der
Frustration gewichen, weil nach dem Beschluss
genauso wenig passiert ist wie nach
den Beschlüssen des Bundesrates, nämlich
nichts. Das war Realpolitik und konkrete Politik
zum Anfassen: Zwei Beschlüsse des
Bundesrates 16:0, ein Beschluss des Bundesparteitages
der CDU mit Zweidrittelmehrheit,
Ergebnis: Keine Reaktion.
Hierauf hat die Landesregierung des Saarlandes
entschieden, dass genug kostbare
Zeit vergeudet worden ist, möglicherweise
auch schon zu Lasten von Kindern. Wir beschlossen,
nicht mehr über bundesweite Lösungen
zu diskutieren, sondern im Rahmen
unserer Möglichkeiten unser eigenes Modell
zu schaffen, ein Modell, das eben nur Wirkung
im Saarland hat, ein Modell, von dem
wir aber glauben, dass es ins Große übertragen
auch Vorbildcharakter für die Bundesrepublik
Deutschland haben kann.
Wir haben daraufhin im Februar des vergangenen
Jahres, also vier Monate nach
dem Bundesparteitag und dem Beschluss,
auf den ich so stolz war, die entsprechenden
gesetzlichen Vorkehrungen bei uns im
Lande getroffen. Ich will sie im Folgenden
kurz beschreiben, weil sie Ihnen zeigen sollen,
dass es eigentlich absolut simpel ist.
Ich nehme vorweg: Jede einzelne Überwachung,
jede einzelne Nachverfolgung der
Teilnahme an einer Vorsorgeuntersuchung
kostet pro Kind und Untersuchung – einschließlich
der Kosten der Hardware, mit
Personalkosten und mit den Kosten einer
möglichen Einladung - 2,70 Euro. Ein Kind
hat im frühen Kindesalter zwei bis drei Untersuchungen
pro Jahr, danach haben wir
etwa einen Abstand von einem halben Jahr.
Wir kommen damit auf eine Kostenbelastung
pro Kind und Jahr von etwa im Mittel
5,40 Euro. Hinzu kommen die Untersuchungskosten,
die von der gesetzlichen
Krankenversicherung bezahlt werden. Diese
Kosten sind meiner Sicht nicht nur angemessen,
sondern so marginal, dass allein
ihretwegen niemand sagen kann: Wir können
diese Untersuchung nicht implementieren,
weil sie zu teuer ist, weil sie den Staat
in den finanziellen Ruin treibt, weil sie möglicherweise
eben nicht implementierbar ist.
Der Landtag hat als Kernbestandteil ein Gesetz
zum Schutz von Kindern vor Vernachlässigung
und Missbrauch beschlossen. Die
Gesetzgebungskompetenz haben wir aus
dem öffentlichen Gesundheitsdienstgesetz
hergeleitet. In diesem Gesetz haben wir eine
Verpflichtung zur Teilnahme von Kindern
an den von der gesetzlichen Krankenversicherung
angebotenen Vorsorgeuntersuchungen
eingeführt. Wir haben das aus
meiner Sicht verfassungsrechtlich tragfähig
begründet mit den ansonsten drohenden
Gefahren für das Kindeswohl, mit der Argumentation,
dass Eltern, die ja in der Regel
keine Mediziner sind, dass Eltern also,
die mit ihrem Kind nicht an den Vorsorgeuntersuchungen
teilnehmen, dieses Kind in
seiner körperlichen und seelischen Entwicklung
gefährden. Dies gilt auch jenseits der
Frage, ob das Kind geschlagen und gequält
wird oder verhungern muss. Eltern können
Entwicklungsdefizite, gesundheitliche Beeinträchtigungen,
sonstige Anomalitäten in der
Regel nicht erkennen. Wenn man über Jahre
solche angebotenen Untersuchungen
nicht wahrnimmt, kann man manifeste Störungen
des Kindeswohles und der Gesundheit
des Kindes in Kauf nehmen. Dies ist
unserer Ansicht nach eine verfassungsrechtlich
tragbare Rechtfertigung für die Einführung
dieser Verpflichtung, die auch bisher
bei den rechtlichen Überprüfungen Bestand
hatte, die in der ersten Instanz bei uns im
Lande schon stattgefunden haben.
Diese Gesetzesänderung wurde kombiniert
mit der Änderung der Meldedatenübermittlungsverordnung,
die eine Verpflichtung der
Kommunen, der Einwohnermeldeämter statuiert,
jede neue Geburt und jeden Umzug
sofort an eine eingerichtete zentrale Screeningstelle
zu melden. Seit dem 01. April
2007 sind Meldesysteme und Meldedatenübermittlungsverordnung
in Kraft, seit diesem
Tag arbeitet die Screeningstelle. Es gab
einige Anlaufschwierigkeiten, aber seither
funktioniert das System absolut problemlos.
Es gibt keinerlei technische Schwierigkeiten,
deshalb ist es so billig. In dem Augenblick,
in dem ein Datensatz für ein Neugeborenes
beim Einwohnermeldeamt erhoben worden
ist, kann er, wenn die entsprechende
Rechtsgrundlage vorliegt, automatisch an
die zentrale Screeningstelle übermittelt
werden.
Wir haben darüber hinaus automatische
Möglichkeiten der Wiedervorlage, so dass
ganz klar ist, dass ein Kind, das vor 6 Monaten
geboren ist, in einem bestimmten Zeitfenster
an einer bestimmten Vorsorgeuntersuchung
teilnehmen muss. Wir haben die
technischen Möglichkeiten, wenn keine entsprechende
Vollzugsmeldung durch einen
Kinderarzt erfolgt, bis zu einer Mahnung ein
vollautomatisiertes Verfahren durchzuführen.
Im Prinzip muss kein Mensch eingreifen,
es wird nur sicher gestellt, dass bestimmte
Dinge erfolgt sind, damit kein Kind
durch den Rost fällt. Und damit sich am Ende
niemand sagen muss: Das hätten wir
doch merken müssen - und wieso haben wir
es nicht gemerkt?
Mit diesem Verfahren haben wir sicher gestellt,
dass solche Nachlässigkeiten nicht
geschehen können.
Ich sage an der Stelle ausdrücklich: Ich
kann auch mit unserem System nicht ausschließen,
dass morgen oder vielleicht
schon heute Abend Eltern ihre Kinder töten.
Ich kann Affekthandlungen nicht ausschließen,
das kann niemand auf dieser Welt. Ich
kann aber ausschließen, dass sich über teilweise
Monate und Jahre entwickelnde Notstände
unerkannt bleiben. Ich kann ausschließen,
dass ein Kind wirklich im Nirwana
verschwindet zwischen seiner Geburt und
dem gesetzlichen Einschultermin, wo es
zum ersten Mal wieder in das Visier öffentlicher
Stellen kommt.
Und hier ist ein Argument, das ich stets
verwende, wenn ich mit geneigten Teilen
der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit
die Frage diskutiere, ob es verhältnismäßig
und angemessen ist, dass der Staat sich in
die Privatsphäre von Familien einmischt, um
nachzuschauen, ob Mütter und Väter mit
ihren Kindern sorgsam umgehen, wo das
doch erkennbar von 60, 70, 80, vielleicht 85
oder 90 % der Eltern getan wird.
Ich sage ja! Ich sage ja, weil es kein Recht
der Eltern auf Vernachlässigung der Kinder
gibt. Und weil, auch wenn es nur fünf Prozent
Fälle sind, die bei einem solchen
Screening zutage treten, die Überwachung
und die Kontrolle der sonstigen Eltern ein
Preis ist, den ich zu zahlen bereit bin. Ich
halte ihn auch für verfassungsmäßig verhältnismäßig,
um das Wohl dieser fünf,
sechs oder sieben Prozent der akut gefährdeten
Kinder möglichst weitgehend zu sichern.
Und ein weiteres Argument muss ich an dieser
Stelle aufführen: Wer regt sich in der
Bundesrepublik Deutschland darüber auf,
dass in jedem Haushalt, in dem eine öloder
gasbetriebene Heizung im Keller steht,
mindestens einmal im Jahr ein Bezirksschornsteinfeger
kommt, um sich vor Ort
über das ordnungsgemäße emissionsrechtliche
Funktionieren dieser Heizungsanlage zu
informieren?
Keiner regt sich darüber auf. Jeder bezahlt
noch 34,87 Euro nach Tarif, damit diese
Kontrolle erfolgt, obwohl die Masse der Leute
ihre Heizung zuverlässig und regelmäßig
warten. Nach geltendem Recht kann in der
Bundesrepublik Deutschland im Kartoffelkeller
neben dem Heizungskeller im schlimmsten
Falle ein Kind gefangen gehalten werden,
was zwischen seiner Geburt und der
Einschulung keiner merkt, und wofür sich
auch niemand interessiert. Dafür ist auch
niemand in irgendeiner Form haftbar zu
machen, wenn es keine Anhaltungspunkte
gibt, die Jugendhilfe oder Jugendbehörden
zur Intervention bringen. Wenn die Nachbarschaft
gar nicht weiß, dass da ein Kind
im Keller ist, wird das niemand bemerken.
In dieser Lage muss ich die Frage stellen,
ob hier noch die Verhältnismäßigkeit in der
Gewichtung der Rechtsgüter gegeben ist,
oder ob es nicht vielmehr in der Tat richtig
war zu sagen, unser Modell ist verfassungsmäßig
zumutbar. Es ist auch verfassungsmäßig
verhältnismäßig im engeren
Sinne, eine solche zwangsweise Teilnahme
an den Untersuchungen im Gesetz zu implementieren.
Mit Rücksicht auf die Masse der Eltern, die
ihren Elternpflichten ordnungsgemäß nachkommt,
haben wir eine Screeningstelle mit
der Überwachung betraut, die bewusst nicht
bei einer staatlichen Behörde - nicht beim
Ministerium, nicht bei der Staatsanwaltschaft,
nicht bei der Justiz, nicht bei den
Jugendämtern - angesiedelt ist, sondern bei
der Universitätskinderklinik.
Wir wollen Eltern nicht kriminalisieren, die
ihre Kinder, aus welchen Gründen auch immer,
nicht zur Vorsorgeuntersuchung bringen.
Es kann ja mal passieren, dass man es
vergisst. Wir verhängen deshalb auch bewusst
keine Sanktionen, wenn Untersuchungstermine
nicht wahrgenommen werden.
Bei uns gibt es keine Bußgeldbescheide.
Wir kürzen auch kein Erziehungsgeld,
weil wir keines haben. Wir kürzen auch keine
sonstigen Leistungen, sondern wir wollen
nur ein Netz knüpfen, ein Netz, in dem eben
niemand durch den Rost fällt. Wir wollen
verlässlich sicher stellen, dass wir die Kinder
sehen, aber nicht die Eltern bestrafen.
Die Screeningstelle bekommt von den Kinderärzten
in einer internetbasierten und datengeschützten
Leitung in einem sehr einfachen
Verfahren die Teilnahme der Kinder
gemeldet, das ist wirklich ganz simpel. Am
Abend eines jeden Tages können wir genau
sagen, welche Kinder an welchem Tag bei
welchem Kinderarzt zur Untersuchung waren.
Wenn dann bestimmte Fristen überschritten
sind, erfolgen zwei Erinnerungsschreiben
in sehr kurzem Abstand, denn es
kann ja viel passieren in drei oder vier Wochen.
Wenn dann binnen dieser Frist keine
Reaktion der Eltern erfolgt, werden wir aktiv:
Dann rückt das Gesundheitsamt aus.
Ich habe mit Mitteln aus dem Landeshaushalt
bei allen Gesundheitsämtern im Land
eine halbe Kinderarztstelle und eine Sozialarbeiterstelle
geschaffen. Kinderarzt und
Gesundheitsamt deshalb, weil ich eben bewusst
noch einen Schritt zwischen dem
Screening und der Jugendhilfe und den Jugendbehörden
einbauen will und weil sehr
viele problemsensible Familien in prekären
Lebenssituationen panische Angst vor Jugendämtern
haben. Wenn das Jugendamt
kommt, glaubt man sofort, jetzt werden die
Kinder weggeholt und beginnt mit einer
Abwehrreaktion.
Wir wollen aber eben nicht sanktionierend
tätig werden, sondern wir wollen als
Dienstleister auftreten. Deshalb habe ich
die Überwachung bei den Gesundheitsämtern
angesiedelt.
Dies hat zur Folge, dass, wenn nach der
zweiten Erinnerung eine entsprechende Reaktion
nicht erfolgt ist, die Familie vom Gesundheitsamt
aufgesucht wird. Das Gesundheitsamt
vergewissert sich dann über
den Gesundheitszustand des Kindes. Es leistet
auch in vielen Fällen tatsächlich praktische
Hilfe mit Dienstleistungscharakter. Wir
haben Fälle erlebt, von denen wir gar nicht
geglaubt hätten, dass sie real existieren:
Wir haben eine ganze Reihe von Kindern,
die nicht zur Untersuchung gebracht wurden,
wo die Eltern sagen: Wir hätten das ja
gern getan, wir waren früher mal Selbstständige.
Wir haben uns in guten Tagen in
der privaten Krankenversicherung versichert.
Heute sind wir bettelarm, weil wir
Pleite gegangen sind. Wir kommen nicht
mehr in die gesetzliche Krankenversicherung
zurück. Unsere private Krankenversicherung
bezahlt die Vorsorgeuntersuchung
nicht, und die 87 Euro, die ich als PKVPatient
mit 2,7fachem Gebührensatz bezahlen
muss, die haben wir nicht. In diesen Fällen
haben meine Ärzte und die Ärzte der
Gesundheitsämter die Untersuchung vorgenommen,
damit war der Fall erledigt.
Neben einer ganzen Reihe von Fällen, in denen
wir Personen ohne Krankenversicherungsschutz
hatten, gab es auch sehr viele
Menschen mit Migrationshintergrund. Sie
hatten überhaupt nicht verstanden, wie unser
System funktioniert. Auch bei ihnen
mussten wir nicht mit großem Aufwand irgendwelche
Untersuchungstermine bei Kinderärzten
vereinbaren, sondern wir haben
vor Ort die entsprechende Vorsorgeuntersuchung
gemacht. Dies hat zur Folge, dass
das, was Gesundheitsämter tun, von den
Menschen nicht nur als nicht feindlich verstanden
wird, sondern mittlerweile hohe Akzeptanz
findet. Es heißt jetzt: Da kommt
das Gesundheitsamt, das hilft uns.
Wir setzen keinen Verwaltungsakt in Gang
und schicken auch keinen Bußgeldbescheid.
Niemand kommt mit Uniform und Mütze
und schlägt zu.
Vielmehr kommen unsere Mitarbeiter, und
wenn es eine Familienproblemlage gibt,
dann versuchen sie zunächst zu helfen.
Und wenn der Mitarbeiter nicht selbst helfen
kann, organisiert er Hilfe. Deshalb ist der
Sozialarbeiter beim Gesundheitsamt angesiedelt.
Erst wenn Anhaltspunkte für eine
tatsächliche Gefährdung des Kindeswohles
bestehen, wird das Jugendamt eingeschaltet.
Dann wird es natürlich kritisch, weil es
nach dem Instrumentarium des Kinder- und
Jugendhilfegesetzes abläuft. Da wird aus
dem Dienstleister dann eine Behörde, die
wirklich primär um das Kindeswohl besorgt
ist.
Bis auf eine Musterklage, die wir aber auch
bewusst provoziert haben, weil ich gerne
wissen will, ob mein Gesetz verfassungsgemäß
ist, haben wir bis heute keine einzige
negative Reaktion auf die Erinnerungsschreiben
bekommen. Kein Vater, keine
Mutter hat geschrieben und gesagt: Ich fühle
mich in irgendeiner Form herabgewürdigt
dadurch, dass Staat mich erinnert an eine
Untersuchung, die ich mit meinem Kind
nicht wahrgenommen habe. Ich fühle mich
unter Generalverdacht gestellt.
Im Gegenteil: Alle Reaktionen, die eingegangen
sind - und Saarländer sind sehr
schreibfreudig, die schreiben ganz böse Leserbriefe
und schreiben auch ganz böse
Mails - alle Reaktionen, die eingegangen
sind, betonen: Wir empfinden das als hilfreichen
Service. Wir waren im Urlaub. Wir
haben es vergessen. Wir sind umgezogen.
Dann kam der Brief, und das war in Ordnung.
Das bedeutet, dass das, was als zentrales
Argument der Bundesregierung gegen diese
Untersuchung ins Feld geführt wurde, von
den Menschen so nicht empfunden wird.
Ein Problem, das mit der Implementierung
verbunden war, hat uns vor sehr große
Schwierigkeiten gestellt: die Mitwirkung der
Ärzte. Die Kinderärzte waren zunächst Feuer
und Flamme. Das ist ja klar, denn man
kann die Teilnahme von 80 auf 100 Prozent
steigern. 20 Prozent mehr Fälle sind gut für
den Umsatz. Aber die Mitwirkung der Ärzte
bringt natürlich nur dann etwas, wenn sie
auch verlässlich über Auffälligkeiten bei den
Untersuchungen berichten. Auch hier hat
die gesamtgesellschaftliche Vogel-Strauss-
Politik ein Stück weit Platz gegriffen und
sehr viele Pädiater haben gesagt: Wir untersuchen
gerne alle, aber wir möchten nur
im alleräußersten Notfall über Auffälligkeiten
berichten, denn das könnte ja Scherereien
geben.
Dieses Problem haben wir gelöst: Die ohnehin
bestehenden Mitteilungsverpflichtungen
im Rahmen des Anwendungsbereiches der
ärztlichen Schweigepflicht, die es bei den
Staatsanwaltschaften gibt, werden von den
Ärztekammern als Handreichungen an die
Ärzte gegeben. Wir haben sie entsprechend
präzisiert und ganz klare Fallkonstellation
definiert, in denen Ärzte gehalten sind, Meldung
zu machen, ohne sich ihrerseits wegen
Verletzung ärztlicher Schweigepflicht, falscher
Verdächtigungen oder Verleumdung in
die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung zu
begeben.
Ich betone es noch ein Mal, meine sehr verehrten
Damen und Herrn, wegen der hohen
EDV-Dichte in diesem Verfahren kostet es
insgesamt - Hardware, Software, Personal -
ausschließlich der Untersuchung, die von
der gesetzlichen Krankenversicherung ja
ohnehin bezahlt wird, pro Kind und pro Untersuchung
2,70 Euro. Es läuft reibungslos
und hat Ergebnisse zutage gefördert, die ich
für das eher ländlich geprägte Saarland so
nicht für möglich gehalten hätte.
Wir haben nämlich jetzt verlässlich die Daten
der relativ wichtigen Untersuchung U 5
seit 01. April des vergangenen Jahres vorliegen.
Sie belegen, dass die Einführung einer
Untersuchungspflicht absolut richtig
war.
Ich habe vorher über dieses Thema mit dem
Wissen diskutiert, das man als Politiker hat,
wenn man sich damit befasst. Man hat an
einem Symposium teilgenommen, hat etwas
gehört, hat Aufsätze gelesen - alles wunderbar.
Und da habe ich gelernt, bei den
ersten Untersuchungen, also etwa bis zur U
7, U 8 haben wir Teilnahmequoten von
deutlich über 90 Prozent, je nach sozialem
Umfeld: In prekären gesellschaftlichen Bereichen
haben wir ein bisschen weniger, dafür
in der „Bourgeoisie“ faktisch 100 Prozent,
so dass man im arithmetischen Mittel
auf einen Wert von 92 oder 93 Prozent
kommt.
Mit diesem Wissen sind wir fröhlich pfeifend
in die U 5 gegangen und haben gesagt: Ja,
da werden wir ja auf weit über 90 Prozent
kommen.
Wir mussten dann aber feststellen, dass ohne
Intervention am Ende nur 78,8 Prozent
der Eltern mit ihren Kindern zu dieser so
wichtigen Untersuchungen gegangen sind.
78,8 Prozent, das heißt, mehr als 21 Prozent
haben nichts gemacht. Und wir haben
dann weiter festgestellt, dass man dann mit
sehr freundlich formulierter erster und zweiter
Mahnung weitere 17 Prozent dazu bewegen
kann, irgendetwas zu unternehmen.
In gut 3,5 % der Fälle musste das Gesundheitsamt
ausrücken und vor Ort aktiv werden.
Und in knapp einem Prozent der Fälle
hat das Gesundheitsamt am Ende die Akte
an das Jugendamt abgegeben, weil die Mitarbeiter
bei der Untersuchung beim Hausbesuch
festgestellt haben, dass sich hier
irgendwas anbahnt, was möglicherweise
problematisch ist.
Das sind Zahlen, die hätte ich so nicht erwartet,
Zahlen, die sich auf die U 5 beziehen,
die für die Entwicklung des Kindes, für
seine Gesundheit von erheblicher Bedeutung
ist. Das sind Zahlen, die mir sagen, die
2,70 Euro sind gut angelegtes Geld, und die
mich darin bestätigen, dass es richtig war,
dieses Screening einzuführen. Das ist der
eine Schritt. Er reicht aber nicht aus.
Parallel dazu haben wir die ohnehin schon
vorhandenen 44 unterschiedlichen Förderprogramme
für Problemfamilien um einen
weiteren Baustein ergänzt, „Keiner fällt
durchs Netz“. Wir haben flächendeckend ein
bereits partiell vorhandenes System von
Familienhebammen eingeführt, wie es sie
vor 20 oder 25 Jahren in der gesetzlichen
Krankenversicherung in wesentlich größerem
Umgang gegeben hat, als es heute Status
quo ist. Wir finanzieren für jeweils
40.000 Einwohner, das passt dann von den
Geburtenzahlen, jeweils eine Familienhebamme,
die nichts anderes tut, als sich um
Neugeborene und deren Familie zu kümmern.
Sie sucht ausnahmslos alle Familien
mit Neugeborenen auf. In den Fällen, in
denen nach ein, zwei Besuchen in freundschaftlicher
Atmosphäre klar ist, dass das
Kind wohl behütet und umsorgt ist, ziehen
sich die Familienhebammen zurück. In den
Fällen, wo man merkt, die Familie hat Probleme,
es fehlt an Geld, es gibt Suchtproblematik,
es gibt Unterbringungsprobleme,
die Eltern sind mit der Situation überfordert,
in diesen Fällen bleibt Familienhebamme
eben länger und intensiver in der Familie.
Sie bleibt maximal ein Jahr für maximal
zwei Stunden täglich in jeder Familie.
Das ist aus meiner Sicht die notwendige Ergänzung,
die Prävention zur Repression.
Sie bietet Hilfe, um andere Hilfen zu organisieren,
zum Beispiel eine Schuldnerberatung,
eine Drogenberatung oder ähnliches.
Und selbstverständlich wird täglich nach
dem Kind gesehen, ob es seine Mahlzeiten
bekommen hat, gewickelt ist, ob es ihm gut
geht.
Das haben wir parallel zu diesem „Überwachungs“-
Instrumentarium eingeführt. Das
System ist noch nicht flächendeckend vorhanden,
es befindet sich im Aufbau und soll
bis zum 01. Mai des laufenden Jahres flächendeckend
implementiert sein. Dann werden
wir, aus meiner Sicht, mit beiden Säulen
vernünftig aufgestellt sein.
Wir sind auch noch zusätzlich relativ gut
aufgestellt: Wir haben in allen Geburtskliniken
über Modellprojekte - das ist noch nicht
endgültig entschieden - bestimmte Frühwarnsensorien
errichtet. In Forschungsprojekten
wird der Versuch unternommen, in
der Phase der Geburtsvorbereitung und des
Aufenthaltes der Frau in der Klinik durch
Soziologen und Sozialarbeiter suchen zu
lassen nach bestimmten Alarmsignalen in
der Familie. So bekommt man schon in der
Geburtsklinik gezielt Meldung vo n behandelnden
Ärzten, Krankenschwestern oder im
Klinikum tätigen Hebammen, ob in einer
Familie spezieller Hilfsbedarf besteht, damit
man eben nicht am Ende – und damit bin
ich wieder am Anfang meiner Ausführungen
– sagen muss: Hätte man das doch gewusst,
jeder hat etwas gewusst, und keiner
hat das Wissen zusammengeführt. Dann
endet es mit einer Katastrophe, an deren
Ende ein totes Kind oder, was in manchen
Fällen noch viel, viel schlimmer ist, ein lebenslang
krankes behindertes Kind steht,
nur weil eben jeder ein bisschen wusste,
und keiner das Wissen zusammengeführt
hat.
Unser System funktioniert. Es ist relativ einfach
finanzierbar, weil wir die ohnehin von
der gesetzlichen Krankenversicherung finanzierten
Hebammenleistungen kombiniert
haben mit Landesmitteln und z.B. mit Mitteln
aus Lotterieerträgen. So kann man hier
für relativ wenig Geld und ohne mit anderen
Trägern der Jugendhilfe in Konkurrenz zu
treten, ein aus meiner Sicht relativ dichtes
Netz der Unterstützung knüpfen.
Und wir haben dieses Netz geknüpft.
Es läuft! Es ist lange nichts geschehen.
Dann haben wir einen Problemfall gehabt.
Am 19. Dezember auf dem Kindergipfel
wurde beschlossen, das Modell, was ich Ihnen
jetzt vorgetragen habe, im Wesentlichen
unmittelbar und unverzüglich in ganz
Deutschland einzuführen. In der Wiesbadener
Erklärung vor etwa einer Woche klang
das alles schon wieder ein bisschen weicher.
Dafür hat man dann irgendwelche Boot-
Camps errichten wollen oder was auch immer.
Ob die dann so hilfreich sind, das sei an anderer
Stelle diskutiert. Aber ich bin ja heute
als Gesundheits- und nicht als Justizminister
hier.
Faktum ist, ich bemerke immer noch flächendeckend
eine gewisse Verhaltenheit in
der Implementierung dieses Systems. Diese
Verhaltenheit muss aber durch die politische
Diskussion beseitigt werden. Ich möchte
nicht warten, bis die Schlagzeilen der Bildzeitung
auf Seite 1 den nächsten Fall beklagen.
Aber dann wird das politische Interesse
am Thema ganz sicher wieder hoch sein.
Was auf alle Fälle aber gesellschaftspolitisch
diskutiert werden muss - und das soll der
Abschluss sein -, damit wir aus dem Klein,
Klein, der hat dann die Meldedatenübermittlungsverordnung
geändert und so weiter
und so fort, herauskommen, ist die rechtspolitische
Frage, die auch eine familien- und
jugendpolitische Frage ist: Ob wir nämlich in
der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen
Jahren das jugendrechtliche, das
vormundschaftsrechtliche Eingriffsinstrumentarium
immer in der richtigen Art und
Weise ausgelegt und benutzt haben. Das
kann aber das Saarland nicht allein, dafür
brauchen wir den Bundesgesetzgeber.
Wie ich eingangs schon erwähnte, haben wir
inzwischen eine familiengerichtliche Rechtsprechung
– und sie hat gar nichts mit den
Jugendämtern zu tun -, die sagt, die Herausnahme
eines Kindes aus einer Familie,
um es in einer Pflegefamilie unterzubringen,
ist die absolute ultima Ratio. Sie kommt eigentlich
nur in Betracht, wenn wirklich Leib
und Leben des Kindes gefährdet und mehrere
Versuche der ambulanten Hilfe gescheitert
sind.
Das ist Ausdruck der hohen Bedeutung, die
die Gerichte dem Artikel 6 und dem natürlichen
Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung
der Kinder beigemessen haben.
Ich habe jahrelang selbst als christlich demokratischer
Politiker immer das hohe Lied
der Familie, ja fast der heiligen Familie gesungen,
und gesagt: Familie ist der beste
Ort für Kinder.
Wenn ich Realität in manchen Bereichen unserer
Gesellschaft betrachte, dann wage ich
zumindest zur Nachtzeit gelegentlich darüber
nachzudenken, ob dieser Programmsatz
immer und in jeder Situation der richtige
ist.
Wir müssen überlegen, ob wir nicht auch
fähig sind oder zumindest den Mut haben,
die Frage zu diskutieren, ob in der Rechtsprechung
der vergangenen Jahre und den
daraus folgenden Gesetzen immer die richtige
Gewichtung für die Entscheidung, Herausnahme
aus einer Familie oder Belassen
eines Kindes in der Familie, erfolgt ist.
Ich sage nein!
Wenn ich viele Fälle sehe - und ich sehe
sehr viele Fälle von Jugendämtern und Jugendbehörden
-, in denen sich Mitarbeiter
der Jugendämter über Jahre verzweifelt
bemüht haben, mit ambulanten Interventionen
entsprechende Veränderungen herbeizuführen,
immer gescheitert sind, in denen
alle Versuche, das Kind aus der Familie zu
holen, an Gerichtsentscheidungen gescheitert
sind - und am Ende war keiner Schuld.
Ein Richter, der entschieden hat, das Kind
bleibt in der Familie, ist durch die richterliche
Unabhängigkeit geschützt. Dann haben
wir eine Situation, wo dann jeder sagt: Ja
hätte man das gewusst, dann hätten wir
uns vielleicht anders entschieden.
Diese Diskussion müssen wir gesellschaftspolitisch
führen. Wenn meine Familienhebammen
zu mir kommen und sagen: Chef,
wir haben ein Problem: Das Kind hat wieder
Schläge bekommen, die Frau ist auch wieder
geprügelt worden, und der Alte säuft
und zieht irgendwelche Drogen rein, es
sieht aus wie im Schweinestall! Dann nützt
es mir überhaupt nichts, wenn wir einmal
die Woche oder zweimal oder dreimal die
Woche irgendjemanden hin schicken, der
stundenweise versucht, der Familie Struktur
zu geben.
Die Woche besteht aus 7 Tage à 24 Stunden.
Und wenn jemand, der sich selber
nicht wehren kann, 7 Tage, 24 Stunden irgendwelchen
Menschen bis auf wenige
Stunden ambulanter Intervention schutzlos
preisgegeben ist, dann ist das aus meiner
Sicht unverantwortlich. Mit Blick auf veränderte
Lebenswirklichkeiten, in denen soziale
Kontrolle an vielen Stellen nicht mehr funktioniert,
ist eine politische Entscheidung
notwendig. Auch der Bund muss sich seiner
Verantwortung stellen, weil diese Dinge
eben nur vom Bund bewegt werden können.
Alles, was auf unserer Ebene machbar war,
das habe ich gemacht im jugendlichen
Überschwang. Das haben wir gemacht, weil
wir gesagt haben: Hier können wir eben
nicht mittel- und langfristig warten, sondern
hier geht es darum, sofort Schäden von den
Kindern abzuwenden. Aber die notwendige
rechtspolitische Diskussion können wir nur
gemeinsam in der Bundesrepublik Deutschland
und mit der Bundesregierung führen.
Deshalb appelliere ich heute, jenseits der
verwaltungsmäßigen Abwicklung, jenseits
der Verfahren der Überwachung, jenseits
der Hilfsangebote und der bundesweiten
Vernetzung von Hilfsangeboten, diese Diskussion
zu führen.
Wir im Saarland sind zufrieden. Wir kontrollieren
jetzt flächendeckend alle Vorsorgeuntersuchungen.
Wir haben alle Kinder „auf
dem Radar“. Kritiker mögen sagen, das sei
ein weiterer Baustein im Überwachungsstaat.
Aber ich bin stolz auf das Erreichte,
denn wir tun etwas Vernünftiges. Dass es
vernünftig ist, lehrt mich nicht zuletzt der
Umstand, dass die mir nicht unbedingt parteipolitisch
zugetane, von Kurt Beck geführte
Landesregierung von Rheinland-Pfalz beschlossen
hat, ab dem zweiten Quartal dieses
Jahres sich unserem Verfahren anzuschließen.
Das heißt, sie übernehmen unser
Gesetz und unsere Meldedatenübermittlungsverordnung.
Die entsprechenden Lesungen
im Landtag in Mainz haben schon
stattgefunden. Das Screeningverfahren, also
dieses ganze Einbestellungswesen, wird
über die Screeningstelle unserer Universitätsklinik
laufen, das heißt, zwei Länder
werden von einer administrativen Stelle betreut
mit dem gleichen rechtlichen Hintergrund.
Ich verhandle im Augenblick mit
Baden-Württemberg, ob die auch mitmachen
wollen.
Dann würde man im Bedarfsfall
die Bundesrepublik Deutschland peu à
peu von Land zu Land aufrollen. Das ist zugegebenermaßen
aus dem Saarland etwas
schwer. Wir sind viel kleiner Berlin und sehr
weit weg. Deshalb haben wir halt sehr viel
aufzurollen. Aber wir sind unternehmenslustig
und munter!
Und in diesem Sinne hoffe ich jetzt auch auf
eine spannende Diskussion. Danke für Ihre
Aufmerksamkeit.
Temas
Proporcionado por
Politisches Bildungsforum Berlin
Sobre esta serie
La Fundación Konrad Adenauer, sus talleres de formación, centros de formación y oficinas en el extranjero ofrecen anualmente miles de eventos sobre temas cambiantes. Le informamos en www.kas.de acerca de una selección de conferencias, eventos, simposios etc. , de forma actual y exclusiva. Aquí, usted encuentra, además de un resumen en cuanto al contenido, materiales adicionales como imágenes, manuscritos de diálogos, vídeos o grabaciones de audio.
Obtener información sobre pedidos
erscheinungsort
Berlin Deutschland
Policy Atlas „Mieten, Kaufen, Wohnen”
Bits und Bytes für die globale Gesundheit: Chancen und Herausforderungen von Digital Health und KI
Europawahl 2024
Ghanas Parlament verabschiedet Anti-LGBTQ+ Gesetz
Liberalisierungsansätze auf Grundlage von reproduktiver Selbstbestimmung und ihre möglichen Folgen