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Reportajes internacionales

Brasiliens Mittelklasse wächst - was sind die politischen Folgen?

de Lukas Lingenthal, Simone Schotte

Über 100 Millionen Brasilianer zählen heute zum Mittelstand des Landes.

Ein Drittel dieser Personen schaffte den Sprung aus der Armut allein in der letzten Dekade. Mit diesem Prozess sozialer Transformation wandeln sich auch die Bedürfnisse, Prioritäten und Zukunftsvision großer Teile der Bevölkerung. Welche Konsequenzen resultieren daraus für die nationale Politik?

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35 Millionen Brasilianern gelang seit 2002 der Aufstieg in die nationale Mittelschicht, zu der heute mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung Brasiliens zählen. Während die Regierungsprogramme der Vergangenheit in erster Linie auf die Deckung der Grundbedürfnisse ausgerichtet waren, muss in der Formulierung zukünftiger Politiken auf die speziellen Interessen, Begehren und Forderungen dieser sich zunehmend herausbildenden Mittelschicht eingegangen werden. Die neue Mittelklasse blickt in die Zukunft und setzt andere Prioritäten:

Berufsausbildung und Studienförderung, Arbeitsbedingungen und Karrierechancen, sowie Kreditmöglichkeiten zur Sicherung und Steigerung des erworbenen Lebensstandards rücken in den Vordergrund. Visionen und Erwartungen an die staatliche Führung haben sich gewandelt – hält die Regierung mit diesem Prozess sozialer Transformation Schritt?

 

Ausweitung der Mittelklasse

 

Brasilien verzeichnete über die letzten zehn Jahre markante Erfolge im Kampf gegen extreme Armut und Hunger im Land. Während 2002 nach offiziellen Angaben 38,3% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze lebten, konnte dieser Anteil bis zum Jahr 2009 auf etwa 23,9% gesenkt werden. Absolut fiel die Zahl der Personen, derer Pro-Kopf-Einkommen unterhalb der Armutsgrenze (Definition des Instituto de Pesquisa Econômica, Ipeadata) liegt, von 68 auf 44 Millionen. Trotz der zunehmenden Bedeutung der Mittelklasse sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass 2009 immer noch 6,1% der Brasilianer weniger als den Gegenwert von 1,25 US-Dollar pro Tag zum Leben hatten. Dies entspricht 11,68 Millionen Personen in extremer Armut, deren Lebensbedingungen es weiterhin nachhaltig zu verbessern gilt.

Begleitet wurden diese Entwicklungen von einer Reduktion der Einkommensungleichheit, die darin zum Ausdruck kam, dass der Gini-Koeffizient von 0,533in 2001 auf 0,5 in 2011 gesenkt wurde. In der letzten Dekade überstieg, nach Angaben des brasilianischen Sekretariats für strategische Angelegenheiten (Secretaria de Assuntos Estratégicos, SAE), die Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens der Ärmsten 10% die der Reichsten 10% fast um das Vierfache. Während das Pro-Kopf-Einkommen des ärmsten Dezils der Bevölkerung durchschnittlich um 5,1% pro Jahr zunahm, betrug zwischen 1999 und 2009 die Wachstumsrate des Einkommens der Reichsten rund 1,3% pro Jahr. Diese Divergenz war nicht nur in den Extremen der Einkommensverteilung sondern entlang aller Einkommensklassen zu beobachten. Generell galt, je höher das Einkommen, desto niedriger die relative Wachstumsrate, wodurch sich die Lücke zwischen Arm und Reich langsam zu schließen begann. Trotz dieser Verbesserung, ist Brasiliens Gini-Koeffizient nach wie vor einer der höchsten weltweit.

Das überproportionale Wachstum vor allem der Einkommen der ärmsten Teile der Bevölkerung ermöglichte vielen brasilianischen Familien den Sprung in den Mittelstand. Gleichzeitig stiegen die Haushalteinkommen der bestehenden Mittelschicht und der Oberschicht in deutlich geringerem Maße. Dadurch schafften von 2002 bis 2012 nach offiziellen Angaben 35 Millionen Brasilianer den Aufstieg in die nationale Mittelschicht. Zum Vergleich: Dies entspricht mehr als der Einwohnerzahl von Bolivien, Paraguay und Ecuador zusammen.

In Folge dieser Entwicklung umfasst Brasiliens Mittelklasse heute 104 Millionen Personen, über die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Laut SAE, dem Sekretariat für Strategische Bereiche, zählten im Jahr 2002 38% aller Brasilianer zur Mittelschicht des Landes, ein Anteil der bis 2009 auf 48% gesteigert werden konnte. Dieser positive Trend setzte sich über die letzten drei Jahre weiter fort, sodass 2012 nach aktuellen Berechnungen des Instituts Data Popular 53% der Gesamtbevölkerung in diese Einkommenskategorie fielen. Das Wachstum der Mittelschicht um 15 Prozentpunkte zwischen 2002 und 2012 setzt sich wie folgt zusammen: 21% der Brasilianer schafften den Sprung von der untersten Einkommenskategorie in die Mittelschicht. Gleichzeitig gelang 6% der Bevölkerung der Aufstieg von der Mittelschicht in die Oberschicht. Damit stellt die Mittelklasse ein enormes Wählerpotenzial.

 

Definition der Mittelklasse

 

Wissenschaft und Forschung haben weltweit eine Vielzahl divergierender Konzepte zur Definition sozialer Klassen entwickelt. Hauptkriterium ökonomischer Ansätze ist in der Regel das Haushaltseinkommen pro Kopf, während Sozial- und Politikwissenschaftler das Augenmerk stärker auf Bildung, Arbeitsmarktchancen und den Besitz von Vermögenswerten richten.

In Brasilien hat das SAE eine technische Kommission von Experten aus Ministerien, Universitäten und Forschungsinstituten eingesetzt, um die untere und obere Einkommensgrenze jeder Klasse zu definieren. Die Festlegung der Grenzen erfolgte in Anlehnung an das von der Weltbank elaborierte Vulnerabilitätskriterium. Die Wahrscheinlichkeit eines jeden Haushalts innerhalb der nächsten fünf Jahre in Armut zu verbleiben oder unter die Armutsgrenze (zurück) zu fallen wurde auf Grundlage von nationalen Haushaltserhebungen (Pesquisa Nacional por Amostra de Domicílios, PNAD) berechnet und die Mittelschicht zwischen dem 34. und 82. Perzentil der Wahrscheinlichkeitsverteilung definiert. Dementsprechend gilt ein brasilianischer Haushalt als Mittelklasse, wenn dessen Mitgliedern ein monatliches Pro-Kopf-Einkommen von 291 bis 1.019 Real (ca. 112 bis 395 Euro) zur Verfügung steht. Nicht einberechnet werden hierbei unregelmäßig empfangene Zahlungen, wie Überstundenzuschläge und Weihnachtsgeld.

Alternative Ansätze, nach welchen die Mittelschicht beispielsweise anhand des Konsumverhaltens der Haushalte oder relativ zum Medianeinkommen definiert wird, ergaben ähnliche oder sogar niedrigere Einkommensgrenzen. Abweichende Ergebnisse resultieren jedoch, wenn die Haushaltsbudgeterhebung Pesquisa de Orçamentos Familiares 2008/09 (POF) als Datenbasis verwendet wird. In diesem Fall sind die Einkommensgrenzen bei sonst äquivalenter Vorgehensweise bis zu 60% höher.

Neben der bekannten Aufspaltung in Unter-, Mittel- und Oberschicht wird in Brasilien die unterste Einkommensklasse zudem in zwei Gruppen untergliedert. Als in extremer Armut lebend gelten diejenigen Familien, deren monatliches Pro-Kopf-Einkommen die nationale Armutsgrenze von 162 Real (ca. 60 Euro) unterschreitet. Von diesen zu unterscheiden sind die Haushalte, deren Einkommen nur knapp oberhalb dieses Grenzwertes liegt. Sie werden als Bindeglied zwischen den Ärmsten der Bevölkerung und der Mittelklasse betrachten und gelten aufgrund des erhöhten Risikos (wieder) in Armut zu fallen als besonders schutzbedürftig. Dementsprechend ist die Reduktion der Armutsrate nicht äquivalent zum Mittelklassenwachstum, da einige Haushalte zwar extremer Armut entkommen, ihre Einkommenssituation jedoch nicht ausreichend festigten konnten, um als Mitglieder der Mittelschicht gewertet zu werden. Trotz dieser möglichen feineren Untergliederung, stützt sich die nachfolgende Analyse auf eine Dreiteilung der brasilianischen Gesellschaft in Unter-, Mittel- und Oberschicht.

 

Charakteristika der Mittelklasse

 

Grundsätzlich zeigt der brasilianische Mittelstand einen ausgeprägten Grad an Heterogenität und ethnischer Vielfalt. Dennoch zeichnet sich eine gewisse regionale Konzentration in urbanen Gebieten (88% der Mittelschicht leben in Städten) und im Süden und Südosten ab, während die ärmsten Teile der Bevölkerung weiterhin im ländlichen Raum sowie im Norden und Nordosten Brasiliens am stärksten vertreten sind.

Die sozialen Klassen in Brasilien zeigen ein divergierendes Arbeitsmarktprofil. Während 67% der Angehörigen der untersten Einkommenskategorie sich im erwerbstätigen Alter befinden, liegt dieser Prozentsatz in der Mittelschicht deutlich darüber bei 78% und unterscheidet sich damit nicht signifikant von dem der Oberschicht, die einen Anteil von 80% aufweist. 56% der Mittelständler befinden sich nach offiziellen Angaben des SAE in einem formellen Arbeitsverhältnis, während 74% der unteren Einkommensschicht einer informellen Beschäftigung nachgehen. Während die ärmste Klasse primär im Agrarsektor arbeitet, sind die Mitglieder der Mittelschicht verstärkt im Handel und in der Industrie tätig.

Markante Unterschiede bestehen zudem im Bildungsgrad der Angehörigen verschiedener Einkommensklassen. 68% der brasilianischen Unterschicht verfügen über keine abgeschlossene Primärschulbildung, nur 21% erreichen die Sekundarschule und lediglich 2% genießen eine Hochschulbildung. Ebenfalls hat über die Hälfte der brasilianischen Mittelschicht (51%) keine abgeschlossene Grundschulausbildung vorzuweisen. 31% erreichen die Sekundarschule, und 7% schaffen es bis zur Hochschulausbildung. Im Vergleich genießen 40% der Mitglieder der brasilianischen Oberschicht eine Hochschulbildung.

Von Relevanz ist darüber hinaus eine Betrachtung des spezifischen Konsummusters der wachsenden brasilianischen Mittelschicht. Während die Haushalte der Unterschicht generell gezwungen sind, den Großteil ihres Verdiensts zur Subsistenzsicherung aufzuwenden, ist die Mittelschicht auf Grund höherer Einkommen in der Lage, ihre Ausgaben für Technologieprodukte und Bildung zu steigern, woraus positive Implikationen für das Wirtschaftswachstum resultieren können. Von 2002 bis 2009 stiegen die Ausgaben der Mittelschicht für Schulbildung - wie Schulgeld, Lernmaterial und Bücher - von 1,8 auf 15,7 Milliarden Real (ca. 0,7 bis 6,1 Milliarden Euro). Nach Angaben des Instituts Data Popular stellt die brasilianische Mittelschicht heute 80% der heimischen Internetnutzer, 78% der gesamten nationalen Supermarkteinkäufe, 70% der Kreditkarteninhaber und 60% der Frauen, die national erbrachte Dienstleistungen in Form von Schönheitsbehandlung nutzen. Zudem zeigt sich die brasilianische Mittelklasse in Hinblick auf ihre zukünftige wirtschaftliche Entwicklung besonders optimistisch. 2012 erwarteten 76% der Mittelständler eine weitere Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, ein Anteil der in 2013 auf 81% anstieg.

 

Herausforderungen für die Politik

 

Der dargelegte Prozess sozialer Transformation stellt die nationale Politik Brasiliens vor große Herausforderungen: Was bedeutet die Herausbildung eines neuen Mittelstandes für die Entwicklung des Landes und für die Formulierung zukünftiger Politiken? Was sind die Auswirkungen auf Konsum- und Sparverhalten und damit auf die Inflationsrate? Welche Erwartungen stellt die neue Mittelklasse an die der Rolle des Staates? Inwiefern wird sie aktiv gestalterisch in den politischen Prozess eingreifen und neue Prioritäten setzten? Und wie können der Aufstieg der neuen Mittelschicht nachhaltig gesichert und weiterhin bestehende Chancenungleichheit langfristig reduziert werden?

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist es notwendig die Bedürfnisse, Werte, Visionen und Anforderungen des brasilianischen Mittelstandes zu verstehen, die sich deutlich von denen der ärmsten Bevölkerungsschicht unterscheiden, und diese in der Formulierung neuer und Anpassung bestehender Politiken zu berücksichtigen. Während die gegenwärtige Sicherung des Überlebens und Befriedigung der Grundbedürfnisse im Mittelpunkt des Interesses derer stehen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, zeigt sich die Mittelschicht stärker zukunftsorientiert. Der erreichte Lebensstandard soll nachhaltig gesichert und gesteigert werden. So rücken beispielsweise der Wunsch nach einer besseren Gesundheitsversorgung, einer qualitativ hochwertigeren Ausbildung und einer Verbesserung der Karrierechancen vermehrt in den Fokus.

In diesem Zusammenhang ist es fraglich, ob die wachsende Mittelschicht zu einer Steigerung der Qualität staatlicher Serviceleistungen in diesen Bereichen führen und diese mit ausreichendem Nachdruck fordern wird. Studien belegen, dass die brasilianischen Haushalte mit steigendem Einkommen verstärkt dazu neigen, private Dienstleistungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich zu nutzen und entsprechend eine rückläufige Tendenz der Nachfrage nach öffentlichen Dienstleistungen besteht. So besuchen 14% der Schüler und Studenten der Mittelschicht eine private Bildungseinrichtung, ein viermal größerer Anteil als in der Unterschicht mit lediglich 3%. In der höchsten Einkommensklasse liegt dieser Anteil sogar bei 59%. Ein ähnliches Muster zeigt die mit steigendem Einkommen wachsende Nachfrage nach privater Gesundheitsversorgung. Während 5% der Haushalte der untersten Einkommenskategorie private Leistungen in Anspruch nehmen, liegt dieser Anteil in der Mittelklasse 4,5-mal höher bei 24%. Mit einer Zunahme verfügbarer finanzieller Mittel, kommt es fast zu einer Verdreifachung dieses Anteils; 65% der Oberschicht Brasiliens nutzen private Gesundheitsleistungen.

Grund für diese Tendenzen ist die mangelhafte Qualität öffentlicher Institutionen im Bildungs- und Gesundheitssektor. Laut Befragungen des SAE bewerten die Angehörigen aller Schichten die Ausbildung an privaten Schulen deutlich besser als das Angebot öffentlicher Einrichtungen. Ebenso präferieren 60% der Bevölkerung, unabhängig der zugehörigen Einkommenskategorie, die Versorgungsleistung privater Krankenhäuser über die der Öffentlichen. Auf Grund von Budgetrestriktionen sieht sich die Mittelklasse, im Vergleich zur Oberschicht, trotz bestehender Defizite wesentlich häufiger gezwungen, öffentliche Einrichtungen zu nutzen, und nur ein vergleichsweise geringer Anteil ist in der Lage, private Leistungen in Anspruch zu nehmen. Daher bleibt zu erwarten, dass vermehrt Forderungen nach einer Qualitätssteigerung staatlich bereitgestellter Leistungen laut werden.

Eng mit dem Anliegen einer Revision des Bildungssystems verknüpft, ist die Notwendigkeit einer Verbesserung der Bedingungen und Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Nach Angaben des SAE arbeitet die Hälfte (50%) der Angehörigen der Mittelschicht durchschnittlich über 40 Stunden pro Woche. Ein deutlich höherer Anteil als in der Unter- (41%) und Oberschicht (45%). Zudem zählen ein Mangel an sozialer Sicherheit und Arbeitnehmerschutz zu den Problemen der arbeitenden Bevölkerung. Bedenkt man, dass sich 78% der Mittelschicht im erwerbstätigen Alter befinden, sind hier verstärkt Forderungen nach einer Anpassung der Arbeitsbedingungen und Steigerung der Arbeitsproduktivität zu erwarten.

Auffallend sind zudem Differenzen in dem wahrgenommenen Wert von Bildung und Wissen zwischen den einzelnen Einkommensklassen. Diese sind sowohl auf Unterschiede im Zugang zu Informationen, als auch auf persönliche Erfahrungen und ungleiche Arbeitsmarktchancen zurückzuführen. Trotz enormer Investitionen in die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen, stuft die Mittelschicht den resultierenden Nutzen deutlich geringer ein, als dies in der Oberschicht der Fall ist. Diese Beobachtung lässt vermuten, dass innerhalb der brasilianischen Gesellschaft Karriere

chancen weiterhin entscheidend durch soziale Netzwerke determiniert werden. Die neue Mittelklasse steht auf dem Arbeitsmarkt in direktem Wettbewerb mit den Mitgliedern der bereits etablierten Mittelschicht und der Oberschicht und ist darüber hinaus zunehmend der Konkurrenz ausländischer Fachkräfte ausgesetzt. In diesem Zusammenhang fehlt es den Aufsteigern nicht nur an Qualifikation, sondern auch an den notwenigen Kontakten, um in bestimmten Bereichen Fuß zu fassen. Demnach kann ein Medizin- oder Jurastudium weiterhin für diejenigen von höherem Wert sein, deren Eltern über einen ähnlichen Bildungshintergrund verfügen, als für diejenigen, deren Eltern ein niedrigeres Bildungsniveau aufweisen. Zudem ist es für Angehörige der Mittelklasse nach wie vor schwer, in politische Entscheidungspositionen zu kommen. Die persönlichen Netzwerke der politischen und wirtschaftlichen Elite bleiben für die meisten Brasilianer weiterhin verschlossen. Hier ist die Politik gefordert, Chancenungleichheiten zu reduzieren.

Aus dem Wachstum der Mittelschicht Brasiliens resultieren zudem bedeutende Implikationen für die nationale Wirtschaftspolitik. In dieser Hinsicht gilt es darauf hinzuweisen, dass der dokumentierte Anstieg der Haushaltseinkommen nicht mit einer Verbesserung der Effizienz oder der Wettbewerbsfähigkeit des Landes einherging. Nach Angaben des brasilianischen Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada, IPEA) ist über die letzten 30 Jahre der Arbeitsproduktivität in der heimischen Industrie um 15% zurückgegangen. Wie die führende Wirtschaftszeitschrift Brasiliens Exame zudem berichtet, produziert heute ein einziger Arbeiter in den USA genauso viel wie fünf Brasilianer. Während der Anteil des Landes am Welthandel in den 1950er Jahren bei 2,2% lag, beträgt dieser heute nur noch etwa 1%. 2012 erfuhr die Produktion der nationalen Industrie zudem einen markanten Rückfall auf das zuletzt in 2007 realisierte Niveau. Dementsprechend wurde, wie die Tageszeitung O Globo berichtet, die Schätzung des Wirtschaftswachstums für 2012 aktuell von 1,35% auf 0,9% nach unten korrigiert.

Die beschriebene Reduktion von Produktion und Produktivität ging mit einem Abfall des Wachstums der Binnennachfrage einher. Diese rückläufige Tendenz der inländischen Nachfrage könnte mit der zunehmenden Verschuldung der privaten Haushalte in Verbindung stehen. Wie eine Studie des nationalen Industrieverbandes CNC (Confederação Nacional do Comércio de Bens, Serviços e Turismo) ergab, erhöhte sich allein zwischen Januar und Februar 2013 der Anteil der verschuldeten Haushalte in Brasilien von 60,2% auf 61,5%. Ein Jahr zuvor, im Februar 2012, lag dieser Wert noch bei 57,4%. Darüber hinaus stieg im vergangenen Jahr der Anteil der Familien, die nicht in der Lage waren aktuelle Rechnungen und Kreditrückzahlungen zu begleichen, von 6,6% auf 7,0%. Nach Angaben der brasilianischen Zentralbank belief sich im Oktober 2012 die Verschuldung der privaten Haushalte auf 44,5% des gesamten Haushaltseinkommens, die höchste Quote seit Beginn der Messungen im Jahr 2005. Ein Jahr zuvor, im Oktober 2011, hatte dieses Verhältnis noch bei 42,4% gelegen.

Diese aktuellen Entwicklungen geben Anlass zu dem Verdacht, dass die Ausweitung der Mittelklasse vorrangig auf Einkommenstransfers – zum Beispiel in Form der 2003 etablierten Bolsa Família – und Konsumkredite zurückzuführen ist. Diese Maßnahmen konnten zwar eine Steigerung privater Einkommen in der kurzen Frist bewirken, jedoch steht die brasilianische Wirtschaftspolitik jetzt der Herausforderung, die mikro- und makroökonomischen Grundlagen für langfristiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. In diesem Sinne gilt es, den sozialen Aufstieg großer Teile der Bevölkerung nachhaltig abzusichern und weiter voranzutreiben und ein Zurückgleiten der Aufsteiger in die Armut zu verhindern.

Der zu beobachtende Prozess sozialer Transformation könnte darüber hinaus auch andere Politikbereiche beeinflussen und beispielsweise einen bedeutenden Impetus für die Klima- und Umweltpolitik geben. Während die untere Einkommensschicht in Brasilien vordergründig mit lokalen Problemen wie beispielsweise der Behandlung von Abwasser und der Abfallentsorgung zu kämpfen hat, kann die Mittelschicht aufgrund verbesserter Lebensbedingungen ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf globale Problemlagen richten. So rücken Umweltthemen wie globale Erwärmung und Klimawandel, Luftverschmutzung, der Verlust von Waldflächen, die Bewahrung der Biodiversität oder die Frage gentechnisch veränderter Lebensmittel stärker in den Fokus des Interesses. Studien belegen, dass die Mittelschicht, im Gegensatz zur Unterschicht, deutlich vermehrt die Zeit, die Motivation und das Interesse findet, langfristige Anliegen und Ziele zu identifizieren und Visionen und Strategien für deren Erreichung zu formulieren. In diesem Sinne unterscheidet sich die Vorstellung der brasilianischen Mittelschicht einer ökologisch nachhaltigen Gestaltung der Zukunft nicht signifikant von der durch die obere Einkommensklasse artikulierten Perspektive. Diese Akzentverschiebung spiegelte sich auch im Wahlkampf der Kommunalwahlen 2012 wider. Umweltthemen waren präsenter und wurden stärker betont als je zuvor in Brasiliens Geschichte.

 

Anregungen zur Methodik

 

Wie José Alfonso Mazzon – Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität São Paulo (USP) – kritisiert, sollte die Bestimmung der Mittelklasse nicht einzig auf Grundlage der Einkommenssituation erfolgen. Ergänzend sind die Zahl der Ausbildungsjahre, der Berufsstand und der Besitz von Vermögensgegenständen entscheidende Variablen, die es in die Analyse zu integrieren gilt. Zudem sind regionale Unterschiede in der Kaufkraft des Einkommens zu beachten. Gemäß der Argumentation Mazzons, ist der Gegenwert von 500 Real (ca. 200 Euro) in einer Großstadt wie Rio de Janeiro oder São Paulo nicht derselbe, wie beispielsweise in den ländlicheren Regionen des Nordens und Nordostens.

Wie die brasilianische Tageszeitung Valor im Februar und März 2013 auf Grundlage von Berechnungen des Instituts Data Favela berichtete, zählten 2011 65% der Bewohner brasilianischer Favelas zum Mittelstand des Landes. Trotz eines monatlichen Einkommens von durchschnittlich rund 700 Real pro Kopf, womit sich nach Definition des SAE eine Familie bereits am oberen Rand der Mittelschicht befindet, gaben die von der Zeitung befragten Haushalte an, sich selbst nicht als Mittelschicht zu verstehen. Auch eine bedeutende Verbesserung des Lebensstandards der Favelabewohner, die zu großen Teilen berichteten, über alle grundlegenden Haushaltselektrogräte zu verfügen, löst nicht ein Gefühl der Zugehörigkeit zum nationalen Mittelstand aus. Ausschlaggebend für diese subjektive Einschätzung ist vor allem der bislang unerfüllte Wunsch, die Favela verlassen zu können.

Grundsätzlich verfügt ein relativ großer Anteil der Angehörigen aller Klassen über ein Eigenheim (72% der Unter-, 75% der Mittel- und 80% der Oberschicht). Dennoch bestehen signifikante Divergenzen im Wohnkomfort: Während lediglich in gut der Hälfte (53%) der Haushalte der brasilianischen Unterschicht maximal zwei Personen in einem Zimmer schlafen, liegt dieser Anteil in der Mittelschicht bereits deutlich höher bei 81%, bleibt jedoch unter dem Anteil der Oberschicht von 95%. Eine Vielzahl der Haushalte benennt eine nachhaltige Verbesserung der Qualität der Wohnsituation als notweniges Kriterium für das Zugehörigkeitsgefühl zur Mittelschicht. Zudem wird es als ausschlaggebend für den Status eines Mittelklassenhaushaltes empfunden, sich ein neuwertiges Auto leisten zu können.

In diesem Sinne steht die Messung der wahrgenommenen Lebensqualität im Zentrum einer neuen Reihe von Haushaltsstudien. Vorreiter auf diesem Gebiet ist die Gallup World Poll, die anhand international identischer Fragebögen weltweit die Denk- und Verhaltensmuster sowie die Lebenszufriedenheit von Haushalten analysiert und diese Informationen Organisationen der Zivilgesellschaft sowie nationalen und kommunalen Regierungen zur Verfügung stellt.

 

Fazit

 

Vor dem Hintergrund einer wachsenden brasilianischen Mittelschicht gilt es, bestehende nationale Politiken in ihrer Wirksamkeit und Suffizienz zu hinterfragen. Gegenstand der über die letzten zehn Jahre etablierten Initiativen war und ist vor allem die finanzielle Unterstützung sozial benachteiligter Familien durch eine Einkommensumverteilung. Diese Maßnahmen sind jedoch nicht hinreichend, um den Bedürfnissen und Anforderungen, die die neue Mittelklasse an die Regierung stellt, zu begegnen. Haushaltsumfragen haben gezeigt, dass vor allem die neu in die Mittelschicht eingetretenen Familien fürchten, den erworbenen Lebensstandard langfristig nicht halten zu können und zurück in die Armut zu gleiten.

Dementsprechend liegt es in der Verantwortung der Politik, das Wachstum der brasilianischen Mittelklasse nachhaltig abzusichern. In dieser Hinsicht sind die Steigerung der Qualität des öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystems und eine Reduktion der Chancenungleichheit in Bezug auf Ausbildung und Karriere essenziell. Es gilt die neue Mittelschicht aktiv in den politischen Prozess einzubinden und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Dennoch sollten weiterhin dringend erforderliche Maßnahmen zur Reduktion extremer Armut nicht von der politischen Agenda verschwinden.

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