Reportajes internacionales
Nach den ersten 100 Tagen hörten die Politiker Argentiniens zum ersten Mal wieder das beunruhigende Trommeln auf Töpfe und Pfannen, dass die Krise von 2001 begleitete und welches in ihren Ohren ein beängstigendes, wenn auch scheinbar schon wieder vergessenes Signal des Unmuts der Bevölkerung sein müsste.
In Wirklichkeit sind es bereits mehr als 100 Tage seit dem Amtsantritt der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Die ersten Tage allerdings verbrachte die Präsidentin im patagonischen Zufluchtsort des Ehepaares Kirchner, im mehr als 3000 km von Buenos Aires entfernten El Calafate. Während die ebenfalls neu angetretene oppositionelle Regierung von Buenos Aires unter ihrem Regierungschef Mauricio Macri eine Urlaubssperre verhängte und konsequent an die Arbeit zur Einlösung ihrer Wahlversprechen ging, erholten sich die Präsidentin und große Teile ihrer Regierung zunächst einmal vom anstrengenden Wahlkampf.
Jetzt, nachdem die ersten entscheidenden Wochen des Regierens und die Zeit zum Setzten neuer Zeichen verstrichen ist, sieht die Bilanz der Politik der ersten „Präsidentin“ in der Geschichte Argentiniens eher traurig aus.
Statt notwendigem Wandel und zumindest notwendiger innen- und außenpolitischer Signale, ist lediglich die Kontinuität der Politik des Vorgängers und Ehemannes Néstor Kirchner festzustellen. Die Regierungsmannschaft besteht weiterhin, bis auf einige Umbesetzungen und einen neuen, noch sehr jungen Wirtschaftsminister, aus dem engen Zirkel der Macht um Néstor Kirchner. Versprechungen, wie neue Akzente in der Außenpolitik und gar ein versprochener Sozialpakt, wurden nicht erfüllt. Im Gegenteil, die alten Konstruktionen der Beteiligung der mächtigen Gewerkschaften an der politischen Macht zur Sicherung derselben, wurden erneuert.
Als im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung in den USA gegen Aktionen des venezolanischen Geheimdienstes der Verdacht erhärtet wurde, dass die bereits im August 2007 bei einem US-Venezolaner bei der Einreise nach Argentinien beschlagnahmten 800.000,- USD, welche dieser in einem Privatflugzeug gemeinsam mit hohen argentinischen Funktionären aus Caracas kommend ins Land schmuggeln wollte, als illegale Wahlkampfhilfe für den „Oficialismo“ gedacht waren, reagierte die Präsidentin völlig überzogen. Sie beschuldigte die USA einer „schmutzigen Aktion gegen die argentinische Regierung“. Nur mit Mühe gelang es anschließend, den diplomatischen Schaden zu begrenzen. Die Reaktion, als eine der ersten außenpolitischen Handlungen, lief dem vorgeblichen und bestimmt auch glaubwürdigen Bemühen zuwider, die Beziehungen zu den USA, beschädigt durch die ständige Nähe und weitere Unterstützung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, wieder zu normalisieren.
Im heißen argentinischen Sommermonat Januar zeigten sich, wie vorauszusehen war, wieder die üblichen Mängel der Energieversorgung des Landes. Cristina Kirchner musste, was ihr Vorgänger nie tat, die Existenz einer „Energiekrise“ öffentlich zugeben. Energie für die Wirtschaft wurde begrenzt, Stromausfälle legten ganze Stadtteile der Megacity Buenos Aires lahm. Gegenrezepte waren die Verteilung von Strom sparenden Lampen und die Einführung einer „Sommerzeit“ für 3 Monate. Hilflose Gesten, welche natürlich nichts am Grundübel der ungenügenden Versorgung, die den Bedarf der wachsenden Wirtschaft und des damit auch wachsenden privaten Konsum seit langem nicht mehr decken kann, änderten. Die politische, sicherheitspolitische und vor Allem rechtsstattlichen Defizite, welche die notwendigen internationalen Investitionen erschweren, wurden bisher nur ungenügend beseitigt.
Zweigleisige Macht
Das von Cristina Kirchner und ihrem in der Politik ständig weiter präsenten Vorgänger etablierte System der zentralen Machtkonzentration bei der Exekutive, durch entsprechende Mehrheiten ohne parlamentarische Kontrolle, die staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft, die Landwirtschaft, auf Preise und Exportraten, ist nach diesen ersten 100 Tagen nicht ohne Folgen geblieben. Politisch hat die politische Zentralisierung und die finanzielle Abhängigkeit der Gouverneure und Bürgermeister aller Provinzen einen Höhepunkt erreicht. Néstor Kirchner hat fast alle, selbst aus den Reihen der UCR, dem ehemals traditionellen Gegenpart des Peronismus, auf seine Linie gezwungen und versucht dieses Modell, während seine Frau die Präsidentschaft inne hat, zu stabilisieren um mit anzunehmender Sicherheit im Jahr 2011 wieder gewählt zu werden. Während also Néstor Kirchner durch eine konsequente Rekonstruktion der justizialistischen Partei des Peronismus in seinem Sinn der populistisch-peronistischen Führerschaft quasi eine politisch parallele Machtschiene aufbaut, versucht die nationale Regierung Cristina Kirchners die Abschöpfung der, durch die internationale Konjunktur für argentinische Landwirtschaftsprodukte kräftig sprudelnden Exporterlöse, weiter zu erhöhen. Die offiziellen Inflationszahlen werden gleichzeitig durch Manipulation des staatlichen statistischen Institutes INDEC und Veränderung der Indizes verfälscht und entsprechen mittlerweile in keiner Weise mehr der Realität. Laut Berechnungen der Beratungsgesellschaft „Ecolatina“ (www.ecolatina.com) belief sich die tatsächliche Inflationsrate für die ersten beiden Monate des Jahres auf mehr als das Doppelte der über das INEC veröffentlichte offizielle Rate. Für den Jahresverlauf 2008 rechnet „Ecolatina“ mit einer Teuerungsrate von 25 %.
Die zwischenzeitlich auf etwa 50 Milliarden US-Dollar angewachsenen Devisenreserven des Landes werden nicht dazu genutzt, die aus der Krise verbliebenen Schulden beim „Club von Paris“ zu begleichen. Die Staats-ausgaben stiegen um ca. 40% und es wurden erneut Schuldverschreibungen emitiert. Dadurch stieg die Abhängigkeit vom populistischen Machthaber Hugo Chávez, der den überwiegenden Teil dieser Bonds aufkaufte. Eine strategisch nachhaltige, zumindest mittelfristig angelegte Regierungspolitik ist kaum zu erkennen.
Der „Campo“ wehrt sich
Argentinien konnte in den vergangenen Jahren ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum vorweisen. Wenn sich dies die Regierungen Kirchner auch über Gebühr auf die eigenen Fahnen schreiben, so ist die Erholung des Landes nach der Krise von 2001 doch auch auf eine konsequente Finanz- und Steuerpolitik zurückzuführen. Den größten Beitrag zum Wachstum erbrachte die Landwirtschaft, deren Struktur durch die große Nachfrage und durch Höchstpreise auf dem Weltmarkt vor Allem zu Gunsten des Anbaus und des Exports von Soja und zu Ungunsten der traditionellen Produkte, wie Fleisch, Weizen, Mais und Ölsaaten stark verändert wurde. Während die Abgaben auf die entsprechenden Exporterlöse ohnehin an die nationale Regierung gehen, weist die Rück- und Umverteilung der Steuereinnahmen an die Provinzen im Rahmen des föderalen Systems der „Coparticipación“ starke Verwerfungen auf und ist das Mittel, die Provinzen in wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit zu halten.
Eine erneute Anhebung der Exportabgaben mit progressivem Charakter (Retenciones), vor Allem auf Sojaexporte, welche am 11. März 2008 verkündet wurde, stieß bei den Landwirten und ihren Vereinigungen auf Widerstand. Betroffen sind in erster Linie die kleinen und mittleren Produzenten, die zwar den kleineren Teil der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen bewirtschaften, aber 70% der Produzenten insgesamt ausmachen. Für sie sind die vom Staat geforderten mittlerweile 44% ihrer Einnahmen unannehmbar, gehen an die Grenze der Rentabilität. Im ganzen Land entstanden in einer konzertierten Protestaktion Straßensperren zur Behinderung des Transports landwirtschaftlicher Produkte, nicht nur in die Exporthäfen am Paranafluss. Die Protestaktionen beeinträchtigten sehr bald auch die Versorgung im Land und hatten Auswirkungen auf die Preise.
Die Regierung fand sich zu entscheidenden Verhandlungen nicht bereit. Nach 3 Wochen verschärfte sich die Situation. Mit einem Protest des „Campo“ in diesem Ausmaß war wohl bisher noch keine argentinische Regierung konfrontiert. Er wurde total unterschätzt.
Zusätzlich führte der Streik zur Solidarisierung großer Teile der Bevölkerung der Städte mit den protestierenden Landwirten. Auch dies ist neu und kann als Demonstration des allgemeinen Unmuts mit der populistischen Regierungsführung gewertet werde.
Aber das Unheil verkündende Topfschlagen auf der Straße, scheint die Regierung bisher noch nicht genügend zu beeindrucken. Zuerst disqualifizierte die Präsidentin die Proteste als „Streik des Überflusses“. Angesichts der öffentlichen Entrüstung ruderte sie zurück und „bat“ um die Aufhebung der Strassensperren, den Streikenden gleichzeitig vorwerfend, sie würden der Bevölkerung die Lebensmittel vorenthalten. Angebote zur Verhandlung kamen immer noch nicht und als man sich zu diesen gezwungen sah, gingen die verhandelnden Parteien nach 6 Stunden ergebnislos auseinander.
Die friedlich auf der Plaza de Mayo demonstrierende Bevölkerung wurde zudem, bei offensichtlicher Zurückhaltung der Polizei, mit den Schlägertruppen der regierungstreuen Gewerkschaften konfrontiert und es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen. Schließlich wurden diverse, aber offensichtlich ungenügende Kompensationsangebote für die kleinen und mittleren Produzenten unterbreitet, gleichzeitig mit der Anwendung des Gesetzes zur Aufrechterhaltung der Versorgung gedroht. Dieses Gesetz gibt der Regierung die Möglichkeit, mit Gewalt einzugreifen, d.h. die Straßensperrungen mit Hilfe der nationalen Gendarmerie gewaltsam zu beseitigen.
Gefährliches Spiel mit dem sozialen Frieden
Dies ist nicht nur ein gefährliches Spiel mit dem sozialen Frieden des Landes um machtpolitischer Ziele willen. Es liegt die Vermutung nahe, dass man in der Regierung den Bezug zur politischen und sozialen Realität des Landes zu verlieren beginnt, die weitere Entwicklung des Landes gefährdet, indem man die Sektoren, welche den wichtigsten Anteil an der Wiedererholung geleistet haben, über Gebühr strapaziert.
Im Bestreben, die öffentliche Meinung patriotisch-populistisch zu manipulieren, organisierte der „Kirchnerismo“ mit Hilfe der linientreuen und mächtigen Gewerkschaften, vor Allem mit Hilfe der Transportgewerkschaft, in bekannter Manier eine Demonstration der öffentlichen Zustimmung zur Politik der Präsidentin am 3. April auf der Plaza de Mayo. Tausende Personen, in der Mehrheit Mitglieder der Piquetero - Organisationen (das sind illegale Streikposten der sozialen Bewegungen) wurden wieder einmal herangekarrt, die gesamte Regierungsmannschaft und die Mehrzahl der Gouverneure waren anwesend. In Umkehrung der kausalen Zusammenhänge demonstrierte die Präsidentin „soziale Verantwortung“ und beschuldigte die protestierenden Landwirte, der Bevölkerung die notwendige Versorgung mit Lebensmitteln vorzuenthalten.
Am 4. April beschlossen die Vertretungen des Campo, die Streiks und Straßensperrungen für 30 Tage aufzuheben. Der überwiegende Teil der Bevölkerung zeigte sich erleichtert, hält aber die Solidarität aufrecht und zeigt dies auch öffentlich.
Bereits jetzt sind dem Land nicht nur erhebliche finanzielle Schäden entstanden. Auch der in den letzten Tagen beschlossene Stopp des Fleischexports wird negative Folgen für die argentinischen Ausfuhren, insbesondere auf den europäischen Märkten haben.
Die Zukunft Argentiniens bleibt unberechenbar
Die ersten 100 Tage der Regierung Cristina Kirchners endeten mit einem beachtlichen Chaos.
Jetzt zeigen sich die Auswirkungen des Politikstils des „System Kirchner“. Jetzt kommen die Verwerfungen des demokratischen Systems, die Schwächung der Institutionen und des Rechtsstaats, die versäumten Entwicklungen in der Ökonomie, die Manipulation der öffentlichen Information, das Fehlen einer ökonomischen, innenpolitischen und außenpolitischen Agenda zum Tragen.
Die Nachfrage nach den argentinischen Exportprodukten wird jedoch nicht sinken und weiterhin Viel Geld in die Staatskasse spülen. Es ist nicht zu erwarten, dass es zu einer vergleichbaren Krise wie im Jahr 2001 kommen könnte.
Aber der soziale Frieden Argentiniens ist bedroht und die Ereignisse der letzten Wochen zeigen deutlich: Die aktuelle Regierung und ihre Art von Politik kann die großen Gegensätze des Landes nicht lösen. Wieder einmal bleibt zumindest die politische Zukunft des Landes unberechenbar. Ernst zu nehmende politische Alternativen entwickeln sich zwar, z.B. durch die neue Regierung der Hauptstadt Buenos Aires, werden aber zumindest kurzfristig nicht den notwendigen oppositionellen Einfluss entwickeln können, um grundlegende Veränderungen in der Regierungspolitik zu erzwingen.
Es ist zu hoffen, dass die „Cacerolazos“ nicht leichtfertig überhört werden und nicht zum Auftakt neuer sozialer Unruhen werden, die im Jahre 2001 eine Phase der politischen Instabilität einläuteten!