Ist der Mercosur ein „Klotz am Bein“? An dieser Frage entzündete sich beim virtuellen Gipfel anlässlich des 30-jährigen Bestehens des südamerikanischen Staatenbündnisses ein handfester diplomatischer Eklat. Uruguays Staatschef Luis Lacalle Pou wurde in seinem Statement beim virtuellen Treffen am 26. März ungewöhnlich deutlich, als er eine Flexibilisierung des Mercosur forderte. Uruguay, so Lacalle Pou, müsse sich stärker in die Weltwirtschaft integrieren können. Dabei dürfe es nicht sein, dass der Mercosur zu einem “Klotz am Bein“ oder gar zu einem „Korsett“ werde. Die Retourkutsche aus Buenos Aires kam prompt. Wer das Bündnis als „Klotz am Bein“ empfinde, polterte der argentinische Präsident Alberto Fernández von der anderen Seite des Silberflusses, sei herzlich eingeladen, ein „anderes Schiff zu nehmen“ und den Mercosur somit zu verlassen. Noch Tage später betonte Fernández, Lacalle Pou habe mit seinen „unglücklichen“ und „unerzogenen“ Aussagen beim Gipfel „die Fassung verloren“.
Was wie eine Anekdote klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Dreißig Jahre nach Gründung des Mercosur gehen die Meinungen darüber, welche Identität das Bündnis haben soll, weit auseinander. Wichtigster Streitpunkt ist das Konsensprinzip, welches im Mercosur für jegliche bilateralen Handelsabkommen mit Drittstaaten herrscht. Die Corona-Krise und die dringende Notwendigkeit, die heimischen Volkswirtschaften anzukurbeln, verleiht den Auseinandersetzungen zwischen der eher protektionistischen Wirtschaftspolitik Argentiniens unter Alberto Fernández und der eher freihandelsfreundlichen Einstellung der anderen Mercosur-Mitglieder zusätzliche Schärfe. So kritisierte Brasiliens rechtspopulistischer Präsident Jair Bolsonaro den Konsensmechanismus und klagte eine „Modernisierung“ des Mercosur ein. Paraguays Präsident Mario Abdo Benítez plädierte für eine Revision der grundsätzlichen Ausrichtung des Bündnisses. Einig waren sich die Staatsoberhäupter Uruguays, Paraguays und Brasiliens darin, dass es grundlegender Veränderungen bedürfe.
Anstatt diesen Reformgeist als Ausgangspunkt für eine konstruktive Debatte über die Zukunft des Mercosur zu nutzen, machte Argentiniens Präsident Alberto Fernández, der momentan den turnusgemäßen Vorsitz des Blocks innehat, bereits in seiner Eröffnungsrede mangelnden Modernisierungswillen deutlich. Er schlug lediglich die Schaffung von neuen „Observatorien“ über die Qualität der Demokratie, geschlechterbezogene Gewalt und Umweltschutz vor. Dieses Agenda-Setting scheint vor allem innenpolitisch motiviert zu sein. Fernández steht unter dem Druck des stärker werdenden linkspopulistischen Flügels des Peronismus, angeführt von der argentinischen Vizepräsidentin Cristina Fernández der Kirchner und dem von ihr geleiteten Think Tank Instituto Patria. Die ehemalige Staatspräsidentin beabsichtigt eine Linkswende Argentiniens voranzutreiben.
Der uruguayische Analyst Nelson Fernández kommentierte in der heimischen Zeitung „El Observador“, die Aussagen Fernández seien ein „Ablenkungsmanöver“ gewesen, welches einer „Ohrfeige“ seiner Amtskollegen gleichgekommen sei. Zusätzlich aufgeladen wurde die Stimmung durch den nur zwei Tage vor dem Jubiläumsgipfel erfolgten Austritt Argentiniens aus der sogenannten „Lima-Gruppe“, einem internationalen Bündnis zur Unterstützung der Wiederherstellung der Demokratie in Venezuela.
Geschichte mit Höhen und Tiefen
Im Gegensatz zu den aktuellen Entwicklungen, stand Einigkeit zu Beginn des Mercosur. So unterzeichneten der argentinische Präsident Raúl Alfonsin und sein brasilianischer Amtskollege José Sarney 1985 eine Absichtserklärung in der Grenzstadt Foz do Iguaçu mit dem Ziel, die Demokratie in den beiden von der Militärdiktatur gebeutelten Ländern zu konsolidieren und den Frieden durch bilaterale Zusammenarbeit sicherzustellen. Im Jahr 1991 schlossen sich Paraguay und Uruguay an und verständigten sich im Vertrag von Asunción auf die Errichtung eines Wirtschaftsraums nach europäischem Vorbild. Innerhalb von vier Jahren sollte eine Zollunion und ein gemeinsamer Markt geschaffen, sowie die Freizügigkeit von Waren, Gütern und Personen und mehr soziale Gleichheit gewährleistet werden. Außerdem verständigte man sich auf die Schaffung einer Freihandelszone mit einem gemeinsamen Außenzoll für Drittstaaten. Hauptziel des Mercosur ist seitdem, die Wettbewerbsfähigkeit der Mitglieder durch regionale Integration zu stärken und ein angemessenes Handels- und Investmentklima zu schaffen.
Die ersten Jahre seines Bestehens konnte der Mercosur eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte aufweisen, die in den 90er-Jahren mit ausländischen Direktinvestitionen, Privatisierungen im öffentlichen Sektor sowie der Steigerung der Umsatzzahlen einherging. Der Handel zwischen den Mitgliedsstaaten verfünffachte sich, Automobilhersteller errichteten regionale Wertschöpfungsketten. Auch politisch verbuchte man Erfolge, etwa als die gemeinsame Haltung 1996 wesentlich half, einen Militärputsch in Paraguay zu verhindern. Der Mercosur galt angesichts dieser Entwicklungen als Erfolgsmodell der lateinamerikanischen Integration und Kooperation.
Dieser Aufschwung verlor jedoch um die Jahrtausendwende an Fahrt. In Abwesenheit eines makroökonomischen Koordinationsmechanismus wie in der EU führten die Abwertung der brasilianischen Währung und die Staatspleite Argentiniens 2001 zu einer enormen Belastung des Bündnisses. Die multilateralen Integrationsziele rückten infolgedessen in den Hintergrund. Zudem wurde der Mercosur zu einer Zeit, in der die Regierungen aller vier Mitgliedsstaaten in gewisser Hinsicht mit dem linkspopulistischen bolivarischen Integrationsprojekt sympathisierten, stark ideologisiert. Höhepunkt dieser Entwicklung war die zeitweise Aufnahme Venezuelas (2012-2017) in den Mercosur.
In der zurückliegenden Dekade gab es durchaus Fortschritte im Bereich der Freizügigkeit des Personen- und Warenverkehrs zwischen den Mitgliedsstaaten. Der 2010 eingeführte gemeinsame Außenzoll schwächte jedoch insgesamt den Wirtschaftsraum. Zwar bemühte sich Argentiniens ehemaliger Präsident Mauricio Macri (2015-2019) mit seinem wirtschaftsliberalen Kurs um neuen Schwung; seitdem jedoch Jair Bolsonaro und Alberto Fernández die beiden Mercosur-Schwergewichte Brasilien und Argentinien anführen, ist das bilaterale Verhältnis von politischen Gegensätzen und persönlicher Abneigung geprägt, welche den Mercosur in eine Starre versetzen.
Offene Baustellen
Auf der Mercosur-Agenda verbleiben zahlreiche Baustellen. Die Senkung der Außenzölle bzw. nicht-tariflicher Handelsbarrieren für Drittstaaten, die vor allem für den kontinentalen Riesen Brasilien von Bedeutung sind, blieb auch beim Mercosur-Jubiläumsgipfel ohne wesentlichen Fortschritt. Brasilien setzt sich aktuell für eine einheitliche Senkung des Außenzolls für Drittstaaten ein, wohingegen Argentinien eine segmentierte und schrittweise Reduktion fordert.
Auch die Einführung der geplanten Mercosur-Staatsbürgerschaft ist noch nicht ausgereift. Insbesondere bei der Freizügigkeit besteht Nachbesserungsbedarf. Die lange diskutierte Währungsunion zur Stabilisierung des Wechselkurses scheint momentan weit entfernt. Das 2005 mit großen Ambitionen eingerichtete Mercosur-Parlament in Montevideo bleibt ein zahnloser Tiger, welcher kaum Beachtung findet. Immer wieder wird auch der langsame Ausbau der Transportinfrastruktur, insbesondere von Schienen- und Wasserwegen, zwischen den vier Mercosur-Staaten thematisiert.
Neben diesen Mercosur-internen Baustellen fehlt es dem Bündnis auch an internationaler Perspektive. Es gibt keine Handelsabkommen zwischen dem Mercosur mit den wichtigsten Volkswirtschaften der Welt wie den USA, China, Japan oder Südkorea. Die unterschiedlichen Handelsinteressen der vier ungleichen Staaten und der Wechsel zwischen protektionistischen und freihandelsfreundlichen Regierungen erschweren Einigungen über Handelsverträge.
EU-Mercosur-Abkommen auf der Kippe
Umso bemerkenswerter ist es, dass Ende 2019 die Verhandlungen über das EU-Mercosur-Assoziierungsabkommen nach 20 Jahren abgeschlossen werden konnten. In den vergangenen Monaten ist der Ratifizierungsprozess jedoch insbesondere von Seiten einiger EU-Mitgliedsstaaten ins Stocken geraten – bei derzeit ungewisser Perspektive.
Ziel des Abkommens ist die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, der mehr als 500 Millionen Menschen, 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Welt sowie 17 Prozent der weltweiten Exporte umfassen würde. Interne Handelsbarrieren sollen weitestgehend abgeschafft und enorme Investitionsanreize gesetzt werden. Zudem umfasst das Abkommen umfangreiche arbeits- und umweltrechtliche Bestimmungen.
Dieses Abkommen wäre nicht nur für den Mercosur sondern auch für die EU von enormer geopolitischer Bedeutung. Nicht zuletzt angesichts des wachsenden Einflusses Chinas, welches seit 2017 die EU als wichtigsten Handelspartner des Mercosur überholt hat, ist die EU auf die Mercosur-Staaten als feste Wertepartner angewiesen. Neben der wirtschaftlichen und sozialen Dimension hat das Abkommen somit auch eine geostrategische Bedeutung, die in der Diskussion auf beiden Seiten des Atlantiks nicht ausreichend beleuchtet wird. In den integrationsfreundlicheren Mercosur-Staaten wie Uruguay macht sich zunehmend Frustration über den schleppenden Fortschritt des Ratifizierungsprozesses breit. Nichtsdestotrotz ist aber auch der Mercosur zu stark mit hausgemachten Problemen beschäftigt, um kraftvoll und koordiniert auf eine Ratifizierung des Abkommens drängen zu können.
Zukunft ungewiss
Bei allen internen Herausforderungen stellt der Mercosur mit einer Fläche von 14,9 Millionen Quadratkilometern, 295 Millionen Einwohnern, einem Handelsvolumen von 478 Milliarden US-Dollar (Stand: 2019) den fünftgrößten Wirtschaftsraum der Welt dar. Als größter Fleisch- und Soja-Exporteur der Welt ist er für die weltweite Nahrungsmittelversorgung von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus verfügen die vier Mitgliedsstaaten über bedeutende Energieträger-, Rohstoff- und Süßwasserquellen. Hinsichtlich der regionalen Integration kann der Mercosur auch Erfolge im Bereich der Bildungs-, Sozial- und Migrationspolitik vorweisen.
Angesichts der unterschiedlichen Interessen seiner Mitglieder[i], erscheint die Zukunft des Mercosur jedoch zunehmend ungewiss. Brasilien, Paraguay und Uruguay machen sich für eine Senkung der Außenzölle stark und fordern eine Flexibilisierung bei der Verhandlung von Abkommen mit Drittstaaten. Während Uruguay und Paraguay dabei verstärkt auf ein Handelsabkommen mit der Volksrepublik China zielen, bemüht sich Brasilien um die Erschließung US-amerikanischer Absatzmärkte. Argentinien fährt hingegen einen protektionistischen Kurs und stellt sich generell gegen Änderungen am Status Quo.
Neben wirtschaftspolitischen Differenzen hat zuletzt die Corona-Pandemie vor Augen geführt, dass es auch auf politischer Ebene an Integrations- und Abstimmungswillen fehlt. Weder gab es Abstimmungen bei den Reisebeschränkungen und Maßnahmen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens, noch bündelte man Kräfte bei der Impfstoffbeschaffung.
Es bleibt die Frage, ob sich der Familienkrach zum Jubiläumsgipfel eher zu einem reinigenden Gewitter oder aber zum Anfang vom Ende des Staatenbundes entwickelt. Nicht nur in Uruguay wird immer offener die Frage gestellt, welchen Sinn der Mercosur in seiner derzeitigen Form noch hat. Fest steht, dass es politischen Willen aller Beteiligten bräuchte, das Schiff Mercosur wieder auf einen klaren Kurs zu bringen.
30 Jahre nach seiner Gründung braucht der Staatenbund dringend eine Zukunftsvision. Will er Wirtschaftsraum oder politisches Integrationsprojekt sein? Versteht er sich als Wertegemeinschaft oder als Zweckbündnis? Trachtet er nach Flexibilität und Anschlussfähigkeit an die handelsfreundliche Pazifik-Allianz oder hält er an seiner traditionellen Schwerfälligkeit fest? All diese Fragen warten dringend auf überzeugende Antworten.
[i] Vgl. dazu das Policy Paper der KAS Uruguay und der Universidad Católica de Uruguay: „Reflexiones sobre los treinta años del Mercosur” – abzurufen unter https://dialogopolitico.org/wp-content/uploads/2021/03/Reflexiones-30-anos-Mercosur_KAS-UCU.pdf.