Reportajes internacionales
Als Argentinien eine Nacht über die Wahl am 11. August geschlafen hat und sich noch den Sand aus den Augen reibt, ist Marcelo Longobardi schon angriffslustig. „Das Ergebnis ist ein Desaster für die Regierung“, sagt der bekannte Journalist von Radio Mitre. Sein Kollege Nelson Castro, einer der einflussreichsten Beobachter der argentinischen Politik, meint: „Der Kirchnerismus hat gestern seinen Abschied von der Macht begonnen.“ Eduardo Van Der Kooy von der Zeitung Clarín unterstellt den Wählern sogar Körperverletzung: Eine „Tracht Prügel“ hätten sie in einigen Provinzen der Präsidentin Cristina Kirchner und ihrer Regierung verpasst. Selbst Pagina12 räumt auf der Titelseite der Montagsausgabe im Nebensatz Stimmenverluste der Präsidentinnenpartei Frente para la Victoria ein. Für ein regierungstreues Blatt kommt das einer Meldung über ein politisches Beben gleich.
Nichts anderes kann es sein, wenn eine Präsidentin im Vergleich zur vergangenen Wahl fast jede zweite Stimme verliert. Im Oktober 2011, bei ihrer Wiederwahl, hatte Cristina Kirchner noch 54 Prozent geholt. Wenngleich es diesmal um sie nur indirekt ging: Die 27 Prozent, die ihre Partei landesweit erzielte, sind auch die Folge einer großer Unzufriedenheit mit La Señora Presidenta.
Nun sind es bis zur Parlamentswahl am 27. Oktober noch zehn Wochen. In diesen Vorwahlen (Primarias Abiertas Simultanéas Obligatorias) ging es bloß darum, die Kandidaten für die Senatoren- und Abgeordnetenmandate zu bestimmen – eigentlich ein Akt innerparteilicher Willensbildung, für die in Argentinien mittlerweile jedoch das ganze Volk zuständig ist. Deshalb sind die sogenannten Primaries auch ein Stimmungsbarometer. Und weil in Argentinien Wahlpflicht herrscht, selbst wenn streng betrachtet nichts Entscheidendes passiert, ist das Ergebnis vom 11. August eines allemal: repräsentativ.
Vor allem in der wichtigen Provinz Buenos Aires, wo 37 Prozent aller Wahlberechtigten leben, hatte es schon lange vorher Aufregung gegeben. Dort kandidierte Tigres Bürgermeister Sergio Massa, ein Zögling des Ex-Präsidenten Néstor Kirchner (2003 bis 2007). Er ist in den vergangenen Monaten jedoch auf Distanz zur Präsidentin gegangen und gibt nun den Erneuerer des Peronismus. Wie ernst er es damit meint, ob er auch bereit ist, Cristina Kirchner herauszufordern, sollte sie sich in Umfragen erholen, weiß man freilich nicht. Argentinische Politiker halten sich gern viele Optionen offen und sind mitunter schwer greifbar. So hatte Kirchner genauso wie Massa lange nicht entschieden, mit wem und wie sie die Vorwahl in der Provinz Buenos Aires bestreiten würden. Massa verschwieg sogar bis zum letzten Moment, ob er überhaupt antreten werde, und wenn doch, ob als Kandidat oder Gegner der Präsidentin. Eigentlich hätte Gouverneur Daniel Scioli die Parteiliste in der Provinz aufstellen müssen. Doch Kirchner nahm die Vorschläge des Mannes, der immerhin amtierender Präsident der Peronistischen Partei ist, Name für Name auseinander, was Sciolis Ruf nicht förderlich war. Für die Öffentlichkeit bleibt er ein Mann mit zwei Gesichtern: Er ist ein Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2015 und zugleich ein Zauderer, der sich von Cristina Kirchner viel gefallen lassen muss, weil seine Regierung auf Geldspritzen der Casa Rosada angewiesen ist.
Tatsächlich ist Scioli ein Konsenspolitiker, jemand, der wie Massa daran arbeitet, Kirchners Nachfolger zu werden. Beide Politiker kennen sich seit Jahren, ihre Familien pflegen Freundschaften. Kenner der Szene hatten in den Wochen vor der Listenaufstellung spekuliert, dass sich Scioli und Massa einigen könnten, um dann mit weiteren Kirchner-Gegnern in den Reihen der Peronisten das vorzeitige Ende der umstrittenen Präsidentin zu erzwingen. Am 22. Juni hatten die Politiker den Pakt angeblich bereits beschlossen. Für Sciolis Frau Karina Rabolini wollte Massa sogar den zweiten Platz auf der Liste seiner Frente Renovador freihalten. Und auch der Plan für die Zukunft stand: „Du wirst Präsidentschaftskandidat und ich Gouverneur“, soll Massa dem Regierungschef der Provinz gesagt haben. Gewonnen hätten so beide.
Doch am Ende war Scioli – nicht zum ersten Mal – eingeknickt, als Kirchner den ersten Platz auf der Liste ihrer Frente para la Victoria, die zur großen Familie des Peronismus gehört, anders besetzte. Die Wahl fiel auf Martín Insaurralde, den Bürgermeister von Lomas de Zamora, einer Stadt mit 110.000 Einwohnern vor den Toren der Metropole. Und Scioli nahm es hin.
Anders als Massa, der Kirchner von Juli 2008 bis Juli 2009 als Kabinettschef gedient hat und seit seinem Wechsel in die Kommunalpolitik als große politische Hoffnung gilt, war Insaurralde ein unbeschriebenes Blatt. Laut Umfragen hatte bis dahin kaum ein Wähler von ihm gehört. Entsprechend groß war mithin auch die Kluft zwischen den beiden Kandidaten in den Wochen vor dem 11. August. Am Ende gewann Massa mit einem Vorsprung von mehr als fünf Prozentpunkten.
Immerhin landete Insaurralde vor einem anderen bekannten antikirchneristischen Peronisten. Francisco de Narváez hatte bei den Teilwahlen vor vier Jahren Néstor Kirchner besiegt, der nach dem Ende seiner Amtszeit einen Platz im Abgeordnetenhaus anstrebte. Diesmal allerdings kam er trotz der knackigen Botschaft Ella o Vos (Sie, also die Präsidentin, oder Du) mit seiner Frente Progresista Civico nur auf Rang drei.
In der Hauptstadt gewann erwartungsgemäß PRO, die Partei des Bürgermeisters Mauricio Macri, der von seinen Gefolgsleuten schon jetzt als nächster Präsident ausgerufen wird. Auch in Santa Fé konnte der fruehere Komiker Miguel del Sel erneut fuer PRO das zweitbeste Ergebnis nach den Sozialisten nach Hause bringen. Erstmals wird PRO im Oktober wohl auch ein Senatorenmandat fuer die Hauptstadt Buenos Aires gewinnen. Doch fehlen der Partei weiterhin die Strukturen, um im Rest des Landes erfolgreich zu sein. Die einzige realistische Loesung sind Wahlallianzen mit anderen Parteien, allerdings bleiben bis 2015, wenn das Staatsoberhaupt das nächste Mal gewählt wird, nur zwei Jahre.
In den fünf wichtigsten, weil bevölkerungsreichsten Provinzen des Landes, in denen zwei Drittel aller 40 Millionen Argentinier zu Hause sind – Buenos Aires, Córdoba, Mendoza, Santa Fe und die Hauptstadt –, wurden die Kirchneristen von der Opposition besiegt. Auch das zeigt die Schwere des Bebens vom 11. August. Und die Ergebnisse unterstreichen, was die Massenproteste der vergangenen Monate schon vermuten ließen: Die Argentinier sind unzufrieden mit ihrer Regierung, und es ist nicht mehr nur die Mittelschicht, die sich von der Präsidentin abgewandt hat.
Cristina Kirchner freilich reagierte, wie man es von ihr kennt: Sie tat, als habe es keine anderen Kandidaten als jene ihrer Partei gegeben. Nur die habe in allen 24 Provinzen zur Wahl gestanden, sagte sie bei ihrem sehr kurzen Auftritt am Abend der Niederlage. Deshalb sei es möglich, „die parlamentarische Repräsentation der Frente para la Victoria in beiden Häusern zu erhalten und zu erhöhen“. Ausgeschlossen ist das nicht, was freilich vor allem daran liegt, dass die meisten Mandate vor zwei Jahren errungen wurden und erst 2015 wieder wechseln können.
Würde Argentinien am 27. Oktober genauso wählen, wie es das am 11. August getan hat, verlöre die Regierungspartei im Senat ihre Mehrheit. Man würde einen Sitz holen und zugleich vier abgeben. Zwischen Regierung und Opposition herrschte dann ein Patt mit 36 zu 36 Senatoren. Im Abgeordnetenhaus würde der Kirchnerismus indes seine 133 Mandate behalten und damit weiter vor der Opposition (124) liegen. Der Traum von einer Verfassungsänderung für eine dritte Amtszeit dieser Präsidentin wäre aber vermutlich geplatzt. Dafür bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern – das wären 172 Abgeordnete und 48 Senatoren. Und wenngleich die Opposition ein ziemlich bunter Haufen ist und nicht immer geschlossen auftritt – alle Kräfte haben sich eindeutig und wiederholt darauf festgelegt, gegen eine Verfassungsänderung zu stimmen.
Zu sicher sollte sich die Opposition dennoch auch nicht sein. Schon einmal, nach dem Debakel bei den Teilwahlen 2009, war der Kirchnerismus für tot erklärt worden. Zwei Jahre später schickte das halbe Land dann die Präsidentin in eine zweite Amtszeit. Der Kirchnerismus kann also genesen – diesmal allerdings müsste es eine Blitzheilung werden. Der politische Patient hat nur zehn Wochen Zeit, und im Augenblick liegt er danieder wie noch nie in den vergangenen zehn Jahren. So lange regieren die Kirchners schon Argentinien.
Mitleid von der Opposition ist nicht zu erwarten. Deren Politiker haben – wie viele Politik-Berater und Journalisten – immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich am 27. Oktober keineswegs nur um die turnusmäßig anstehenden Teilwahlen handele. Vielmehr gehe es um die künftige Ausrichtung des Landes: national und international. Die Opposition hat sich damit selbst in die Pflicht genommen.
Vermutlich wird Cristina Kirchner nach 2015 allenfalls die Rolle der Ex-Präsidentin spielen dürfen. Sollte sich die eigentümliche Wirtschaftspolitik – Importbeschränkungen, Währungskontrollen, unrealistische makroökonomische Daten – bis dahin mit aller Wucht auf den Alltag der Argentinier auswirken, so dürfte dies keine Besetzung sein, die ihr viel Ehre einbringen wird.
Klar ist: Nach der Oktoberwahl beginnt das Rennen um die Präsidentschaft. Die Kandidaten aus heutiger Sicht sind schon länger bekannt: Daniel Scioli, Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Sergio Massa, der zum Oppositionsführer gewandelte ehemalige Junggardist von Cristina Kirchner, Mauricio Macri, der Bürgermeister von Buenos Aires, Hermes Binner, Chef der Sozialisten und überragender Wahlgewinner von Santa Fe, sowie José Manuel De la Sota, oppositioneller, weil traditioneller Peronist und Gouverneur von Córdoba. Hinzu kommen Julio Cobos und Elisa Carrió. Cobos gehört der UCR an, diente Cristina Kirchner aber von 2007 bis zur Wiederwahl als Vizepräsident. Seit geraumer Zeit schon rechnet er mit seiner früheren Chefin ab. Die nimmt ihm noch immer übel, dass er eigene Präsidentschaftsambitionen hatte – und hat. In seiner Heimatprovinz Mendoza hat er am Sonntag den Kirchnerismus besiegt und seinen Blick auf 2015 wieder geschärft. Elisa „Lilita“ Carrió gehört zu den großen Überraschungen des Wahlsonntags. Ihre politische Laufbahn galt nach dem miserablen Ergebnis bei den letzten Präsidentschaftswahlen als besiegelt. Doch mit einem Vielparteienbündnis mit dem Namen UNEN, das in der Hauptstadt mit vier verschiednen Kandidatenlisten angetreten war, erreichte UNEN in Buenos Aires sogar mehr Stimmen als PRO. Die sieben potenziellen Präsidentschaftskandidaten firmieren in den Spalten der Kolumnisten und in den sozialen Netzwerken bereits als die „Sieben Samurais“. Aus dem wahrhaftig kirchneristischen Lager ist kein Name erkennbar. Dabei wird es von der aktuellen Regierung abhängen, ob der Machtwechsel ruhig und geordnet oder doch eher argentinisch, also in Form einer Krise gelingt.
Teile der Regierung, jene, die sich als Puristen zu erkennen geben, wollen keinen Kandidaten zulassen, der nicht hundertprozentig hinter dem linkspolulistischen kirchneristischen Projekt steht. Andere würden sich auf jemanden wie Scioli einlassen, der sich ungern streitet, ungern wild angreift und ungern politischen Widersacher widerspricht. Der Kirchnerismus hat Argentinien so sehr gespalten, dass tatsächlich eine Transition zum Postkirchnerismus notwendig werden könnte, den starke Oppositionsführer wie Macri und De La Sota wohl nicht verkörpern würden. Ihre Herausforderung, ebenso wie die von Binner, ist es, die Grenzen ihrer Provinzen zu überschreiten. Auch Sergio Massa steht vor dieser Aufgabe.
Sollten er und seine Frente Renovador allerdings im Oktober die Ergebnisse vom August bestätigen oder noch verbessern, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich oppositionelle Peronisten gemeinsam mit moderaten Kirchneristen recht schnell hinter einem neuen politischen Projekt versammeln. In Argentinien weiß man: Der Peronismus riecht die Macht von weitem und sogar gegen den Sturm. Auch deshalb geht seit fast siebzig Jahren selten etwas ohne ihn im Land. Und die Kirchneristen gehören ja offiziell noch immer zur peronistischen Familie.