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Reportajes internacionales

Tor zu Armenien, Schlüssel zum Frieden?

Von Meghri im Süden Armeniens aus könnte die Geschichte des Südkaukasus neu geschrieben werden – ein politischer Reisebericht.

Im Oktober 2023 stellte der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan auf einer Konferenz in Tiflis die „Crossroads of Peace“[1] Initiative seiner Regierung vor. Diese sieht die Öffnung der Grenzen, eine Wiederherstellung von Transportwegen – Straße und Schiene – sowie die Wiederbelebung politischer und kultureller Verbindungen im Südkaukasus vor. Die Initiative ist eine positive Vision für eine Region, die seit drei Jahrzehnten von Kriegen und Konflikten geprägt ist. In Meghri, an Armeniens Grenze zum Iran, lässt sich erahnen, wie ein friedlicher Südkaukasus aussehen könnte. Bis dorthin ist es aber noch ein weiter Weg, für den vor allem politischer Wille benötigt wird. Europa könnte dabei eine konstruktive Rolle spielen.

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Die Stadt und der Fluss

Als wir Hambardzum Matevosyan, dem Chefberater von Paschinjan, erzählten, dass wir am nächsten Tag nach Meghri fahren würden, leuchteten seine Augen: Das sei das Tor zu Armenien, die wichtigste Stadt des Landes. Meghri, armenisch für „Stadt des Honigs“, ist der südlichste Punkt des Landes, 376 Kilometer oder acht Stunden Fahrt von Jerewan entfernt. Die 4.500 Einwohner zählende Kleinstadt liegt in unmittelbarer Nähe zum Fluss Arax, hinter dem der Iran beginnt. Die Entfernung zur aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan im Westen beträgt 17 Kilometer, zum Kernland von Aserbaidschan im Osten sind es 33 Kilometer. In Meghri befindet sich der einzige Grenzkontrollpunkt zwischen Armenien und dem Iran, der noch bis 2026 mit Geldern der EU und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung modernisiert wird. Aus diesem Grenzübergang ergießt sich eine nicht enden wollende Flut von iranischen LKWs, die Tag und Nacht unbarmherzig durch Meghri nach Norden rollen. Nun soll eine Umgehungsstraße gebaut werden. In die andere Richtung gibt es einen kleinen Grenzverkehr, bei dem täglich Dutzende Armenier und Armenierinnen über den Fluss gehen, um Lebensmittel und Gebrauchsgüter einzukaufen, die im Iran alle sehr viel billiger sind. Manchmal bringen sie im Gegenzug Alkohol mit. Als wir bei einem Abendessen den Bürgermeister von Meghri nach den Beziehungen zum Iran fragten, antwortet dieser, man habe die Formel guter Nachbarschaft gefunden, und das sei Handel.

Ganz besonders ist der Fluss Arax, biblischen Ursprungs und Grenze: zwischen dem Iran und Armenien, zwischen Iran und Aserbaidschan sowie zwischen Iran und Nachitschewan. Hier weihten der aserbaischanische Präsident Alijew und sein iranischer Amtskollege Raisi im Mai eine Talsperre zur Stromerzeugung ein. Auf dem Rückflug nach Teheran verunglückte der Hubschrauber mit Raisi und weiteren hochrangigen iranischen Politikern südlich von Meghri. Alle Insassen kamen ums Leben.

 

Der Bahnhof

Der in Flussnähe gelegene Bahnhof von Meghri wurde 1950 erbaut und war noch bis 1993 in Betrieb. In den letzten Jahren passierten ihn täglich bis zu 30 Züge mit über 50 Waggons. Sie kamen aus Baku oder sogar Moskau und fuhren weiter nach Jerewan, in die Türkei oder den Iran. Ein Ticket kostete zuletzt einen Rubel. Auf dem Bahnhof arbeiteten armenische und aserbaidschanische Arbeiter gemeinsam, sie lebten in dem nahegelegenen Dorf Araksavan. Heute ist der Bahnhof in Ruinen, auf einem grasüberwucherten Gleis rostet eine sowjetische Lokomotive vor sich in, eine Frauenfigur, ebenfalls sowjetisch, steht verlassen auf ihrem Sockel. Sie sollte Frieden symbolisieren, aber die Taube, die sie einmal in der Hand hielt, ist abgebrochen und verschwunden. Weiter gen Osten ist das Gleisbett noch zu erkennen, ebenso die Tunnel, durch die die Strecke führte. Stromabnehmer, Gleisanlagen und Gleise selbst wurden 2003 auf Anordnung des armenischen Verteidigungsministeriums abgebaut, an das Sangesurer Kupfer- und Molybdänkombinat verkauft und später als Altmetall in den Iran exportiert.[1]

Die 45 Kilometer lange Bahnstrecke im Süden Armeniens war unmittelbar nach dem zweiten Karabach-Krieg einer der umstrittensten Punkte. Das trilaterale Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland vom November 2020 sieht eine uneingeschränkte Öffnung der Transportwege vor, womit insbesondere die Verbindung zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan gemeint ist. Streitpunkt dabei ist der Status der Strecke, d.h. ob Güter- oder Personenzüge, wenn sie armenisches Territorium durchqueren, (Zoll)Kontrollen unterliegen – was Armenien fordert – oder ob sie „exterritorial“ ist, worauf Aserbaidschan besteht. In Armenien befürchtete man lange, dass Aserbaidschan diesen Korridor militärisch erzwingen könnte.

Eine wiederhergestellte Bahnverbindung wäre ein zentrales Stück in einem sehr viel größeren Puzzle: dem „Mittleren Korridor“, der China und Zentralasien über Aserbaidschan, Armenien und die Türkei mit Europa verbindet. Profitieren würden von dieser Bahnlinie auf jeden Fall alle: Armenien erhielte einen besseren Zugang zum russischen Markt, dem immer noch größten Absatzmarkt gerade für landwirtschaftliche Produkte, sowie eine Bahnverbindung mit dem Iran, außerdem würde sich die Fahrtzeit in die Hauptstadt für Reisende aus Meghri etwa halbieren; Aserbaidschan gewönne einen einfachen Zugang zu Nachitschewan, und auch die Türkei könnte angeregt werden, den Normalisierungsprozess mit Armenien zu beschleunigen. Denn die historische Bahnstrecke verlief von Baku über Meghri, Nachitschewan nach Jerewan und weiter nach Kars in die Osttürkei. Grundsätzlich einig ist man sich – das wiederholten sowohl Nikol Paschinjan als auch Ilham Alijew in den letzten Monaten ausdrücklich –, dass die wiederzuerrichtende Eisenbahnverbindung durch Meghri führen solle. 

 

Das Friedensabkommen

Europa ist nicht sichtbar in Meghri, könnte aber eine wichtige Rolle spielen: In einer Studie von Ponars Eurasia der George Washington University werden die Kosten für den erwähnten Bahnabschnitt in Armenien mit etwa 90 Mio. US-Dollar beziffert, die – so wird es vorgeschlagen – von der Europäischen Investmentbank kommen könnten.[2] Mit diesem wirtschaftlichen Engagement könnte Europa, das seit Anfang 2023 bereits mit einer Beobachtermission in Armenien vertreten ist, weiteren politischen Einfluss in der Region reklamieren. Und sich noch aktiver Russland entgegenstellen, das die Tranportwege im Südkaukasus kontollieren will. Im Waffenstillstandsabkommen von 2020 heißt es zwar, dass russische FSB-Grenztruppen den Bahnverkehr durch den Süden Armeniens beaufsichtigen sollen, das wird nun aber von Armenien abgelehnt, da es sich nicht mehr an das vor allem von Russland mehrfach gebrochene Abkommen gebunden fühlt.

Noch gibt es keine Anzeichen, dass die armenische Seite die Bahnstrecke von und nach Meghri wieder instandsetzen will. Es müsse einen politischen Rahmen dafür geben, sagen uns unsere Gesprächspartner vor Ort, und meinen damit einen Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan. Hier gibt es Anlass für vorsichtigen Optimismus: Nachdem Armenien im Frühjahr vier Dörfer im Norden des Landes an Aserbaidschan zurückgegeben hat, macht der Prozess der Bereinigung der Grenze zwischen den beiden Ländern Fortschritte. Sowohl Baku als auch Jerewan betonten in den letzten Wochen wiederholt, dass man „näher denn je“ an einem Friedensabkommen sei. Dieses wiederum hätte weitreichenden positiven Einfluss auf den Südkaukasus: Wenn der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan beigelegt ist, ließen sich nicht nur Transportwege wiederherstellen, auch politisch könnte Vertrauen wachsen, und für Versöhnungsarbeit gäbe es eine ganz neue Grundlage. Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan hätte außerdem Strahlkraft auf die ungelösten Konflikte in Georgien.

 

Shahane

Und so ist Meghri ein Schauplatz potentieller Entwicklungen mit geopolitischer Reichweite, es ist zugleich aber auch einfach nur eine Kleinstadt im äußersten Süden Armeniens. In Meghri gibt es zwei Schulen, in einer wird Deutsch von zwei jungen und engagierten Lehrerinnen unterrichtet, die noch nie in Deutschland waren. Ein Trakt der Schule ist renoviert, die Aula hingegen zutiefst renovierungsbedürftig mit Löchern im Boden, brüchigen Stuhlreihen und bröckelnder Decke. Vor 15 Jahren war Shahane hier Schülerin, und sie kennt noch viele Lehrkräfte. Shahane ist 29 Jahre alt, eine bemerkenswerte Frau und Aktivistin in Meghri. Seit Oktober letzten Jahres leitet sie in dem Gebäude, das einst das sowjetische Kulturzentrum der Stadt war, den Meghri-Loft, ein helles, modernes Jugendzentrum, direkt an der Straße gelegen, durch die die iranischen LKWs donnern. Der Meghri-Loft ist eine Inspiration für Jugendliche, die sonst auf der Straße abhängen, und er ist ein Schutzraum für Kinder, die nach der Schule auf die Minibusse warten, die sie in die Dörfer der Umgebung bringen. Viele Kinder von geflüchteten Familien aus Bergkarabach, die sich im letzten Jahr in der Region angesiedelt haben, kommen in den Loft. Gemeinsam mit Shahane veranstalteten wir in dem Loft die erste Podiumsdiskussion in Meghri überhaupt. Thema: Beteiligung von Jugendlichen und Frauen an Entscheidungsprozessen auf kommunaler Ebene.

Shahane kümmert sich auch um ihr Familienhaus, das etwas oberhalb der Stadt liegt und in dem sie zwei einfache Zimmer vermietet. Das Haus wurde Anfang des 19. Jahrhunderts gebaut, als Meghri kurz zum persischen Reich gehörte. Das Wifi-Passwort ist „Heritage1812“. Wenige Schritte oberhalb befindet sich die St. Johannes Kirche aus dem 17. Jahrhundert mit wunderschönen Fresken, die – so eine Inschrift – ein Urgroßvater von Shahane bestellt hatte. Shahane hat Visionen: für das Haus ihrer Familie, für Meghri, für die Region. Den alten Bahnhof von Meghri würde sie gerne renovieren und ein Cafe in ihm eröffnen.

[1] The Crossroad of Peace-Brochure A3 final2 (primeminister.am)

[1] Armenia's Railways: Hindered by Geopolitics and Economic Realities - EVN Report

[2] Pepm713_Dreyfus-Hugot_Oct2021.pdf (ponarseurasia.org)

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