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Hildegard Kempowski spricht mit leiser und deutlicher, ja eindringlicher Stimme. Sie ist nach Bremen gekommen, um aus den jüngst erschienenen Tagebüchern ihres 2007 verstorbenen Mannes vorzulesen. Ihr Erzählstil ist sachlich, norddeutsch gefärbt und angereichert mit einem herrlich trockenen Humor. Kempowski geht nach eigenem Bekunden sehr gern mit dem „kolossalen Werk“ ihres Mannes „hausieren“ – allein die 2012 unter dem Titel „Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956-1970“ erschienenen autobiographischen Notizen fassen über 600 Seiten. Im „Borgfelder Landhaus“ beschränkt sie sich auf das erste Jahr der Aufzeichnungen und macht es den andächtig lauschenden Zuhörern lebendig, mehr noch: Kempowski tritt mit dem Werk in Interaktion. Sie kommentiert, führt Handlungsstränge weiter aus, die bereits in frühen Briefen und anderen Schriftzeugnissen angelegt sind und wird so dem Werk ihres Mannes zu einem echten literarischen Gegenüber.
Walter Kempowski war einer der bekanntesten und gleichzeitig nonkonformistischsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit. Zu den längst „klassisch“ gewordenen Werken gehören „Tadellöser & Wolff“, „Ein Kapitel für sich“ sowie „Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch“.
In seinen Büchern öffnete Kempowski dem Leser tiefe Einblicke in eigene und kollektive Geschichtswelten. Seine Familienromane wurden erfolgreich verfilmt und ganze Schülergenerationen nahmen die eigenwilligen, literarische Moden ignorierenden Stilblüten aus Kempowskis Feder (dankbar) auf.
Auch über den persönlichen Werdegang des Autors ist – nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen literarischen Tätigkeit - schon vieles bekannt: die Kindheit im bürgerlichen Rostocker Elternhaus, Anpassungsschwierigkeiten in Hitler-Deutschland und achtjährige Haftzeit in Bautzen von 1948-1956. Den anschließenden Neubeginn im Westen startet er als Abiturient und Student der Pädagogik in Göttingen, bevor er sich schließlich zu Beginn der 60er Jahre mit seiner Frau Hildegard als Volksschullehrer in der Nähe von Rotenburg (Wümme) erst in Breddorf und dann in Nartum niederlässt. Seit den 70er Jahren ist er ein anerkannter Schriftsteller. Hoch geachtet und ausgezeichnet mit hochrangigen Literaturpreisen und Auszeichnungen (u.a. dem Literaturpreis der KAS 1994, dem Thomas-Mann-Preis 2005 und dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern 2007) stirbt er 2007 in Rotenburg (Wümme).
Hat sich das Thema Kempowski damit erledigt? Mitnichten wie die Abendveranstaltung der KAS Bremen zeigt. Denn auf der literarisch-biographischen „Landkarte Kempowski“ gab es bislang noch unbekannte Orte, angesiedelt zwischen den Antipoden „Haft“ und „Schriftstellertum“. Es ging hierbei um sehr grundsätzliche Fragen: Wie wurde Kempowski zum Schriftsteller? Welche Motive trieben ihn zu einer derart exzessiven, fast schon manischen Schreibtätigkeit?
Lauscht man den klug ausgewählten Zitaten und den Ausführungen Hildegard Kempowskis, findet man Ansätze zur Beantwortung dieser schwierigen Fragen. Der Schriftsteller Kempowski ist ohne die traumatischen Erlebnisse als politischer Gefangener in Bautzen nicht denkbar. Bereits in den ersten Aufzeichnungen unmittelbar nach der Haftentlassung und der Ankunft in der Bundesrepublik finden sich Hinweise auf eine geplante literarische Verarbeitung dieser Zeit, etwa in einem Brief an einen Freund in Kanada. Dieses Ansinnen erfüllt den Abiturienten und angehenden Lehrer, der sich anfänglich nur mühsam in der Wirtschaftswunderzeit der frühen Bundesrepublik zu Recht findet, in tiefem Maße.
Wie Hildegard Kempowski ergänzend ausführt, war die Entscheidung, sich in der norddeutschen Provinz als Lehrer niederzulassen vor allem der Möglichkeit geschuldet, hier nebenbei ungestört die literarischen Projekte verfolgen zu können. Es sind gerade diese Momente, in denen Tagebücher und erzählte Geschichte eine neue Ebene der Wissensvermittlung erreichen. Am eindrucksvollsten geschieht dies, wenn Hildegard Kempowski die im Werk ihres Mannes angelegten Fäden aufnimmt und biographisch kontextualisiert. So etwa, wenn der junge Kempowski die Ablehnung und Schuldzuweisung seiner Verwandten bei der Geburtstagsfeier seiner Mutter in Hamburg fühlt - Margarethe Kempowski war im Jahre 1949 zu 10 Jahren Haft wegen „Mitwisserschaft“ verurteilt worden, weil sie vermeintliche Verbrechen ihrer Söhne nicht angezeigt hatte. Hier sieht Hildegard Kempowski nun den eigentlichen Stimulus für die unermüdliche Schreibarbeit ihres Mannes: das Empfinden von Schuld und der Drang, den geliebten Verwandten gerecht zu werden und so diese Schuld literarisch abzutragen. Da ist es tröstlich zu hören, dass Walter Kempowskis schon in den frühen Tagebüchern geäußerter Wunsch, ohne Schuld, „ohne Sorgen“ zu sterben, erfüllt wurde. Wie Hildegard Kempowski nicht ohne Regungen der Rührung eröffnet, sah ihr Mann diese Aufgabe vor dem Tod als erfüllt an – sein Werk war vollendet!