Macron hat mit seinen proeuropäischen Aussagen die Wahl 2017 gewonnen. Er ist sich seitdem treu geblieben und hat Kurs gehalten, obwohl sich der Wahlkampf immer wieder um innen- und sozialpolitischen Themen gedreht hat. Viele in Europa und insbesondere die deutsche Politik haben aufgeatmet, als feststand, der alte ist auch der neue französische Präsident. Ist Macron zu der europäischen Führungsfigur geworden, für die ein zweiter Wahlsieg kaum eine geeignetere Basis sein dürfte?
Diese Frage konnten Daniela Schwarzer und Paul Maurice nicht eindeutig beantworten. Verwiesen wurde auf die Rede zum Europatag, dem 9. Mai, zum Abschluss der europäischen Zukunftskonferenz. Die Erwartung aber wurde geäußert, dass Macron ein positives Leitbild in der Fortsetzung seiner Sorbonne-Rede zeichnen müsse, um seinen Anspruch auf die politische Führung in Europa zu unterstreichen. Dazu verlangte die Europa-Expertin Schwarzer aber von ihm ein stärkeres Engagement in Osteuropa und eine Selbstvergewisserung über die Kriegsziele und den Einsatz der Mittel. Die liberalen Demokratien nämlich müssten unter Beweis stellen, dass sie sich auch nach außen besser behaupten können und nach innen effizienter würden. An die Adresse der deutschen Regierung gewendet forderte sie nach fünf Jahren Schweigen endlich eine Antwort auf Macrons Vorschläge. In der guten Zusammenarbeit beim Wiederaufbaufonds zur Rettung der Wirtschaft und des Klimas in der Pandemie sah sie einen vielversprechenden, geeigneten und erprobten Ansatzpunkt für die künftige Politik.
Darauf hatte Macron mit der Formel von der "grand nation écologique" und der vielleichtnicht ganz so Ernst gemeinten Ankündigung eines Ökologie-Ministeriums angespielt. Zur Finanzierung der klimapolitischen Generationsaufgabe wurde zu Beginn des Jahres 2022 von der Kommission eine neue Taxonomie eingeführt, mit der französischer Atomstrom offiziell das Prädikat „klimaneutral“ erhielt und damit klimaschonenden Investitionen eine Anlagemöglichkeit bietet. Fragen der Finanzierung von Maßnahmen zur Vorbeugung, Vermeidung und zur Beseitigung, zur Vor- und Nachsorge von Klimaschäden müssten nach dem Vorbild des NextGenerationFonds auf europäischer Ebene angegangen werden. Macron, so vermutete die Direktorin des Think Tanks Open Society Foundations, bewege sich damit aber weg von einem regelbasierten System wie dem Stabilitäts-und Wachstumspakt hin zu einer Steuerung durch die politischen Spitzen.
Paul Maurice sah in den europapolitischen Aussagen des Berliner Koalitionsvertrags bereits die erwartete Antwort auf Macron, die jetzt aber in die Tat umgesetzt werden müsse. Die Gelegenheit sei günstig: In Paris und Berlin gebe es zwei stabile Regierungen in den nächsten drei wahlfreien Jahren. Weil Europa für Mélenchon zu liberal und für Le Pen zu deutsch sei, habe Europa im Wahlkampf nur eine symbolische Rolle gespielt. Das könne sich jetzt ändern. Macron und Scholz würden sehr rasch zusammen kommen. Denn auch wenn Macron sich im Juni wider Erwarten in einer Cohabitation mit einem ungeliebten Ministerpräsidenten wiederfinden würde, könne der Präsident die schwierigen innenpolitischen Themen seinem ungeliebten Ministerpräsidenten überlassen, um sich ganz auf sein europapolitisches Erbe zu konzentrieren. Macron brauche dann auch nicht mehr so viel Rücksicht auf die Wähler Le Pens nehmen.
Um der Gefahr einer Enttäuschung über die europäische Antwort auf die russische Aggression zu bannen, müssten realistische Zwischenschritte zu einer höheren Verteidigungsfähigkeit Europas vereinbart werden. Relevante Fortschritte sah Daniela Schwarzer in dem wenige Wochen zuvor veröffentlichten und durch den Krieg in der Ukraine noch einmal deutlich angepassten „Strategischen Kompass“. Er zeige, dass die EU zu einer gemeinsamen Risikoanalyse in der Lage sei und benenne konkret Schritte. Mit den verteidigungspolitischen Vorschlägen wie dem einer schnelle Eingreiftruppe werde auch die Zusammenarbeit im Rahmen der NATO besser. Die Publikumsfrage nach dem Aufbau einer europäischen Armee fiel unter dem deutschen Publikum ewartungsgemäß positiv aus.