Reportajes internacionales
Das Pew Institute hat anhand seiner Untersuchungen zur Medienpräsenz festgestellt, dass Papst Franziskus zu den drei Menschen zählt, über die 2013 weltweit am meisten berichtet wurde. Die Wahl zum Papst, seine Aussagen zur Homosexualität, die Wahl zur „Person des Jahres“ durch das Time Magazine – das waren die großen Ausschläge des Pew-Indexes. Interessant sind jedoch auch die Einschläge im Kleinen. Wir haben Menschen gefragt, die in Rom im und mit dem Vatikan arbeiten, wo und wie sie Papst Franziskus in seinem ersten Pontifikatsjahr erreicht hat.
„Beten Sie für mich“ - Das Amtsverständnis von Papst Franziskus
Bereits der erste Auftritt des Papstes „vom anderen Ende der Welt“ am Abend der Wahl hat den deutschen Kurienkardinal Walter Kasper „tief beeindruckt“, wie uns dieser schreibt. Franziskus setze Zeichen der Einfachheit, so Kardinal Kasper: „Die Einfachheit des Auftretens in dem schlichten weißen Talar und dem einfachen Kreuz, mit dem Gruß ‚buona sera’, mit der Selbstbezeichnung als Bischof von Rom, und der Herzlichkeit, mit der er als erstes seinen Vorgänger, Papst Benedikt in Castel Gandolfo grüßte“.
Auch für die Chefredakteurin der deutschen Ausgabe des „Osservatore Romano“, Astrid Haas, blieb dieser Moment in besonderer Weise in Erinnerung. Sie schreibt: „’Buona sera’. Diese ersten Worte auf der Mittleren Loggia des Petersdoms am 13. März 2013 haben sich in die Herzen der Menschen eingeprägt.“ Franziskus machte bereits in den ersten Minuten seines Pontifikates deutlich, worum es ihm geht: Nähe zu den Gläubigen. Dies zeigt sich auch in der Namenswahl. Ein Kurienmitarbeiter betont, dass Papst Franziskus sich mit dem Heiligen von Assisi einen Patron gewählt habe, der die Kirche vor dem inneren Verfall gerettet hat: „Im Gegensatz zu den vielen, teils autoritätsfeindlichen und häretischen Armutsbewegungen des Mittelalters, war Franz von Assisi – wie Papst Franz auch über sich selbst sagt – ein „Sohn der Kirche“, der nicht ohne, sondern in und mit der Kirche das Evangelium leben und predigen wollte. Der Name ‚Franziskus’ ist Programm. Nicht nur für den Papst, sondern für alle Katholiken“. Papst Franziskus fasse zusammen, was bereits Benedikt XVI. in seiner heftig kritisierten Freiburger Rede aus dem Jahr 2011 „Entweltlichung“ nannte. Die Kirche „ist in der Welt und wirkt in ihr, muss aber doch immer wieder Distanz zu ihr nehmen, damit sie Salz und Sauerteig bleibt. ‚Entweltlichung’ meint nicht ‚Sakristeikatholizismus’, sondern freies und mutiges Hinausgehen in die Gesellschaft ohne falsche Rücksichten auf Macht und Geld“.
Auch für Kardinal Kasper zeigt sich hier auf der Loggia des Petersdomes das „ganze Amtsverständnis“ des neu gewählten Papstes. Ihm liegt, so Kardinal Kasper, das II. Vatikanische Konzil zu Grunde, „vertieft durch die spezifische nachkonziliare Argentinische Theologie des Volkes Gottes“. Franziskus mache deutlich, dass er gemeinsam mit den Gläubigen „den Weg des Glaubens“ gehen möchte. Er ist sich bewusst, dass er auf die „Unterstützung des ganzen Gottesvolkes“ angewiesen ist, so der Kardinal: „Was mich dann aber am meisten zutiefst bewegt hat, war dass er vor dem traditionellen Segen das auf dem Petersplatz versammelte Volk bat, für ihn zu beten, damit Gott ihn segne. Er verneigte sich tief während es auf dem übervollen Petersplatz von einem Moment auf den anderen für Minuten mäuschenstille wurde“.
Die tiefe Verneigung vor den Gläubigen und die Suche nach ihnen, ziehen sich durch das erste Jahr seines Pontifikates. Der Papst wohnt im Gästehaus Santa Marta, weil er unter Menschen sein möchte. Er ruft bei einem jungen Vergewaltigungsopfer aus Argentinien an, um die Frau zu trösten. Er lässt einen behinderten Jungen auf sein Papamobil steigen und dreht mit ihm einige Runden auf dem Petersplatz. Eine Sonderbehandlung für hochrangige Gäste des Petersdoms hat Franziskus jedoch kurzerhand abgeschafft: Alle stehen nun in der gleichen Schlange und warten. Wenn ihn eine Schulklasse aus Kalabrien in der Frühmesse besucht, müssen hochgestellte Gäste eben eine Absage verkraften.
Kardinal Kasper ist unmittelbar an das Gleichnis Jesu vom guten Hirten erinnert: „Die Schafe hören und verstehen seine Stimme und folgen ihm, weil er ganz für sie da ist und weil er das verlorene Schaf nicht streng tadelnd und mit Stockschlägen ins Gehege zurücktreibt sondern liebevoll auf die Schultern nimmt und zu den anderen zurückträgt. Dazu braucht er starke Schultern, denn es sind heute sehr viele, die er zurückholen möchte“. Dazu braucht er Kraft und Unterstützung. Kardinal Kasper berichtet: „wenn immer man den Papst trifft, verabschiedet er sich mit der Bitte „Beten Sie für mich.“ Es ist dieselbe schlichte Bitte, die er gleich am ersten Abend aussprach.“
Papst bietet neues Zuhause
Die Gläubigen schätzen den „Papst zum Anfassen“, wie ihn viele Medien bezeichnen. Für die Chefredakteurin des Osservatore Romano macht ihn diese „außerordentliche Nähe zu den Menschen“ zu „einem von uns“. Sie schreibt: „Bei jemandem, der ‚uns’ aufgrund seiner schlichten Lebensweise sehr ähnlich ist, fühle ich mich wie zu Hause. Deshalb habe ich den Eindruck, dass bereits im ersten Jahr seines Pontifikats viele Menschen in der katholischen Kirche wieder ein neues Zuhause gefunden haben. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Papst Franziskus vermittelt, beeindruckt mich sehr, und ich finde es einzigartig. Jeden Tag spüre ich, die katholische Kirche ist mein Zuhause.“
Seine klaren Botschaften gibt Franziskus den Menschen wie ein Andenken mit auf den Weg. Menschliches Versagen, Streit oder Neid scheinen ihm nicht fremd. Er warnt vor Klatsch und Tratsch und erinnert seine Vatikanmitarbeiter und damit die Christen generell daran, dass es sich hierbei um eine Sünde handelt. Tratsch sei die „Sprache des Teufels“ und damit im Vatikan verboten. Klare Verhaltensregeln gehören zu seinen Stärken. Er kennt die Menschen und ihre Schwächen. In einer Ehe dürften manchmal „Teller fliegen“, sagte er in einer Predigt. Wichtig sei jedoch, dass man sich schnell wieder versöhne. „Wir alle sind Sünder“, so Papst Franziskus. Dass man sein Verhalten ändern und bereuen könne, darauf komme es an.
Der „kleine“ Dieb in uns
Gudrun Sailer, Redakteurin in der deutschsprachigen Abteilung von Radio Vatikan hat eine kleine Geschichte aus dem Leben des Papstes in besonderer Weise beschäftigt: „In Buenos Aires starb in der Osternacht ein alter Priester. Ein barmherziger Beichtvater war er gewesen, vor seinem Beichtstuhl warteten immer Schlangen. Der junge Pater Jorge Mario Bergoglio erfährt von dem Todesfall und geht zu dem aufgebahrten Leichnam in der Krypta einer Kirche. Unterwegs kauft er Rosen, richtet den Sarg mit den Blumen her. Da fällt sein Blick auf den Rosenkranz, den er Verstorbene in den Händen hat. Was tut Bergoglio? Er folgt einer Eingebung – ihr wisst schon, der kleine Dieb, der in uns allen steckt -, reißt vom Rosenkranz das kleine Kruzifix ab und sagt zu dem verstorbenen Beichtvater: Gibt mir nur die Hälfte deiner Barmherzigkeit! Das Kruzifix trägt Bergoglio in einer kleinen Stofftasche in seiner Soutane. Früher in der schwarzen, heute in der weißen. Wenn er sich über jemanden ärgert, steckt er die Hand in die Tasche und betet: Barmherzigkeit! Wäre ich Filmemacherin, so würde diese Erzählung meine Doku über Franziskus einleiten und beenden. Gott steckt drin, das Neue, das Weitergeben, das Schenken, das Nehmen, die Vergebung, das Schöne, eigentlich alles.“
Franziskus geht an die Ränder
Um das Denken des neuen Papstes besser zu verstehen, rät uns ein Kurienmitarbeiter sein Vorbild und Patron, den Heiligen Franziskus, näher in Augenschein zu nehmen. „Sehr schnell wird dann deutlich, dass der Poverello kein mittelalterlicher Hippie oder Ökorevolutionär war, wie ihn manche Filme karikieren, sondern vor allem ein Christus liebender Mensch, der ihm so ähnlich sein wollte, dass er sogar dessen Wundmale erhalten hat. Seine Armut – so wie zum Beispiel auch die der heiligen Mutter Teresa – ist nicht einfach nur „Solidarität“ mit den Mittellosen, sondern vor allem Nachahmung des Meisters. So ist diese geistliche Armut auch niemals „Armseligkeit“, die alles Schöne verachtet – Franz von Assisi wollte nur die wertvollsten Kelche für die heilige Messe – sondern Konzentration auf das Wesentliche im eigenen Leben. Was brauche ich, um wirklich glücklich zu sein? Die Antwort von Franziskus – und wieder dürfen wir an die beiden Männer gleichen Namens denken – ist: „Nur Gott, nur Jesus!“.
Am Gründonnerstag 2013 brachte Papst Franziskus diese Auffassung in beeindruckender Weise zum Ausdruck, als er der Tradition gemäß, die Fußwaschung vornahm. Sie dient der Verdeutlichung, dass das kirchliche Amt den Charakter des Dienstes und nicht der Herrschaft hat. Die Leiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom, Katja Christina Plate, hat diese Fußwaschung am Gründonnerstag schon mehrmals erlebt. Sie schreibt: „Doch diesmal hat sie mich besonders berührt: In einem Jugendgefängnis der Stadt Rom wusch Papst Franziskus zwölf Insassen verschiedener Nationalitäten und Religionen die Füße. ‚Einer muss dem anderen helfen, das lehrt uns Jesus und das ist das, was ich tue.’ An die Ränder gehen. Auch an seine eigenen Ränder gehen – und dann versuchen mit Gottes Hilfe einen Schritt weiter zu machen. Diese Nachricht des Papstes hat mich in diesem Jahr sehr bewegt.“
Franziskus lehrt uns das Weinen
„Einer muss dem anderen helfen“ – dieser Auftrag fordert Papst Franziskus in vielen Situationen ein. Er verschafft sich Gehör, wo Abstumpfung bereits die Ohren betäubt und die Augen verschlossen hat. Pater Bernd Hagenkord, Leiter der deutschsprachigen Redaktion von Radio Vatikan, erinnert in diesem Zusammenhang an die erste Reise des Papstes: „Mehr als alles andere ist mir aber die Reise nach Lampedusa nachgegangen, oder besser: Die Worte des Papstes dort. Tausende Menschen stürben vor unserer Haustür und wir würden noch nicht einmal mehr weinen. Die Kritiken des Papstes sind stark und direkt, nichts trifft unsere Gesellschaft und mich persönlich aber so sehr ins Mark wie diese Bemerkung. Wir sind menschlich verkrümmt, wenn wir das nicht sehen oder eine aktuelle Katastrophe in den Medien schnell von einer anderen verdrängt wird. Hier sterben Mitmenschen, vor unserer Haustür. Die Debatte geht nicht um Asyl oder Aufnahme, um Geld oder Quoten, es geht um Menschenleben. Das Leben unserer Geschwister.
Ganz ohne moralische Obertöne sprach da ein Mensch, der Menschen mag und dem andere Menschen nicht gleichgültig sind. Wir müssen das Weinen neu lernen. Und dann fällt es auch gar nicht mehr so schwer, zu helfen.“
Jesuitische Unruhe
In seinem ersten Pontifikatsjahr hat Papst Franziskus Veränderungen angestoßen. Er hat ein Gremium aus acht Kardinälen berufen, um umfassende Reformpläne für Kurie und Kirche anzustoßen. Er lässt sich beraten, wenn es um Personalentscheidungen oder Bischofsernennungen geht, und hört sich verschiedene Meinungen an. In Kirchenkreisen heißt es, Benedikt XVI. gehöre zu den wichtigen Berater des Papstes. Dass die Kirche durch den mutigen Rücktritt von Benedikt XVI. auf einmal zwei Päpste hatte, rief anfangs auch Bedenken und Unsicherheit hervor. Die Tatsache, dass Franziskus diesen Umstand gleich in der ersten Nacht durch einen einfachen Gruß thematisierte, freute sicher nicht nur den emeritierten Papst. Wenige Tage später besuchte er Benedikt zu einem Mittagessen in Castel Gandolfo; am 23. März kam es zum offiziellen „historischen Treffen der Kirchengeschichte“ und der Begegnung „zweier Päpste“. Später war Benedikt bei der Segnung eines neuen Michael-Denkmals in den vatikanischen Gärten dabei und nahm an der Weihe des Vatikanstaates an den Heiligen Josef und den Heiligen Erzengel Michael teil. Papst Franziskus hatte offensichtlich ein Anliegen daran, dass Initiativen, die während der Amtszeit von Benedikt XVI. begonnen wurden, auch zu ende geführt wurden. So auch die Enzyklika "Licht des Glaubens" ("Lumen Fidei"). Zum ersten Mal in der Kirchengeschichte erschien damit eine Enzyklika von zwei Päpsten.
Papst Franziskus ist bekannt für ungewöhnliche Aktionen, mit denen niemand gerechnet hat. Pater Max Cappabianca OP, Mitarbeiter der Ostkirchenkongregation, inspiriert das: „Den neuen Papst erfüllt eine typisch jesuitische Unruhe, wie ich sie aus meiner Zeit an der Jesuitenhochschule Sankt Georgen kenne: Eine Unruhe aus Glauben! Manchmal wirklich anstrengend, denn es vergeht kein Tag, an dem der Papst nicht eine gewohnte Perspektive in Frage stellt. Aber es ist irgendwie inspirierend - wenn man mal anfängt, im biblischen Sinn ‚umzukehren’: Oft unbequem und doch immer befreiend!“
Vom zweiten Pontifikatsjahr Papst Franziskus’ dürfen wir alle auch weiterhin viel jesuitische Unruhe erwarten!
Übrigens: Die vollständigen und ungekürzten Texte aller Beteiligten stellen wir am 13. März auf unsere Facebook-Seite.