Eine neue Verfassung für Chile
Auslöser des nun eingeleiteten Verfassungsprozesses waren soziale Unruhen, die seit Oktober 2019 den einstigen Stabilitätsanker Südamerikas in seinen Grundfesten erschütterten. Was ursprünglich als Widerstand gegen die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Personennahverkehr in der Hauptstadtregion Santiago begann, weitete sich rasch zu landesweiten Protesten gegen herrschende soziale Ungleichheit und das politische Establishment aus. Zum Höhepunkt der Ausschreitungen einigten sich die Parteien von Regierung und Opposition im November 2019 auf grundsätzliche Reformen und einen Prozess zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung.
Letztere rückte zusehends in den Mittelpunkt der Proteste. Millionen von Chilenen sehen in der zur Hochzeit der Militärdiktatur Augusto Pinochets (1973-1989) in Kraft gesetzte Verfassung von 1980 mit ihrem neoliberalen Wirtschaftsmodell den Kern der sozialen Verwerfungen und der gesellschaftlichen Spaltung im Land. Wenngleich die Verfassung seit der Rückkehr Chiles zur Demokratie im Jahr 1990 mehrfach überarbeitet wurde – die letzte große Verfassungsreform fand unter Präsident Ricardo Lagos im Jahr 2005 statt -, ist es nicht zuletzt der historische Kontext, der den Ruf nach einer neuen „Magna Charta“ in den letzten Jahren lauter werden ließ.
Bereits Staatspräsidentin Michelle Bachelet trat ihre zweite Amtszeit 2014 mit dem Versprechen an, eine neue Verfassung ausarbeiten zu lassen. In einem aufwendig gestalteten partizipativen Prozess mit 15 Regionalkonferenzen, 71 Provinzmeetings und mehr als 8.000 lokal organisierten Diskussionsforen beteiligten sich mehrere Tausend Chilenen ab 14 Jahren im Zeitraum zwischen April und August 2016 mit ihren Ideen und Vorschlägen am Verfassungsprozess. Die Ergebnisse sind noch heute auf der für den Prozess eingerichteten Webseite http://unaconstitucionparachile.cl/ abrufbar. Zwar wurde noch 2017 ein 113 Seiten starkes Dokument mit Vorschlägen in den Kongress eingereicht. Dort blieb es allerdings nach dem Regierungswechsel zu Sebastián Piñera im März 2018 in der Verfassungskommission des Senats liegen, wo es bis zum heutigen Tage ruht.
Ein Konvent politikferner Kandidaten?
Nun soll es im zweiten Anlauf gelingen. Unter dem Slogan „Wähle das Land, das Du möchtest“ („Elige el país que quieres“) wirbt die staatliche Wahlkommission seit Monaten für eine rege Wahlbeteiligung. Die ursprünglich für April vorgesehene Wahl ist aufgrund der nach wie vor hohen Covid-Infektionszahlen auf den 15./16. Mai verschoben worden. Nach einem erneuten vierwöchigen Lockdown wird die Wahl unter Pandemiebedingungen stattfinden. Um die erwartete hohe Wahlbeteiligung zu entzerren und die strengen sanitären Auflagen einhalten zu können, wird die Wahl an zwei Tagen und an zusätzlichen Wahlstationen ermöglicht.
1.369 Kandidaten bewerben sich in den 16 Regionen des Landes um die 155 Plätze in der verfassungsgebenden Versammlung. Bemerkenswert ist die große Zahl an unabhängigen Kandidaten, die teilweise auf ihren eigenen Listen, teils auf den Listen der unterschiedlichen Parteibündnisse kandidieren. Diese Entwicklung zeugt von dem historisch niedrigen Vertrauen in die politische Elite des Landes. In der jüngsten Umfrage des Centro de Estudios Públicos (CEP) vom April 2021 landen die politischen Parteien mit 2 Prozent auf dem letzten Platz der Vertrauensskala hinter dem Kongress (8 Prozent) und der Regierung (9 Prozent). Wenngleich sich eine Reihe illustrer und in der Vergangenheit eher politikferner Kandidaten wie beispielsweise der Liedermacher „Miguelo“ Esbir, die Malerin Yuyuniz Navas, die Schauspieler Francisco Reyes Morandé, Mauricio Pešutić oder Patricia López auf den Kandidatenlisten befinden, wird sich die verfassungsgebende Versammlung dennoch eher aus Politikprofis zusammensetzen, die zumindest eines miteinander verbindet: dass sie gegenwärtig kein politisches Amt ausüben.
In der überwiegend von Männern dominierten chilenischen Politiklandschaft wird der paritätische Ansatz des Verfassungskonvents ein Ausrufezeichen setzen. Die Hälfte der in das Gremium Gewählten werden Frauen sein. Darüber hinaus sind 17 der 155 Sitze für Abgesandte der indigenen Bevölkerung reserviert. Diese vertreten die knapp 11 Prozent indigener Bevölkerung Chiles und verleihen erstmals den Mapuche, Aymara, Atacameño, Colla, Diaguitas, Kawashkar, Quechua, Rapa Nui, Chango und Yagan Stimme und Einfluss bei der Ausgestaltung des zukünftigen Grundlagendokuments.
Die meisten Chilenen erhoffen sich von der neuen Verfassung dreißig Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie die endgültige Überwindung der trennenden Ära der Militärdiktatur. Daneben verbinden viele mit diesem Prozess die Hoffnung auf nachhaltige soziale Reformen. Nach wie vor gilt Chile als eines der „ungleichsten“ Länder Südamerikas. Insbesondere im Bildungs- und Gesundheitsbereich entscheiden die persönlichen Einkommensverhältnisse über Einstiegs- und Aufstiegschancen sowie den Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung.
Schlusspunkt eines Katastrophenjahres?
Seit Oktober 2019 befindet sich das einstige Musterland im Krisenmodus. Nach den gesellschaftlichen Erschütterungen kam ab März 2020 die Pandemie hinzu, die mit mittlerweile über 1,2 Millionen Infizierten und über 27.000 Todesopfern trotz hoher Impfquote auch von Chile ihren Tribut forderte. Zuletzt befand sich das Land in einer veritablen Regierungskrise im Streit zwischen Regierung und Opposition über die weiteren Covid-Hilfsmaßnahmen. Vor diesem Hintergrund sollen die auserwählten Verfassungsmütter und –väter die neue „Magna Charta“ beraten, die anschließend dem Volk in einem erneuten Plebiszit zur Abstimmung gegeben wird. Angesichts der hohen Erwartungen ist dies keine leichte Aufgabe. Der Verfassungsprozess birgt allerdings auch die Chance, das marktwirtschaftliche Erfolgsmodell Chiles durch soziale Nachjustierung auf eine breite gesellschaftliche und damit langfristig tragfähige Basis zu stellen.
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Oficina de la Fundación Chile
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