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Um die Frage, was Sarajevo ausmacht, ging es im Vortrag „Die Stimmen von Sarajevo – Über einen vielfältigen Erinnerungsort“ des Historikers Prof. Holm Sundhaussen im Politischen Bildungsforum Bremen. Sundhaussen stellte im Rahmen des Vortrags seine neue Monografie vor: „Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt.“ Seine Ausführungen gaben einen informativen Überblick über die Zeitschichten, die die Stadt in ihrer bald 550jährigen Geschichte formten. Dabei machen nach Sundhaussen im europäischen Vergleich vor allem zwei Charakteristika Sarajevo zu einem einzigartigen Ort: Die Koexistenz von vier Religionsgemeinschaften (Muslime, Orthodoxe, Katholiken und Juden), die der Stadt den Spitznamen „Klein-Jerusalem“ einbrachte, und der Umstand, dass im Stadtbild Sarajevos im Gegensatz zu anderen Balkanstädten das reiche osmanische Erbe bewahrt wurde.
Sundhaussen ließ in seinen Ausführungen insbesondere der osmanischen Phase Sarajevos breiten Raum. Dabei beschrieb er den Zeitraum von der Gründung der Stadt durch den Heerführer, Verwalter und Stifter Isa-beg Isaković im Jahre 1462 bis zu ihrer Zerstörung durch die Truppen Prinz Eugen von Savoyens Ende des 17. Jahrhunderts als goldenes Zeitalter. In Bezug auf das Zusammenleben der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften war dies eine Phase der „friedlichen Koexistenz“ – wesentlich ermöglicht durch die pragmatische Herrschaftspraxis des osmanischen Reiches. Das Zusammenleben der Religionen in dieser Epoche kennzeichnete Sundhaussen als ein „privates und kulturelles Nebeneinander“. Gebildete Vertreter der Buchreligionen fanden kulturelle Austauschmöglichkeiten vor allem außerhalb der Stadt. Jenseits der Hochkultur jedoch, im Alltagsgeschehen, wurde ein Synkretismus praktiziert, der ungeachtet unterschiedlicher religiöser Hintergründe auf Gemeinsamkeiten des Brauchtums, des Lebensstils und der Volksfrömmigkeit beruhte.
Noch in osmanischer Zeit brachten die Reformversuche des 19. Jahrhunderts diese Balance ins Wanken. Die verordnete Gleichberechtigung der Religionen erwies sich als Bumerang; religiöse Hierarchien wurden in Frage gestellt. Konkurrenzdenken und Angst vor Benachteiligungen der „eigenen“ Gemeinschaft vergiftete, verstärkt durch wirtschaftlichen Niedergang, das friedliche Nebeneinander und wurden während der österreichisch-ungarischen Verwaltung der Stadt (1878-1918) durch importierte Neuerungen verstärkt. Hierunter zählte Sundhaussen insbesondere die Nationalisierungen der Religionen, die von den noch jungen Nachbarstaaten unterstützt wurden.
Tiefgreifende soziale und politische Wandlungen vor und im sozialistischen Jugoslawien sorgten in Sarajevo nach dem Zweiten Weltkrieg für ein Novum: Erstmals konnte nach Sundhaussen von einer „neuen Interkulturalität“ gesprochen werden, einem echten Zusammenleben der religiösen Gemeinschaften. In dieser Phase entstand der dritte markante Stadtteil Sarajevos. Errichtet im Stile der sozialistischen Moderne komplettierte er im Zusammenspiel mit der osmanischen Altstadt und den baulichen Hinterlassenschaften Österreich-Ungarns das Stadtbild.
Die Phase der gelebten Interkulturalität währte bis zu den Bosnienkriegen Anfang der 1990er Jahre. Das osmanische Erbe Sarajevos, ein wichtiger Identitätsbaustein muslimischer und anderer Stadtbewohner, war nationalistischen Hardlinern ein verhasstes Symbol für das „türkische Joch“, für interkulturelles Zusammenleben jenseits ethnischer „Reinheit“. Sarajevo war deshalb von den kriegerischen Auseinandersetzungen wie kaum ein anderer Ort Bosniens betroffen und musste die längste Belagerung einer Stadt im 20. Jahrhundert ertragen.
Nach einer lebhaften Diskussion gab Professor Sundhaussen einen verhaltenen Ausblick. Die mittlerweile nach ethnischen Kriterien „aufgeteilte“, zwei politischen Entitäten zugeordnete Stadt sei trotz der beinahe komplett wieder hergerichteten Altstadt weit davon entfernt, ihr vormaliges interkulturelles Gepräge wieder zu gewinnen. Die Überwindung ethnischer Segregation sei zwar überaus wünschenswert, derzeit jedoch nicht in Sicht.