Anhaltende passive Wählermobilisierung
Weitere 22 Parteien bzw. -blöcke schafften nicht den Einzug ins Parlament! Insgesamt vereinten damit die „Sonstigen“ 19% der abgegebenen Stimmen auf sich! Die Wahlbeteiligung betrug 49,4%, sodass die Abgeordneten des neuen Parlaments streng genommen lediglich ca. 40% der Wahlberechtigten insgesamt repräsentieren. Dies ist mit Blick auf eine inhaltliche Analyse des Wahlergebnisses nicht ohne Bedeutung, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird. Allerdings sei daran erinnert, dass die Wahlbeteiligung bei der vorherigen Parlamentswahl 2018 auch nur bei 48,6 % lag. Diese Konstellation lässt weiterhin viel Raum für Spekulationen über mögliche Manipulationen oder gar Fälschungen. Die in Armenien scheinbar übliche Zuspitzung auf zwei Personen mit jeweils sehr kurzem Wahlcredo lässt vermuten, dass auch diesmal von allen Seiten eher eine passive Wählermobilisierung angestrebt wurde.
„Biete meinen Sohn gegen Kriegsgefangene…“
Wie viel menschliche Verzweiflung steht hinter solch einem „Angebot“? Immerhin bewegt die Armenier seit dem verlorenen Krieg um Bergkarabach Ende 2020 kaum etwas mehr als das Schicksal der armenischen Kriegsgefangenen, die sich in den Händen der Aserbaidschaner befinden und laut Vereinbarung schon längst hätten ausgeliefert werden sollen. Oder war es doch nur ein mehr oder weniger nur auf Effekt zielender Schuss aus der Wahlkampfkanone des armenischen Premierministers? Hatte Nikol Paschinjan ernsthaft damit gerechnet, Kriegsgegner Aserbaidschan würde auf ein solches Angebot eingehen?
Zwischenzeitlich war daraufhin berichtet worden, dass der Präsident Aserbaidschans, Ilham Aliyev, darauf geantwortet haben soll, dass er für den Sohn des armenischen Premiers höchstens zwei Schafe bieten würde. Allerdings wurde diese Mitteilung später offiziell dementiert. Immerhin wurden in der Woche vor dem Wahlsonntag 15 armenische Kriegsgefangene aus aserbaidschanischer Gefangenschaft zurückgeführt, nachdem das armenische Militär Kriegsgegner Aserbaidschan kartographisches Material einer Provinz in Karabach übergeben hatte, auf dem Fundorte für verlegte Minen verzeichnet sind.
In einem Länderbericht muss nicht diskutiert werden, ob es nur eine Frage des Geschmacks sei, derartige Vorgänge ernst zu nehmen oder nach üblichen Maßstäben zu bewerten. Selbst wenn man berücksichtigt, dass in Wahlkampfzeiten die Temperamente mancher Akteure zuweilen alle „roten Linien“ überschreiten, bleibt es ein fragwürdiger Vorgang, sowohl das „Angebot“ des Armeniers als auch die Antwort des Aserbaidschaners. In einer solchen Stimmungslage stellt sich allerdings die Frage, wie der Konflikt zwischen beiden Ländern um die Enklave Bergkarabach jemals gelöst werden könnte. Der Waffenstillstand vom 9. November 2020 ist eben nur ein Waffenstillstand und weit davon entfernt, das Problem endgültig und in beidseitigem Übereinkommen lösen zu können. Es kann hier nicht weiter auf die Hintergründe des Krieges eingegangen werden. Jedoch hat der Konflikt um Bergkarabach weiterhin das Potential, die armenische Innenpolitik zu dominieren.
Täuschungen und Irrtümer in einer Stimmungsdemokratie
Es ist überhaupt nur zu diesen vorgezogenen Neuwahlen am 20. Juni gekommen, weil die parlamentarische und außerparlamentarische Opposition spätestens seit Jahresanfang massiv den Rücktritt des Premierministers Paschinjan und dessen „unfähiger“ Regierung gefordert hatte. Sehr schnell wurden seitens der Opposition Beispiele zusammengetragen, die angeblich beweisen sollten, dass letztendlich der Regierungschef persönlich für die verheerende Kriegsniederlage im Herbst 2020 verantwortlich gemacht werden sollte. Angesichts tausender Toter, zehntausender armenischer Flüchtlinge aus Bergkarabach und vieler Kriegsgefangener, deren Schicksal übrigens bis jetzt nicht klar ist, glaubte die Opposition, die Stimmung habe sich mehrheitlich gegen die Regierung gedreht. Übten nicht schon seit einiger Zeit auch Mitglieder von Paschinjans Bewegung bereits deutliche Kritik an ihrem Helden der „Samtenen Revolution“ von 2018? Hatten Mitglieder der Regierungsfraktion diese nicht schon längst verlassen aus Protest gegen ihn und sein Regierungshandeln? Und schließlich: Waren nicht einige Beispiele für das militärstrategische „Versagen“ des Premierministers, der auch Oberbefehlshaber der Armee ist, tatsächlich evident?
Von der in militärtechnischer und -taktischer Hinsicht haushohen Überlegenheit der aserbaidschanischen Streitkräfte, die letztendlich zur schweren Niederlage der Armenier führte, war öffentlich kaum noch die Rede. Nach Meinung der armenischen Opposition habe einzig und allein das Unvermögen der Regierung Paschinjan dazu geführt, dass aus armenischer Sicht nunmehr der Worst Case in Bergkarabach eingetreten war: Aserbaidschaner hatten nicht nur die als militärische Pufferzone in Talkarabach gelegenen Provinzen erobert, die seit 1994 unter der Herrschaft der Armenier standen. Nunmehr stehen aserbaidschanische Truppen in Bergkarabach selbst! Die heilige Stätte Schuschi, nur 20 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Bergkarabachs Stepanakert, ist nunmehr unter völliger Kontrolle des aserbaidschanischen Militärs. Die öffentlich immer wieder von der Opposition vorgenommene Delegitimierung Paschinjans in Sachen Bergkarabach, die schon unmittelbar nach dessen Machtantritt 2018 einsetzte, schien sich zu bewahrheiten. Für führende Oppositionelle wie den ehemaligen Präsidenten Armeniens Kotscharjan schien der Fall klar zu sein. Das muss die Stunde der Opposition sein!
Bleibt Bergkarabach das alles überragende Thema für die Armenier?
Seit der endgültigen Erlangung der Unabhängigkeit der Republik Armenien 1991 wurde das Land ausschließlich von Präsidenten bzw. Premierministern regiert, die persönliche und direkte Verbindungen nach Bergkarabach hatten. Nikol Paschinjan ist der erste, dem diese Erfahrung vollkommen fehlt. Im Vergleich mit Robert Kotscharjan, dem ehemaligen „erfolgreichen“ General der Karabach-Armee im ersten Krieg von 1991 bis 1994, späterer Staatspräsident in Bergkarabach und der Republik Armenien selbst, wirkte Paschinjan nicht nur deutlich jünger, sondern konnte vor allem als besonders unerfahren dargestellt werden.
Allerdings kann man auch davon ausgehen, dass es bei Kotscharjan nicht nur taktische, innenpolitische Überlegungen waren. Der ehemalige General der Streitkräfte Bergkarabachs, ebenso Premierminister und Präsident in dieser Region, die sich selbst als Republik Artsach sieht, wurde 1998 auch Präsident der Republik Armenien. Eine noch stärkere Symbiose zwischen Armenien und Bergkarabach in personam ist kaum vorstellbar. Geschichte, politische Erfahrungen und gefühlte Stimmungslage im Land ließen für ihn keinen anderen Schluss zu, als jetzt einen erneuten politischen Wechsel herbeiführen zu wollen.
Aber führt Kritik der Armenier am Regierungsstil Paschinjans automatisch dazu, dass nun wieder die „alte Garde“ gewählt wird? Genau die sollte ja durch Paschinjans „Samtene Revolution“ von 2018 für immer von der politischen Bildfläche verschwinden. Es ist schon bemerkenswert, wie wenig bei der Opposition diese Überlegung eine Rolle spielte. Kotscharjans Wahlbündnis „Armenien“ fühlte die Möglichkeit eines Regierungswechsels immer näher kommen.
Mit dem „Rücken zur Wand“ oder grenzenloses Selbstvertrauen Paschinjans?
Regierungschef Paschinjan reagierte im Frühjahr 2021 mitunter etwas dünnhäutig auf die Rücktrittsforderungen der inner- und außerparlamentarischen Opposition. Aber im April gelang ihm ein politischer Schachzug, der sozusagen am Ende des Tages, also am Abend des Wahlabends am 20. Juni zu einem überraschenden Ergebnis führte, jedenfalls wenn man die von der Opposition gefühlte Stimmungslage im Land als Referenzebene nimmt. Zum einen verweigerte er einen vorzeitigen Rücktritt, zum anderen bot er vorgezogene Neuwahlen für Juni an.
Aber Paschinjans im April gemachtes Angebot für vorgezogene Neuwahlen im Juni schien einzelnen Oppositionellen, beispielsweise Teilen der ehemals dominierenden Partei „Republikaner“, dann doch etwas verfrüht gekommen zu sein. Sind freie und faire Wahlen in einer solch polarisierten Stimmung überhaupt durchführbar? Kann in einer solch kurzen Vorbereitungszeit gewährleistet werden, dass einer der Hauptgründe früherer Wahlfälschungen, nämlich der Missbrauch öffentlicher Infrastruktur zugunsten der Regierungspartei, eingedämmt oder gar verhindert wird? Dieser Faktor darf nicht unterschätzt werden, wenn man bedenkt, wie viele Armenier von öffentlich finanzierten Jobs abhängig sind.
Umgekehrt stellte sich für Paschinjan und dessen Anhänger die Frage, wie manipulierbar eine Stimmabgabe ist vor dem Hintergrund, dass faktisch bis zum Wahltag ständig sehr emotionale Demonstrationen beispielsweise von Müttern stattfinden, die von der Regierung fordern, ihre kriegsgefangenen Söhne heimzubringen. Welche Angebote könnte man den Müttern, Ehefrauen und ganzen Familien machen, für die ausschließlich das Schicksal ihrer Angehörigen im Krieg entscheidend ist, auf welchen der 25 Wahlzettel sie ihr Kreuz machen? Hat er die Möglichkeit eines Gefangenenaustauschs gegen seinen Sohn deshalb gemacht? Auch für den Regierungschef wäre die allgemeine Stimmungslage durchaus geeignet gewesen, skeptisch gegenüber einer Wahl zu diesem Zeitpunkt zu sein. Es bleibt die Feststellung, dass der Zeitpunkt für diese Wahlen nicht hätte ungünstiger sein können und zwar aus der Perspektive aller wichtigen Akteure.
„Sicherheit oder Demokratie“ – ein armenischer Generationenkonflikt?
Geradezu symbolisch für die oben beschriebene und bei den Akteuren offenbar vermutete Stimmungslage waren die beiden großen Abschlusskundgebungen der Regierungspartei und der Opposition. Am 17. Juni rief Paschinjans „Zivilvertrag“ zu einer Kundgebung auf dem zentralen „Platz der Republik“ in Yerevan auf. Die Demonstration wurde von 21.000 Menschen besucht. Noch vor drei Jahren versammelten sich an dieser Stelle 300.000 Menschen und mehr, um Nikol, dem Führer ihrer „Samtenen Revolution“ zu huldigen. Paschinjans Credo war deutlich: „Wir müssen die von uns angestoßenen Reformen fortführen…Es geht um die demokratische Zukunft Armeniens.“
Rein äußerlich und a prima vista schien die Heroenrolle nunmehr der ehemalige Präsident, intimer Bergkarabach-Kenner und -Befreier Robert Kotscharjan einen Tag später einzunehmen. Bei der Abschlusskundgebung von dessen Parteienbündnis „Armenien“ (s.o.) erschienen mehr als 30.200 Menschen. Allerdings nahmen auch viele der anderen oppositionellen Parteien und Bündnisse an der Kundgebung teil. Gleichwohl war Kotscharjan der alleinige Star der Veranstaltung. Dessen unmissverständliches Credo lautete: „Sicherheit oder Demokratie“… Unmissverständlich ging es ihm um diese deutliche Prioritätensetzung. Erst wenn für die Armenier in Bergkarabach Sicherheit garantiert sei, könne man auch über Demokratie reden. Zeigt sich in diesen Statements symbolisch der Gegensatz zwischen der alten, auf Bergkarabach fokussierten armenischen politischen Elite und der jungen Generation, denen es angeblich nur um die demokratische Zukunft ihres Landes gehe? Soll es wieder mal nur ein Generationenkonflikt sein?
Die an diesem Tag erschienene Umfrage mit Wahlprognose des international bekannten Instituts „Gallup“ sah mit 28,7% eine Mehrheit für Kotscharjans Bündnis! Paschinjans Partei „Zivilvertrag“ traute man mit 25,2% nur den zweiten Platz zu! Der Wahltag brachte für Kotscharjans Bündnis „Armenien“ tatsächlich nur 21%. Paschinjans „Zivilvertrag“ kam hingegen auf 54%! Gegenüber der Prognose zwei Tage zuvor ein Plus von mehr als 28 Prozentpunkten (!) oder prozentual ausgedrückt die Verdoppelung des Anteils. Am Samstag kann es nicht gelegen haben, denn dieser ist in Armenien sozusagen „Schweigetag“. Es dürfen keine Wahlveranstaltungen durchgeführt werden. Fast möchte man meinen, auch die Umfrageinstitute hätten sich diesmal eher an Stimmungen und nicht an sauber ermittelten Zahlen orientiert.
Es ist davon auszugehen, dass diese Wahlen nicht noch einmal wiederholt werden, da die meisten internationalen Beobachter keine derartigen Verfehlungen gesehen haben, die letztendlich auf massenhafte Fälschungen schließen ließen. Kotscharjans Wahlbündnis „Armenien“ hat bis zum heutigen Tag (Donnerstag, 24. Juni) noch nicht entschieden, ob sie die Wahlergebnisse anerkennen werden. Das Wahlbündnis „Ich habe die Ehre“ mit der ehemaligen Regierungspartei „Republikaner“ lässt weiterhin offen, ob die sieben errungenen Mandate auch ausgeübt werden.
Desaster für die Stimmungsstrategen
So gesehen gehören die Stimmungsstrategen zu den Verlierern dieser Wahl. Die alleinige Zuspitzung des Wahlkampfes auf das Narrativ Jung gegen Alt und dessen Verknüpfung mit dem hochsensiblen Thema Bergkarabach ist für die Armenier ein Problem. Es ist interessant, dass selbst Kotscharjans Credo „Sicherheit oder Demokratie“ von seinen politischen Gegenspielern weitestgehend unwidersprochen blieb. Überhaupt muss bezweifelt werden, ob diese Formel kritischen Analysen standhält. Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass für die Anhänger der beiden Blöcke weiterhin wichtig sein wird, wie das Problem Bergkarabach behandelt wird. Für die Beurteilung der innenpolitischen Herausforderungen bleibt Bergkarabach eine wesentliche, aber sehr fragile Komponente. Die Wahlergebnisse sagen nichts darüber aus, wie mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten dieses Thema einordnet oder gar als wesentlichen Faktor für die eigene Wahlentscheidung relevant macht.
„Demokrat“ versus „Sicherheitsfanatiker“?
Viele Nichtwähler waren zwar von Paschinjans dreijähriger Amtsperiode enttäuscht, wollten aber auf keinen Fall die „Alte Garde“ wählen – Ihnen blieb nur die Entscheidung für das Nichtwählen. Wieder haben in den letzten Tagen unmittelbar nach der Wahl viele internationale Beobachter Paschinjans Wahlsieg als Zeichen gedeutet, mit dem 2018 durch die sogenannte „Samtene Revolution“ herbeigeführten Regierungswechsel habe für Armenien ein neues Zeitalter für die Demokratie begonnen. Und die Wahlergebnisse vom letzten Sonntag haben diese Einschätzung voll und ganz bestätigt. Paschinjan wird auch in Armenien gewiss nicht als ein, um ein geflügeltes Wort aufzunehmen, „lupenreiner Demokrat“ wahrgenommen. Vom Beginn seiner Machtübernahme an versuchte er mit zum Teil sehr fragwürdigen Mitteln diese sogenannte „Alte Garde“ persönlich zu diskreditieren, sodass diese nachhaltige politische Schäden davontrug. Erinnert sei auch an Paschinjans eifrigen Kampf gegen den Präsidenten des Verfassungsgerichts. Darüber hinaus mokierte er sich mehrfach mehr als deutlich über die freie Presse etc. Die Infragestellung der Unabhängigkeit der Medien bleibt ein ernstes Problem für die armenische Gesellschaft!
Kotscharjan sollte man demokratisches Verständnis trotz seines oben zitierten Credos nicht einfach absprechen. Er und seine Anhänger, unter denen übrigens sehr viele junge Armenier sind, sind persönlich in das Thema Bergkarabach sehr stark involviert. Das sind auch ohne persönliche Involvierung viele junge Armenier. In einer Umfrage vom April des Jahres wurden junge Armenier im Alter bis maximal 30 Jahre gefragt, an welches andere Wort sie denken würden, um „Armenien“ auszudrücken. Die Antwort war: „Bergkarabach“.
Deutlicher Wahlsieger – diffuse Schlussfolgerungen für die Zukunft
Über den künftigen Weg Armeniens kann auch nach diesem deutlichen Wahlsieg des amtierenden Premierministers Paschinjan kaum etwas nachhaltig gesagt werden. Vor dem Hintergrund dieser kurzlebigen, ausschließlich stimmungsgeleiteten und stark polarisierten öffentlichen Debatte können keine weitreichenden Schlussfolgerungen gezogen werden.
Kotscharjans Bündnis hat bis zum heutigen Tag die Wahlergebnisse nicht anerkannt. Die meisten anderen Oppositionsparteien haben das getan und viele sind bereit, mit Paschinjan über mögliche Kooperationen zu verhandeln. Das könnte eine Möglichkeit sein, die innenpolitischen Konstellationen besser beurteilen zu können.
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