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Reportajes internacionales

Es geht nicht nur um 20 Cent

de Lukas Lingenthal, Kathrin Zeller, Gregory Ryan

240.000 Menschen protestieren

Zum ersten Mal seit gut 20 Jahren findet in Brasilien eine große Protestbewegung statt. Rund 240.000 Menschen gingen am Montag in vielen Hauptstädten des Landes auf die Straße. Angefangen hatte alles in São Paulo mit einer Demonstration gegen die Erhöhung der Bustarife um umgerechnet rund 7 Eurocent. Inzwischen geht es jedoch um weit mehr.

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Trotz vieler sozialer und struktureller Missstände war Brasilien nie ein Land von großen politisch motivierten Bewegungen. Seit Präsident Collor 1992 nach Protesten der Bevölkerung wegen Korruptionsvorwürfen abgesetzt wurde, ist es auf den Strassen und Plätzen des Riesen am Amazonas eher ruhig geworden. Der Riese ist jetzt aber aufgewacht. Genauso titelten verschiedene Demonstranten Anfang der Woche auf ihren Plakaten. Sie verdeutlichen aber auch, dass es nicht nur um die Erhöhung der Bustarife um 20 brasilianische Cent geht, sondern um weit wichtigere Fragen.

Handeln die politischen Machthaber im Sinne der Bevölkerung oder doch nur in ihrem eigenen? Was passiert eigentlich mit den Steuereinnahmen der letzten Boomjahre, und warum sind Bildung und Gesundheit trotzdem chronisch unterfinanziert? Auf den Transparenten finden sich zudem Sprüche gegen die Polizeigewalt, für einen friedlichen Umgang miteinander sowie Aufrufe zu mehr Toleranz und Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft.

Steigende Preise und schlechter Service

Angefangen beim öffentlichen Transport, der laut einer Studie der Privatuniversität FGV in Arbeitsstunden gemessen einer der teuersten weltweit ist, zeigt sich hier die Unzufriedenheit beispielhaft für zahlreiche Fälle, in denen hohe Preise schlechtem Service gegenüber stehen. Die Inflation zieht seit einiger Zeit aber nicht nur im öffentlichen Nahverkehr wieder stärker an. Auch Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Lebens sind in den vergangenen 12 Monaten teurer geworden als um die 6,5 Prozent der offiziellen Inflationsrate.

In den Großstädten wie São Paulo oder Rio de Janeiro verbringen viele Bewohner jeden Tag Stunden in überfüllten Bussen auf dem Weg zur Arbeit. Auch die Warteschlangen in den Krankenhäusern verlangen ihren Patienten einiges an Geduld ab. Brasiliens Gesundheitssystem ist konstant überfordert und verfügt selbst in den großen Städten weder über ausreichende technische Ausstattung noch über genügend qualifiziertes Personal. Notoperationen kommen allzu oft nicht zustande. Routineoperationen müssen Monate im Voraus terminiert werden bis hin zu dem Risiko, dass aus der Routine dann ein Notfall wird.

Dieselbe Verzweiflung erleben auch Eltern, die ihre Kinder aus finanziellen Gründen auf keine der besseren privaten Schulen schicken können. Berichte aus São Paulo zeigten in dieser Woche Schulen, die seit nicht weniger als 20 Jahren als reines Provisorium genutzt werden, ohne ausreichende sanitäre Einrichtungen, ohne Schulmaterial, ohne qualifiziertes Lehrpersonal.

Die FIFA und die Korruption

Da drängt sich irgendwann die Frage auf, was eigentlich mit all dem Geld der Steuerzahler nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs passiert ist. Antworten darauf finden sich schnell. Korruption ist ein Thema, welches das Land seit jeher beschäftigt. So sind es im Allgemeinen die brasilianischen Politiker, denen ein Mal mehr vorgeworfen wird, mit öffentlichen Geldern ihre eigenen Taschen und die ihrer Freunde zu füllen. Ein Vorwurf, der sicher nicht auf jeden einzelnen Politiker zutrifft, der sich in der Vergangenheit aber in verschiedenen Korruptionsaffären bewahrheitet hat.

In diesem Szenario fiel dann die Vergabe verschiedener Megaevents an Brasilien und Rio de Janeiro. Eine öffentliche Finanzierung des Auf- und Ausbaus der Stadien war zunächst nicht vorgesehen. Nach etlichen Problemen und Verspätungen, die gleichzeitig die Kosten vervielfachten, wurde letztlich dann doch in vielen Fällen auf die Staatskasse zurückgegriffen. Die Rechtfertigung für die absolute Notwendigkeit der Ausgaben versteht sich in den Augen der Zuständigen von selbst. Für die Fußballweltmeisterschaft muss eben der Standard der FIFA erfüllt werden. Dass tatsächlich einmal das Land, das den Fußball wohl mehr liebt als jedes andere, auf eine Weltmeisterschaft zu Hause verzichten möchte, damit hätte wohl kaum jemand gerechnet. Letztlich richtet sich die Kritik der Demonstranten jedoch in erster Linie an die eigene Regierung und deren Umgang mit der Planung der Megaevents. Es ist daher auch kein Zufall, dass beim Eröffnungsspiel des Confederations Cup vergangenen Sonntag Tausende von Fans die Präsidentin auspfiffen, die anschließend just von Joseph Blatter in Schutz genommen werden musste. Während er für Fair Play beim Sport wirbt, fordern die Demonstranten nun mehr Fairness für Brasilien und die Zeit nach den Großereignissen.

Parteien müssen draußen bleiben

Wegen all der Kritik an den politischen Machthabern, sind auch politische Parteien auf den Demonstrationen nicht erwünscht. Zwar gibt es Sympathiebekundungen einzelner Politiker. Auch sieht man auf den Demonstrationen vereinzelt Flaggen und T-Shirts gerade der extrem linken und kommunistischen Parteien PSOL, PSTU, PCdoB und PCO. Doch sind dies oft nur Grüppchen mit wenigen Personen, denen durchaus verbale Anfeindungen anderer Demonstrationsteilnehmer widerfahren, die die Proteste nicht als Profilierungsplattform einzelner Parteien sehen wollen. Vielmehr wählten die Demonstranten bewusst eine parteineutrale Identität, da sie sich nach eigenen Angaben von den etablierten Parteien nicht länger repräsentiert fühlen.

Wer die Demonstranten sind und was sie wollen

Die Vielzahl an Forderungen und Wünschen machen die Demonstrationen bunt und interessant, zugleich stellen sie aber auch einen Schwachpunkt für die Protestierenden dar: Es gibt keine Wortführer. Bei der Demonstration am 17. Juni mit rund 100.000 Teilnehmern in Rio de Janeiro gab es keine Ansprache oder Rede, als sich der Demonstrationszug schließlich vor dem Gebäude des Stadtparlaments eingefunden hatte. Auf den Treppen vor dem Parlament sah man eine bunte Vielzahl von Transparenten und Plakaten, auf denen die unterschiedlichsten Forderungen zu finden waren. Auch in anderen Städten wie São Paulo oder Brasília, wo einige hundert Personen sogar das Dach des Nationalkongresses als Bühne benutzten, war das Bild sehr ähnlich.

Es ist eine sehr heterogene Masse, die sich zu den Protestzügen versammelt, auch wenn es Gruppen gibt, die besonders präsent sind. Laut einer Umfrage der Tageszeitung Folha de São Paulo haben 84% der Demonstranten keine Parteipolitische Präferenz, 77% haben einen Universitätsabschluss oder befinden sich in der Ausbildung, 53% sind jünger als 25 Jahre und 71% beteiligten sich zum ersten Mal an einer politischen Demonstration.

Die Hauptforderungen sind die Reduzierung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr, die Ablehnung eines Gesetzesentwurfs, der die Ermittlungskompetenzen des Ministério Público als einer unabhängigen Ermittlungsinstanz neben der Staatsanwaltschaft bei der Korruptionsbekämpfung einschränken soll, höhere Investitionen in Bildung und Gesundheit, weniger Steuergelder für sportliche Großveranstaltungen ohne gesellschaftlichen Mehrwert und das Ende von überharter Polizeigewalt. Bei den ersten Kundgebungen in der vergangenen Woche mit noch wenigen Teilnehmern hatte es vor allem in São Paulo einige brutale Vorfälle zwischen Polizei und Demonstranten gegeben. Die Proteste am Montag blieben hingegen zum größten Teil friedlich. Die Polizei hielt sich stark zurück und reagierte lediglich auf die Gewalt weniger Randalierer.

Die eben genannten Hauptforderungen allein sind schon vielfältig, doch finden sich daneben zahlreiche weitere. Etwa die Stärkung der Rechte homosexueller Paare und von Indigenen, niedrigere Politikergehälter, mehr Chancengerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft und etliche Einzelforderungen mit teilweise sehr lokalem Bezug.

Die Proteste haben also kein einzelnes konkretes Ziel. Sie sind vor allem eine Unmutsbekundung mit den derzeitigen Lebensumständen und den Demokratiedefiziten im Land. Selbst wenn es einzelne sehr konkrete Punkte gibt, wie die Höhe der Fahrpreise oder das Gesetz zur Korruptionsbekämpfung, so gibt es dennoch keine Gruppe, die die Demonstranten bei Verhandlungen repräsentieren könnte. Somit sind auch konkrete Verhandlungen mit den Regierungen auf föderaler wie bundesstaatlicher Ebene über die geäußerten Forderungen auf weiteres nicht realisierbar.

Aussicht

Insgesamt herrscht bisher in der Bevölkerung großes Staunen und es scheint, als ob die Brasilianer es selbst noch nicht glauben könnten, dass sie zu Derartigem in der Lage sind. Auch die Regierung scheint noch damit beschäftigt zu sein, die neue Bewegung zu verstehen und einzuordnen. Entsprechend verhalten waren bislang die Äußerungen von Präsidentin Dilma Rousseff, ihrem Amtsvorgänger Lula und einigen Ministern. Sie sprachen sich für friedliche Demonstrationen aus, die Teil jeder Demokratie seien, und lehnten übertriebene Polizeigewalt ab.

Wie die Proteste sich entwickeln werden, ist bisher schwer zu sagen. Für die kommenden Tage sind weitere Aktionen bereits angekündigt. Sicher ist jedoch bereits, dass die Debatte um Verteilung von Steuergeldern und das Verlangen nach mehr Rechenschaft die politische Kultur Brasiliens nur positiv beeinflussen kann. Solidaritätsbekundungen kommen derweilen aus der Türkei, wie man den Aufschriften auf einigen T-Shirts und Bannern bei den brasilianischen Demonstrationen entnehmen konnte. Auch außerhalb des Landes in zahlreichen Städten weltweit findet der brasilianische Protest Unterstützung - sowohl auf der Straße als auch in den sozialen Medien.

Sehen Sie hier weitere Bilder der Demonstrationen.

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