Historische Wahl zum Verfassungskonvent (Convención Constituyente)
Was sonst nur am 18. September, dem chilenischen Nationalfeiertag, und an Weihnachten Gesetz ist, ordnete der Gesetzgeber für das Superwahlwochenende am 15./16. Mai an: Feiertage für die Demokratie. Die großen Einkaufszentren und Supermärkte blieben geschlossen. Niemand der ansonsten konsumfreudigen Chilenen sollte eine Ausrede haben, nicht an diesen für das Land so bedeutungsvollen Wahlen teilnehmen zu können. Zudem bot der öffentliche Personennahverkehr kostenfrei seine Dienstleistungen an. Die mit den sanitären Schutzmaßnahmen im Zuge der Pandemie zusammenhängende nächtliche Ausgangssperre wurde von 21 Uhr auf 02.00 Uhr verschoben.
Knapp 15 Millionen Chilenen über 18 Jahren waren aufgefordert, von ihrem demokratischen Recht der Stimmabgabe Gebrauch zu machen. 16.730 Kandidaten bewarben sich um die 155 Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung, sowie für die 2.613 Mandate auf kommunaler (Bürgermeister und Stadträte) und regionaler (Gobernadores) Ebene. Um den Wahlprozess aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen und sanitären Auflagen zu entzerren, öffneten die 2.731 Wahllokale im Land sowohl am Samstag als auch am Sonntag von 8 bis 18 Uhr. Rund 230.435 Wahlhelfer sorgten für eine reibungslose Stimmabgabe und anschließend für eine zügige Auszählung der Stimmzettel.
Ein besonderes Interesse der Weltöffentlichkeit lag auf der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung, die in den kommenden neun bis zwölf Monaten eine neue Verfassung ausarbeiten soll mit dem Ziel, die in der Zeit der Militärdiktatur in Kraft gesetzte Verfassung von 1980 zu ersetzen. Vorausgegangen waren soziale Unruhen seit Oktober 2019, die den einstigen Stabilitätsanker Südamerikas in seinen Grundfesten erschütterten. Nachdem der Ruf nach grundlegenden sozialen und politischen Reformen im Rahmen der landesweiten Proteste lauter wurde, einigten sich die Parteien von Regierung und Opposition am 14. November 2019 auf eine Vereinbarung zur Herstellung des Friedens, sozialer Reformen und eine neue Verfassung.
In einem bereits unter Pandemiebedingungen abgehaltenen Plebiszit am 25. Oktober 2020 entschied sich eine deutliche Mehrheit von 78 Prozent der abgegebenen Stimmen für eine gänzlich neue Verfassung, die von einem zu wählenden Konvent ausgearbeitet werden soll. Diese Versammlung wird sich paritätisch aus 155 Männern und Frauen zusammensetzen. Auch dies ist ein historisch und weltweit einzigartiger Ansatz. Ebenfalls wird den zehn indigenen Gemeinschaften Chiles, die insgesamt 11 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, eine Mitsprache an der Verfassung garantiert. 17 der 155 Sitze sind fest für die Indigenen (pueblos originarios) reserviert. Um diese Sitze bewarben sich 95 Kandidaten.
Eine Besonderheit der Wahlen stellten die zahlreichen unabhängigen Kandidaten dar, die zum Teil auf ihren eigenen Listen kandidierten. Vor dem Hintergrund der nochmals in den zurückliegenden Wochen in Umfragen deutlich gefallenen Zustimmungswerten zu den politischen Parteien kommt diese Entwicklung nicht völlig überraschend. In der jüngsten Umfrage des Centro de Estudios Públicos (CEP) vom April landen die politischen Parteien mit 2 Prozent der Vertrauensskala abgeschlagen auf dem letzten Platz hinter dem Kongress (8 Prozent) und der Regierung (9 Prozent).
Mit 48 Sitzen wird die Gruppe der unabhängigen Kandidaten die größte „Fraktion“ im Verfassungskonvent darstellen. Wobei der Begriff „Fraktion“ in diesem Zusammenhang irreführend ist, da es sich keinesfalls um eine homogene Gruppe handelt. Mit 38 Sitzen stellt die amtierende Regierungskoalition „Vamos por Chile“ die zweitgrößte Gruppe im Konvent. Dahinter folgen die Parteienliste „Apruebo Dignidad“ (27 Sitze), zu der sich unter anderem die Parteien des Frente Amplio und die Kommunistischen Partei zusammengeschlossen haben, und die Lista del Apruebo bestehend aus überwiegend Sozialisten (PS), Sozial- (PPD & PR) und Christdemokraten (PDC) mit 25 Sitzen. Hinzu kommen noch die 17 Vertreter der indigenen Bevölkerungsgruppen.
Der Konvent hat nun den Auftrag in neun bis längstens zwölf Monaten den neuen Grundlagentext auszuarbeiten, der abschließend von einer Zwei-Drittel-Mehrheit dieses Gremiums verabschiedet werden muss, bevor er in einem erneuten Plebiszit dem Wahlvolk zur Abstimmung vorgelegt wird. In dieser Gemengelage wird es interessant sein, wie sich die Mitglieder des Verfassungskonvents zu Kompromissen im Verfassungstext durchringen.
In einer kurzen Stellungnahme in der Wahlnacht würdigte Präsident Sebastián Piñera die historische Bedeutung der Wahl. Gleichzeitig unterstrich er, dass die Bürger "uns eine klare und starke Botschaft an die Regierung und auch an die traditionellen politischen Kräfte gegeben haben: sich stärker mit den Forderungen und Wünschen der Bürger auseinandersetzen, und […] mit Demut und Aufmerksamkeit auf die Botschaft des Volkes zu hören." Das Ergebnis sei seitens der Bürger eine klare Aufforderung zum Dialog, um ein sozial gerechteres und geeintes Chile zu schaffen. Für den Verfassungskonvent garantierte Piñera, dass seine Regierung alles tun werde, um dessen ordnungsgemäßes Funktionieren zu gewährleisten.
Historischer Schritt zur Dezentralisierung – die Wahl der Gobernadores
Neben den Mitgliedern des Verfassungskonvents wurde ebenfalls erstmalig in der Geschichte Chiles die regionale Exekutive, die Gobernadores, in den 16 Regionen des Landes direkt gewählt. Dies ist ein bedeutender Schritt für die klassischerweise auf die Zentralregierung in Santiago de Chile zugeschnittene Verwaltungsstruktur hin zu einer Dezentralisierung des Landes. Die gewählten Gobernadores sollen zukünftig weitreichende Funktionen der bislang vom Staatspräsidenten als regionale Verwalter eingesetzten Intendentes übernehmen. Der Gobernador wird Chef der regionalen Verwaltung sein und sitzt dem Regionalrat vor. Zu seinen weitreichenden Befugnissen gehören u.a. der Entwurf des Haushaltsplans sowie die Formulierung entwicklungspolitischer Ziele für die jeweilige Region.
Mit der Wahl der Gouverneure wird die Figur der Intendanten zu einem Ende kommen. An ihrer Stelle wird die Position des regionalen Repräsentanten des Präsidenten (representante del presidente en la región) geschaffen, der weiterhin vom Staatsoberhaupt ernannt wird.
Die Wahl der Gobernadores bildet sechs Monate vor der Parlaments- und Präsidentschaftswahl ein politisches Stimmungsbild im Land ab. Nicht zuletzt die Metropolregion Santiago mit ihren knapp acht Millionen Einwohnern ist ein wichtiger Lakmustest für die Präsidentschaftskandidaten von Regierung und Opposition. Zudem ist das Gouverneursamt im größten Ballungsraum des Landes ein gewichtiger politischer Faktor. Wer hier von Volkesstimme ins Amt getragen wird und einen guten Job macht, wird zukünftig auch bei der Kandidatur um das höchste Staatsamt ein gewichtiges Wort mitreden.
Für den Sieg in der ersten Runde reichen 40 Prozent der abgegebenen Stimmen aus. Wer dieses Quorum nicht erreicht, muss sich mit dem zweitplatzierten Mitbewerber nochmals in einer zweiten Runde messen.
Auch bei der Gouverneurswahl bestätigte sich der Trend zu unabhängigen Kandidaten. In den Regionen Valparaíso und Magallanes setzten sich bereits in der ersten Runde die unabhängigen Kandidaten durch. In fünf weiteren Regionen gehen Unabhängige als Favoriten in die Stichwahl in vier Wochen. Die Parteien der Opposition schicken ihre Bewerber in sieben Regionen als Favoriten in die zweite Runde. In der Region Aysén setzte sich die Kandidatin der sozialistischen Partei bereits nach der ersten Auszählung gegenüber ihren Mitbewerbern durch. Die stärkste Partei des Regierungsbündnisses, Renovación Nacional, erreichte einzig in der Region Los Rios mit ihrer Kandidatin als Erstplatzierte die Stichwahl.
Fazit
Das Superwahlwochenende war ein Fest der Demokratie. Unter Pandemiebedingungen hat Chile eine blitzsaubere, gut organisierte Wahl durchgeführt und bis Mitternacht bereits ein relativ zuverlässiges Endergebnis präsentiert. Trotz aller Polemik im Wahlkampf lief der Wettbewerb an den Urnen zivilisiert ab. Enttäuschend ist hingegen die geringe Wahlbeteiligung, die nur bedingt mit der Pandemie erklärt werden kann. Eindeutige Gewinner sind die unabhängigen Kandidaten, die mit 48 Vertretern den größten Block im Verfassungskonvent sowie etliche erfolgreiche Bewerber auf kommunaler und regionaler Ebene hervorgebracht haben. Dieses Votum spiegelt die in Umfragen zuvor bereits zum Ausdruck gebrachte Stimmung im Lande wider.
Ebenso als Gewinner können sich die Parteien des Frente Amplio (FA) sehen. Trotz zwischenzeitlicher Zerfallserscheinungen dieses Konglomerats an Kleinstparteien, dessen Präsidentschaftskandidat Gabriel Boric nach wie vor die notwendigen Unterschriften für seine Kandidatur im November einsammeln muss, feiert der FA ein in dieser Form nicht erwartetes Comeback. Die fünfte Region mit seinen Großstädten Valparaiso und Viña del Mar erweist sich dabei zunehmend als Hochburg des FA. Neben diesen beiden Zentren des Tourismus eroberte der FA ebenso die Rathäuser in Maipú und Ñuñoa.
Unter den drei großen Parteiblöcken sind die konservativen Parteien des rechten Regierungslagers Vamos por Chile die Wahlverlierer. Mit 38 Sitzen stellen sie zwar die stärkste Parteienfraktion im Konvent, allerdings konnten sie ihre Kandidaten bei den wichtigen Gouverneurswahlen nicht wie erhofft in Stellung bringen. Zudem verloren sie die Mehrheit in wichtigen Rathäusern an ihre Mitbewerber wie in Santiago-Zentrum, Maipú, Ñuñoa oder Viña del Mar.
In den Reihen der Oppositionsparteien müssen sich die Christdemokraten als Verlierer fühlen, die gemeinsam mit den sozialdemokratischen Parteien PPD und PR sowie mit der Sozialistischen Partei und PRO ein Wahlbündnis schmiedeten. Von den 25 gewählten Mitgliedern dieses Bündnisses für den Verfassungskonvent kommen lediglich zwei aus der Christdemokratischen Partei. Daneben liegt ihr Kandidat für das Gouverneursamt in der Metropolregion Santiago, Claudio Orrego, nur knapp vor Karina Oliva vom FA – möglicherweise zu knapp um sich in der zweiten Runde durchzusetzen.
Im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl im November scheint wieder alles offen. Nachdem es in den zurückliegenden Monaten auf einen Zweikampf zwischen dem Kommunisten Daniel Jadue einerseits und dem Konservativen Joaquín Lavín hinauszulaufen schien, könnte durch das Wahlergebnis möglicherweise auch wieder die Kandidatur Gabriel Borics Auftrieb erhalten.