Paul Linnarz leitet seit 2018 das Büro in Washington, D.C. der Konrad-Adenauer-Stiftung; derzeit befindet er sich in Berlin. Wir haben mit ihm über die gewaltsamen Proteste und deren Folgen gesprochen.
Herr Linnarz, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie gestern Abend die Bilder aus Washington, D.C. im Fernsehen gesehen haben?
Das waren natürlich schon erschreckende Szenen. Vier Menschen sind nach Medienberichten im und rund um den Kongress bei den Protesten ums Leben gekommen. Die Polizei war nach den Bildern, die ich in den US-Medien gesehen habe, von dem Ansturm zunächst völlig überfordert. Ich habe Demonstranten gesehen, die am Kongress Fensterscheiben eingeschlagen und wohl auch Reizgas gegen die Polizisten eingesetzt haben. Über Stunden hinweg war die Lage offenbar überaus chaotisch, angespannt und natürlich sehr gefährlich für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Abgeordneten im Senat und Repräsentantenhaus.
Der abgewählte US-Präsident Donald Trump hat bereits seit Wochen seine Anhänger aufgestachelt. War also diese Entwicklung nicht absehbar?
So schockierend die Bilder waren, wirklich überraschend kam die Eskalation nicht. Schon für den Abend nach der Wahl am 3. November waren in Washington, D.C. gewaltsame Proteste befürchtet worden. Damals, im November, hatte uns eigentlich eher überrascht, dass die Demonstrationen weitestgehend friedlich verliefen. Die Proteste der Trump-Anhänger in dieser Woche waren seit Ende letzten Jahres angekündigt. Und schon vor einigen Tagen war davor gewarnt worden, dass es Ausschreitungen geben könne, dass sich auch radikale Demonstranten in Washington, D.C. einfinden würden und dass davon auch einige bewaffnet sein könnten.
Sie selbst kennen das Kapitol durch Ihre Arbeit in Washington, D.C. ja sehr gut. Hat es Sie überrascht, wie einfach die Trump-Anhänger dort eindringen konnten?
Die Aufarbeitung der Frage, ob der Kongress gestern nicht besser hätte geschützt werden müssen, hat natürlich bereits begonnen. Die Polizisten und Sicherheitskräfte im und unmittelbar vor dem Kongress wurden von dem Ansturm der Demonstranten nach den Medienbildern regelrecht überrannt und hatten nach meinem Eindruck ja überhaupt keine Chance, die Demonstranten aufzuhalten. Andererseits ist der Kongress natürlich der Kern der US-Demokratie. Das Gebäude ist offen für alle Bürgerinnen und Bürger. Jeder hat auch ohne vorherige Anmeldung und nach den üblichen Sicherheitskontrollen am Eingang normalerweise Zugang. Praktisch jede Touristengruppe wird bei Besichtigungstouren an dem Flur vorbeigeführt, der zum Büro der Sprecherin des Repräsentantenhauses führt. Ich kann mir also durchaus vorstellen, dass auch für den gestrigen Tag bewusst darauf verzichtet wurde, die Gegend rund um den Kongress mit Barrikaden und Sicherheitskräften weiträumig und gegen alle Eventualitäten abzuriegeln. Vermutlich sollte bewusst der Eindruck vermieden werden, dass sich der Kongress für die gemeinsame Sitzung von Senat und Repräsentantenhaus gestern, wenn man so will, von der Öffentlichkeit absperren will. Denn auch das wäre von den Trump-Anhängern ja als Provokation aufgefasst worden.
Die Angreifer wollten offensichtlich verhindern, dass der Kongress die Wahlmännerstimmen für Joe Biden - und damit seinen Wahlsieg - wie geplant anerkennt. Das ist vorerst auch gelungen, weil die Sitzung unterbrochen wurde. Wird das Auswirkungen auf die geplante Vereidigung Bidens am 20. Januar haben?
Die Senatoren und die Abgeordneten des Repräsentantenhauses konnten ihre Arbeit nach einigen Stunden Unterbrechung ja gottseidank wieder aufnehmen - und haben Bidens Wahl zum Präsidenten mittlerweile bestätigt. Auch viele republikanische Abgeordnete waren von den Vorfällen gestern zutiefst geschockt und haben das gewaltsame Vordringen der Trump-Anhänger ins Kapitol deutlich verurteilt. Die Demonstranten dürften insofern wohl das Gegenteil von dem erreicht haben, was sie wollten. Joe Biden wird am 20. Januar als Präsident vereidigt werden. Bis zu diesem und an diesem Tag sind weitere Proteste nach meiner Einschätzung aber nicht ausgeschlossen.
Der gewählte Präsident hat sich in einer Rede an die Amerikanerinnen und Amerikaner gewandt. Wie bewerten Sie seine Äußerungen? Kann er das gespaltene Land wieder zusammenführen?
Er wird es zumindest nach Kräften und kontinuierlich versuchen. Aber das ist, wie wir gestern gesehen haben, eine Herkulesaufgabe. Die Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft hat unter Präsident Trump noch deutlich zugenommen und wurde und wird von diesem kontinuierlich für die eigenen Zwecke genutzt und bedient. Die Polarisierung hat mit Donald Trump aber nicht begonnen, sondern ist bereits seit vielen Jahren eine politische Herausforderung.
Ein CNN-Kommentator fragte angesichts des Angriffs auf den Kongress: "Ist es das Ende von Trump oder der Anfang von etwas ganz Neuem?" Haben Sie schon eine Prognose?
Donald Trump wird auch weiterhin in der US-amerikanischen Politik, wenn man so will, mitmischen. Das Wahlergebnis vom November hat ja gezeigt, dass er mit seiner Politik während der vergangenen Jahre keine Anhänger verloren hat, sondern, im Gegenteil, verglichen mit 2016 noch Stimmen hinzugewinnen konnte, auch wenn es am Ende für die Wiederwahl nicht gereicht hat. Viele dieser Anhänger werden sich von Trump auch nach dessen Abschied aus dem Weißen Haus nicht abwenden und ihm bei Kundgebungen und via Twitter millionenfach weiterhin loyal folgen und zujubeln. Für die Republikanische Partei ist das natürlich - und erst recht nach den Vorkommnissen gestern in Washington, D.C. - eine Zerreißprobe. Ob sich weite Teile der Partei bis zu den Kongresswahlen in zwei Jahren vor diesem Hintergrund werden neu positionieren können und ob im Kongress künftig dann wieder mehr überparteiliche Beschlüsse möglich sind, müssen wir abwarten. Für den künftigen Kurs der USA wird das aber eine ganz entscheidende Rolle spielen.
Die zweite wichtige Nachricht aus den USA gestern war, dass die Demokraten bei den Nachwahlen in Georgia beide Senatssitze erobern konnten - und sich damit, Dank der ausschlaggebenden Stimme der künftigen Vizepräsidentin Kamala Harris, auch eine knappe Mehrheit in der zweiten Parlamentskammer sichern. Wie bewerten Sie diesen Erfolg?
Wenn sich das Ergebnis so offiziell bestätigt - nach meinem ersten Eindruck und den bisherigen Meldungen wäre eine Neuauszählung der Stimmen ja nicht unbedingt erforderlich - wäre das für die Demokraten und für Joe Biden ein echter Erfolg! Seine Partei hätte damit, erstmals seit vielen Jahren, beim Amtsantritt die Mehrheit in beiden Parlamentskammern, wenn auch nur überaus knapp. Biden könnte damit, wenn man so will, durchregieren. Gerade in den ersten Wochen seiner Regierung würde ihm das vor allem die Besetzung wichtiger Regierungsposten erheblich erleichtern. Denn die Kandidaten für wichtige politische Ämter müssen vom Senat bestätigt werden. Und dort hatten bisher die Republikaner die Mehrheit. Aber, auch das ist wichtig, Biden ist auch nach diesem Erfolg aufgrund der knappen Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus darauf angewiesen, dass ihm die demokratischen Senatoren und Abgeordneten geschlossen folgen. Im Wahlkampf hat die Partei ihren Kandidaten über alle politischen Flügel hinweg voll unterstützt. Das muss im politischen Alltag nach der Amtseinführung aber natürlich nicht zwingend so bleiben - gerade der linke Flügel der Demokraten stellt Forderungen. Trotz des Erfolgs in Georgia muss Joe Biden im Kongress also auch aus den eigenen Reihen mit Widerstand rechnen und weiterhin große Anstrengungen darauf verwenden, seine Partei geschlossen zu halten.
Herr Linnarz, Danke für das Interview!
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