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Autonomien in Bolivien: Chancen und Herausforderungen sowie Anregungen aus dem deutschen Föderalismus

Die neue bolivianische Verfassung führt in das bolivianische politische System vier Autonomieebenen ein: die departamentale, die regionale, die kommunale und die indigene Autonomie. Diese Regelung ist ein wichtiger Meilenstein im bolivianischen Dezentralisierungsprozess. Die neue Verfassung und das im Juli 2010 verabschiedete Rahmengesetz zu Autonomien und Dezentralisierung bilden den normativen Rahmen für die Umsetzung.

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Der bolivianische Dezentralisierungsprozess eröffnet Chancen für die Vertiefung der Demokratie: Ein dezentrales politisches System muss demokratisch sein und auf Rechtsstaatsprinzipien basieren, da nur demokratische Systeme eine wahre Autonomie der subnationalen Ebenen anerkennen.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat ein Buch über Autonomien in Bolivien veröffentlicht, das die Verfassung und das Rahmengesetz zu Autonomien und Dezentralisierung aus verschiedenen Perspektiven analysiert und in Zusammenhang mit den bisherigen Dezentralisierungsprozessen in Bolivien stellt. Im Rahmen der Implementierung der Autonomien werden viele Fragen aufgeworfen.

Im Prozess der Machtverteilung zwischen der Zentralregierung und den subnationalen Einheiten entstehen Konflikte über exekutive und finanzielle Kompetenzen. Aus diesem Grund ist die Existenz von formellen und informellen Konfliktlösungsmechanismen unabdingbar. Wie sollen diese Konfliktlösungsmechanismen in Bolivien gestaltet und zur Anwendung gebracht werden?

Um ihre erweiterten Pflichten wahrnehmen zu können, benötigen die subnationalen Autonomieebenen finanzielle Ressourcen. Der so genannte „Fiskalpakt“ muss ausgehandelt werden. Das Rahmengesetz zu Autonomien und Dezentralisierung behandelt dieses wichtige Thema nicht und hat den Verhandlungsprozess über die Verteilung der Finanzen auf das Jahr 2011 verschoben. Dies ist bedauernswert, da die Autonomien erst mit der adäquaten Finanzausstattung richtig funktionieren können.

Diese und andere Themen wurden bei der Vorstellung des Buches „Bolivien im Prozess der Implementierung des Gesetzes zu Autonomien und Dezentralisierung: Evaluierung, kritische Analyse und Zukunftsperspektiven“ in Trinidad, Tarija und Santa Cruz vom 16. bis 19. November behandelt. Die Veranstaltungen richteten sich vor allem an Bürgermeister, Stadträte und Funktionäre der Departamentsregierungen sowie Fachpersonal dieser Instanzen. Um dem Publikum Anregungen für die zukünftige Ausgestaltung der Autonomien in Bolivien zu geben, setzte die KAS den Kurzzeitexperten Benjamin Höhne ein, Parteienforscher und Experte zum politischen System Deutschlands der Universität Trier. In allen drei Städten stellte Benjamin Höhne in einem ausführlichen Einführungsvortrag den deutschen Föderalismus vor und im Anschluss sprachen jeweils drei Autoren über ihren Artikel in dem von der KAS publizierten Buch.

Herr Höhne begann seinen Vortrag mit der politikwissenschaftlichen Einordnung dezentraler Systeme und legte so den theoretischen Grundstein für die folgenden Ausführungen. Als positive Aspekte dezentraler Systeme im Allgemeinen hob er vor allem drei Punkte hervor: Die Machtaufgliederung mittels vertikaler Gewaltenteilung, um die „Tyrannei der Mehrheit“ zu verhindern, die Integration einer heterogenen Gesellschaft in ein politisches System sowie die Gewährleistung politischer Innovations- und Leistungsfähigkeit bedingt durch das Subsidiaritätsprinzip.

Danach ging Benjamin Höhne auf den deutsche Föderalismus ein. In einem ersten Schritt legte er die Rahmenbedingungen des deutschen politischen Systems dar, die für die Entwicklung und Ausprägung des Föderalismus bedeutend sind. Besonders interessant für die Bolivianer war in diesem Zusammenhang die Tatsache der starken Stellung der politischen Parteien und damit die hohe Stabilität eines sich ausdifferenzierenden Parteiensystems in Deutschland. In Bolivien ist das traditionelle Parteiensystem in den letzten Jahren völlig zusammen gebrochen. Weiterhin ist der hohe Verhandlungscharakter politischer Entscheidungsprozesse in Deutschland und die damit verbundene Notwendigkeit, einen Konsens zu finden hervorzuheben, auf die das bolivianische Publikum oft Bezug nahm, da die Entscheidungsprozesse in Bolivien stark zentralisiert sind. Herr Höhne betonte außerdem den partiellen Ewigkeitscharakter des deutschen Grundgesetzes und somit die feste Verankerung der föderalen Ordnung, die auch durch Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat nicht abänderbar ist.

Schwerpunkte des Vortrags waren die Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, die finanzielle Ausstattung des Bundes, der Länder und der Gemeinden im Föderalismus und der horizontale und vertikale Finanzausgleich sowie die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes über den Bundesrat.

Herr Höhne betonte, dass die meisten bedeutenden Gesetze in Deutschland auf Bundesebene verabschiedet werden, der Gesetzesvollzug dieser Gesetze jedoch durch die Bundesländer ausgeführt wird, da der Bund selbst nur über wenige Verwaltungsbehörden verfügt. Weiterhin wird in Deutschland die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nach Gesetzesfeldern vorgenommen. So zählen zu den wichtigsten ausschließlichen Kompetenzen des Bundes z.B. die auswärtigen Angelegenheiten, die Verteidigung, das Währungs-, Geld- und Münzwesen sowie das Zollwesen. Im Rahmen der ausschließlichen Kompetenzen der Länder sind vor allem Bildung, Kultur, die innere Sicherheit sowie das Gemeinde- und Kreisrecht hervorzuheben. Die meisten Kompetenzen werden jedoch von Bund und Ländern gemeinsam wahrgenommen.

Auf besonderes Interesse der Bolivianer stießen Herrn Höhnes Ausführungen über die Finanzausstattung von Bund, Ländern und Gemeinden in Deutschland. Der deutsche Staat finanziert sich fast ausschließlich aus Steuern. Die beiden bedeutendsten Steuern sind dabei die Umsatzsteuer und die Lohnsteuer. Es gibt in Deutschland Gemeinschaftssteuern (dazu gehören unter anderem die Umsatzsteuer und die Lohnsteuer), deren Aufkommen auf Bund und Länder verteilt wird und von denen über die Länder auch ein Teil an die Gemeinden geht und Steuern, die ausschließlich von den Gemeinden, den Ländern oder dem Bund erhoben werden. Die Gemeinschaftssteuern überwiegen und machen ca. drei Viertel des gesamten Steueraufkommens aus. Die wichtigste Gemeindesteuer ist die Gewerbesteuer. Die Gemeinden haben die Möglichkeit, den Steuersatz in einem bestimmten Rahmen festzulegen und können somit aktiv die Ansiedlung von Unternehmen fördern. Die KFZ-Steuer ist ein Beispiel für eine Ländersteuer und die Tabaksteuer ein Beispiel für eine Bundessteuer.

Benjamin Höhne ging ebenfalls auf den föderalen Finanzausgleich in Deutschland ein. Dieser ist auf das Gebot der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zurück zu führen. In einem ersten Schritt findet ein horizontaler Finanzausgleich zwischen den Ländern statt. Die reichen Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen geben Mittel an die schlechter gestellten Bundesländer ab. Im Folgenden findet ein Mitteltransfer des Bundes an die schlechter gestellten Länder statt, so dass im Endeffekt alle Länder finanziell gleich ausgestattet sind. Dieser föderale Finanzausgleich wird von Experten stark kritisiert, da die Länder, die ihre Haushaltskonsolidierung ernst nehmen nicht belohnt werden und somit kein Wettbewerb zwischen den Ländern um die besten Finanzkonzepte stattfindet.

Im Anschluss erläuterte Herr Höhne die Zusammensetzung und die Funktionsweise des Bundesrats. Der Bundesrat ist das Repräsentationsorgan der Bundesländer und die zweite Kammer im politischen System Deutschlands. Es handelt sich um eine asymmetrische Kammer, da sie dem Bundestag nachgelagert ist und über weniger Kompetenzen verfügt. Je nach Einwohnerzahl belegen die Länder im Bundesrat zwischen drei und sechs Sitze. In vielen Regierungssystemen bildet sich die zweite Kammer nach dem Senatsprinzip: In jeder subnationalen Einheit wird die gleiche Zahl von Senatoren vom Volk gewählt. In Deutschland hingegen werden die Mitglieder des Bundesrats nicht gewählt, sondern von der jeweiligen Landesregierung aus ihrer Mitte entsandt. Somit vertritt der Bundesrat die Interessen der Länderexekutiven. Der Bundesrat wird somit auch nicht gewählt, sonder ist ein ewiges Organ. Er wirkt an der Gesetzgebung auf Bundesebene mit. Bei allen Gesetzen, die die Finanzen oder die Verwaltungshoheit der Länder betreffen, muss der Bundesrat zustimmen. Bei allen anderen Gesetzen verfügt der Bundesrat über ein Einspruchsrecht. Der Einspruch des Bundesrats kann jedoch vom Bundestag zurückgewiesen werden. Hat der Bundesrat den Einspruch mit einer absoluten Mehrheit seiner Mitglieder ausgesprochen, so bedarf der Bundestag mindestens einer absoluten Mehrheit, um den Einspruch zurückzuweisen (analog bei einer Zwei-Drittel-Mehrheit, siehe Art. 77 Abs. 4 GG). Können sich Bundestag und Bundesrat über den Entwurf eines Zustimmungsgesetzes nicht einigen, so wird der Vermittlungsausschuss angerufen. Der Vermittlungsausschuss setzt sich aus 16 Bundestagsabgeordneten und 16 Mitgliedern des Bundesrats (jeweils ein Vertreter pro Land) zusammen und verhandelt unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Er verfügt über eine hohe Erfolgsquote, da der Anteil der bisher tatsächlich gescheiterten Gesetze sehr gering ist. Im Bundesrat gibt es verschiedene Abstimmungsmuster. So stellen sich finanzielle Geber- häufig gegen Nehmerländer, Flächenstaaten gegen Stadt- und Kleinstaaten und es ist ebenfalls ein Ost-West und Nord-Süd-Abstimmungsverhalten festzustellen. Am bedeutendsten ist jedoch sicherlich das parteipolitische Abstimmungsverhalten. Die Parteien tragen auch zur informellen Konfliktlösung im Föderalismus bei und verhandeln die Zustimmung zu bestimmten Reformvorhaben gegen Eingeständnisse in anderen Bereichen.

Herr Höhne ging ebenfalls auf die Kritik am deutschen Föderalismus ein. Deutschland befände sich in einer Politikverflechtungsfalle, da Entscheidungen auf der höchsten Ebene immer von der Zustimmung auf den unteren Ebenen abhängig seien. Die Macht sei sehr stark aufgeteilt, was den Zwang zur Konsenssuche und – findung zur Folge habe. Dies führe zu einer suboptimalen Politikgestaltung und bringe somit Effizienz- und Effektivitätsverluste mit sich.

Als Konsequenz wird seit 2003 die Föderalismusreform in Deutschland vorangetrieben, um eine Entflechtung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern zu bewirken, Verantwortlichkeiten klar festzulegen und das Subsidiaritätsprinzip zu stärken. Somit konnte bereits ein Rückgang der Zustimmungsgesetze von ca. 55 % vor der Föderalismusreform I auf ca. 40% nach der Reform erreicht werden. Im Gegenzug wurden mehr Kompetenzen auf die Länderebene verlagert.

Der Vortrag von Benjamin Höhne stieß in allen Städten auf großes Interesse. Besonders die finanziellen Aspekte sowie die Rolle des Bundesrats wurden von den Zuschauern in der Diskussion immer wieder aufgegriffen.

In Trinidad besuchten ca. 80 Teilnehmer die Veranstaltung. Neben Herrn Höhne stellte der ehemalige Senator Carlos Böhrt seinen Artikel über die administrative Dezentralisierung und die territoriale Ordnung in Bolivien vor. Diego Chávez sprach über die neuen Institutionen im autonomen Bolivien. Iván Velásquez evaluierte den bisherigen Dezentralisierungsprozess in Bolivien und hob Fortschritte, Rückschritte und Perspektiven hervor. Die Veranstaltung fand in Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister und dem Stadtrat von Trinidad statt. Die Begrüßungsworte sprach die Vorsitzende des Stadtrats, Mery Elina Zabala.

In Tarija stellten vor rund 100 Zuschauern nach dem Vortrag von Benjamin Höhne folgende Autoren das Buch vor: Marcelo Varnoux, Präsident der Bolivianischen Vereinigung für Politikwissenschaft sprach über die theoretischen Grundlagen von Dezentralisierung und Autonomien. Der ehemalige Präsident Boliviens, Eduardo Rodriguéz Veltzé stellte seinen Artikel über den zentrifugalen Effekt der bolivianischen Verfassung vor. Iván Finot realisierte eine komparative Analyse des bolivianischen Autonomieprozesses mit anderen Dezentralisierungsprozessen in Lateinamerika. Die Veranstaltung wurde zusammen mit dem Bürgermeister von Tarija, Oscar Montes, organisiert, der die Begrüßungsworte sprach.

In Santa Cruz wurde die Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Partner der KAS, der Fundación Amérida, durchgeführt und es nahme 120 Zuhörer teil. Rony Colanzi, Präsident der Fundación Amérida, sprach die Begrüßgungsworte. Nach Benjamin Höhne ergriff der Finanzminister der Departamentsregierung von Santa Cruz, José Luis Parada, das Wort. Er erstellte für das Buch der KAS den Artikel über das Rahmengesetz zu Autonomien und Dezentralisierung im fiskalpolitischen Kontext. Carlos Böhrt und Iván Finot stellten ebenfalls ihre Arbeiten vor.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung lud im September 2010 eine Gruppe bolivianischer Politiker zu einem Studien- und Dialogprogramm nach Deutschland ein, um sie über den deutschen Föderalismus und Konfliktlösungsmechanismen in dezentralen Systemen zu informieren. In diesem Zusammenhang lernte die Gruppe Benjamin Höhne kennen und regte seinen Besuch nach Bolivien an. So wurden die Veranstaltungen in Trinidad und Tarija mit den Teilnehmern der Delegationsreise Mery Elina Zabala und Oscar Montes organisiert. Bei der Veranstaltung in Santa Cruz war der Senator Germán Antelo anwesend, der ebenfalls auf Einladung der KAS an der Deutschlandreise im September teilgenommen hatte. Hauptziel des Einsatzes von Herrn Höhne war es, die Anregungen des deutschen Föderalismus einem breiteren Teilnehmerkreis zugänglich zu machen. In La Paz fand aus diesem Grund ein Treffen mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern einiger Parlamentarier statt, die zu diesen Themen arbeiten. In Santa Cruz wurde Benjamin Höhne vom Planungsminister der Departamentsregierung eingeladen, um ein Gespräch mit den Mitarbeitern zu führen, die in der Ausgestaltung der departamentalen Autonomie von Santa Cruz arbeiten. In diesem Gespräch wurden besonders finanzielle Aspekte hervorgehoben, da im Jahr 2011 der Finanzpakt in Bolivien verhandelt wird.

Das große Interesse, auf das der Besuch von Benjamin Höhne stieß, macht deutlich, dass im bolivianischen Autonomieprozess noch viele Fragen offen sind. Damit die Implementierung der Autonomien erfolgreich sein kann, müssen Fragen zur Kompetenzverteilung, zum Fiskalpakt und zu formellen und informellen Konfliktlösungsmechanismen zwischen allen Autonomieebenen unter Einbeziehung der Zentralregierung diskutiert werden. Außerdem muss der Rechtsstaat gestärkt und an einer Kultur der Toleranz gearbeitet werden, um die autonome Neugestaltung Boliviens und die Integration ethnischer Minderheiten friedlich implementieren zu können.

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