Reportajes internacionales
Über vier Jahre sind vergangen seit der Botschaft von Präsident Sebastián Piñera Ende 2019, in der er den Beginn des Prozesses zur Erarbeitung einer neuen Verfassung angekündigt hat. Seitdem hat Chile zwei dieser Prozesse durchlaufen mit insgesamt vier Wahlen und zwei von den Bürgern abgelehnten Verfassungsentwürfen – im weltweiten Vergleich eine einzigartige Situation.
Drei Stunden nach Schließung der Wahllokale gab die Wahlbehörde das Ergebnis von 99,3% der ausgezählten Stimmen bekannt: die Option “Dagegen” gewann mit 55,76 der Stimmen und übertraf damit die Option “Dafür”, die 44,24% erhielt und in 13 der insgesamt 16 Regionen des Landes verlor. Die Wahlbeteiligung lag bei 84%. Damit ist diese Etappe der Verfassungsdiskussion abgeschlossen, und so hat es auch die Mehrheit der Parteien vereinbart. Auch für die Bürger ist es ein Schlussstrich, denn der B&W – Umfrage zufolge glaubt 76% der Bevölkerung, dass dies für Chile das Beste ist. Für die Politik beginnt jedoch eine neue Phase mit zentralen Herausforderungen für die Gestaltung der Zukunft, die sich Chile wünscht und die es ermöglicht, ein für Viele verlorenes Jahrzehnt hinter sich zu lassen. Denn in dieser Zeit hat das Land den Antrieb verloren, der es in den 30 Jahren davor zu einem Vorbild in der Region gemacht hatte. Vergessen war die strategische Vision, die die Politik des Konsenses, der globalen wirtschaftlichen Öffnung, der Identifizierung von
Clustern für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft begleitet hatte. Im Gegensatz dazu ist heute ein Verschleiß zu beobachten, der sich zum Beispiel im kritischen Zustand der Bildung und der Sicherheit, dem Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit und der Investitionen sowie in der Arbeitslosigkeit zeigt.
Die Verfassungsdiskussion fand vor diesem Hintergrund statt, zu dem noch eine von der sogenannten Verfassungsmüdigkeit geprägte Sensibilität in der Gesellschaft kommt sowie das Gefühl, dass dieser Verfassungsrat, jetzt mit konservativer Mehrheit, letztendlich seinem Vorgänger im ersten verfassungsgebenden Prozess, dem Verfassungskonvent, gleichkam. Nun löst eine Verfassung nicht notwendigerweise die dringenden, den normalen Bürger beschäftigenden Probleme. Und die Umfragen haben das auch mit Daten belegt: so zeigte zum Beispiel 50% der Bevölkerung sehr geringes oder gar kein Interesse an dem neuen verfassungsgebenden Prozess. Erst mit der Wahlkampagne “für” oder “gegen” die neue Verfassung war ein leichter Anstieg dieser Zahl zu beobachten. In einem Großteil der Bevölkerung herrschte aber der Wunsch vor, dass dieser nun schon vier Jahre dauernde verfassungsgebende Prozess endlich abgeschlossen wird und sich die Politik um die Lösung der eigentlichen Probleme des Landes kümmert.
Der Entwurf
Der Entwurf des Verfassungsrats, über den an diesem Sonntag abgestimmt wurde, hat im Allgemeinen die rechtliche Tradition der chilenischen Verfassungstexte beibehalten. Er zeichnete sich aus durch eine Reihe strukturierender Achsen wie die Verankerung der individuellen Freiheit vor dem staatlichen Kollektivismus; der Schutz des Eigentums; die Verankerung des freien Marktes als Wirtschaftsmodell und eine gewisse konservative Wertvorstellung. In seine 216 Artikel wurden auch neuartige und lange angestrebte Aspekte aufgenommen wie Dezentralisierung, Umwelt und Klimawandel sowie das Konzept eines sozialen und demokratischen Rechtsstaats. Hier einige Beispiele:
Verschiedene soziale Rechte wurden im Entwurf des Verfassungsrats beibehalten und verstärkt, wie das Recht auf Gesundheit, das eine universale Grundversicherung für Leistungen, die sowohl von öffentlichen wie von privaten Einrichtungen erbracht werden können, vorsah; in der Bildung wurde das jetzige Modell beibehalten, was zu Kritik führte, weil das den Ausbau der staatlich subventionierten privaten Bildung zu Lasten der öffentlichen Bildung bedeutet. Mit aufgenommen wurde das Recht auf eine angemessene Wohnung und das Recht des Zugangs zu Wasser und Abwasserentsorgung.
Der Entwurf sah auch die Einrichtung einer Pflichtverteidigung für die Opfer von Straftaten vor (Defensoría de Víctimas), eine Initiative, die breite Zustimmung hervorgerufen hatte.
Das Kapitel politisches System sah drei relevante Veränderungen vor: die Anzahl der Abgeordneten sollte von 155 auf 138 reduziert und eine 5%-Klausel eingeführt werden, wonach die Parteien landesweit mindestens 5% der Stimmen erhalten mussten, um ins Parlament zu kommen. Damit sollte die Zersplitterung der Parteienlandschaft mit ihren derzeit 22 Parteien und einigen Parlamentariern, die mit nur 1% der Stimmen gewählt wurden, aufgehalten werden. Des Weiteren sah der neue Verfassungsentwurf eine Drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament für Verfassungsänderungen sowie die Volksinitiative vor, die es Gruppen von Bürgern ermöglichte, im Parlament Gesetzesinitiativen einzubringen.
Die Dezentralisierung war eine weitere Neuerung dieses Entwurfs, die gerade in Chile, dem am stärksten zentralisierten Land Lateinamerikas und der OECD, von besonderer Bedeutung war. Der Entwurf sprach u.a. explizit von einem “dezentralisierten Einheitsstaat”, führte die regionale und kommunale Selbstverwaltung ein und hob die Stadtverwaltungen auf das Niveau von Lokalregierungen.
Im Bereich Rechte und besserer Bedingungen für Frauen, bot der Verfassungsentwurf Fortschritte: er besagte, dass der Staat den ausgewogenen Zugang von Frauen und Männern zu Wahlämtern und Wahlmandaten sicherstellen müsse, die ausgewogene Teilhabe an verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens sowie vorübergehend die paritätische Verteilung der Mandate unter Frauen und Männern bei den nächsten zwei Wahlen. Im sozialen Bereich wurde das Recht auf Pflege und die Förderung der gemeinsamen Verantwortung verankert.
Schließlich sah der Verfassungsentwurf zum ersten Mal ein Kapitel über Umwelt, Nachhaltigkeit und Entwicklung vor, sowie einen spezifischen Artikel über Klimawandel, in dem der Staat sich verpflichtete, “Minderungs- und Anpassungsmaßnahmen" umzusetzen und die internationale Zusammenarbeit in diesem Bereich zu fördern.
Argumente «dafür» und «dagegen»
Während der vorhergehende Verfassungsentwurf mit dem links-progressistischen Lager identifiziert wurde, wurde dieser zweite Entwurf mit einer konservativeren Tendenz assoziiert.
Die konservativen Parteien der Mitte, des Mitte-rechts-Spektrums, sowie die rechtsaußen Partido Republicano, die im Verfassungsrat die Mehrheit stellten und den vor kurzem verabschiedeten Entwurf unterstützten, haben in der Wahlkampagne darauf abgestellt, dass Chile eine neue und moderne Verfassung brauche, die die alte ersetzt und über viele Jahrzehnte Gültigkeit behält. Es sei daran erinnert, dass die Republikanische Partei nie die derzeitige Verfassung ersetzen wollte. Paradoxerweise erhielten sie aber die Mehrheit der Stimmen bei der Wahl für die Mitglieder des Verfassungsrats, der den neuen Entwurf erarbeiten sollte.
Die Parteien der Linken, die das Regierungsbündnis Frente Amplio bilden, und die Christdemokratische Partei, die gegen den Entwurf waren, haben dagegen unterstrichen, dass der verfassungsgebende Prozess mit diesem Plebiszit definitiv abgeschlossen sei und es im Falle einer Ablehnung des Entwurfs von seiten der Chilenen weder kurz- noch mittelfristig weitere Versuche zur Erarbeitung einer neuen Verfassung geben werde. Ihrer Ansicht nach spaltete dieser Entwurf das Land und war schlechter als die heute geltende Verfassung.
Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht, dass sich bei den Debatten vor dem Plebiszit die Argumente beider Positionen auf die Aussage konzentrierten, dass dieses Plebiszit den Abschluss des verfassungsgebenden Prozesses bedeute. Auch Präsident Boric schloss sich implizit dieser Position an, als er verlautbarte, die Regierung werde sich, sollte das “dagegen” gewinnen, “mit ganzer Energie” weiterhin den drängenden Problemen und Forderungen der Bürger widmen.
Paradox ist auch, dass die Parteien der Linken, die von jeher die sogenannte Pinochet-Verfassung von 1980 ablösen wollten – eine Verfassung, an der unter den demokratischen Regierungen 60 Reformen vorgenommen wurden und die die Unterschrift von Ex-Präsident Lagos trägt – diese jetzt unterstützt haben und beibehalten wollen. Das Hauptargument ist, dass dieser Entwurf konservativer Prägung gerade jene Aspekte vertieft und verstärkt, die schon an dem heute geltenden Text kritisiert werden, insbesondere in den Bereichen Wirtschaft und Wertvorstellungen.
Ein neues politisches Szenario in Chile?
Das Ergebnis des Plebiszits vom 17. Dezember wird wahrscheinlich zu Veränderungen in der Parteienstruktur in Chile führen. Um die Position der Befürwortung der neuen Verfassung hat sich ein implizites Bündnis der Kräfte der politischen Mitte und des Mitte-rechts-Spektrums gebildet: Sowohl die neuen Parteien und Bewegungen, die vor wenigen Monaten aus der fast erloschenen chilenischen Christdemokratie entstanden sind (Amarillos por Chile und Demócratas, beide gehören der politischen Mitte an) als auch die traditionellen Parteien der Rechten und des Mitte-rechts-Spektrums wie die Unión Demócrata Independiente-UDI (rechts), Renovación Nacional-RN (konservativ) und die liberale Partei Evópoli, haben sich für die neue Verfassung eingesetzt und sogar gemeinsam Wahlkampagne gemacht.
Rechtsaußen Positionen, vertreten durch die Partei der Republicanos, ging aus dem Prozess geschwächt hervor. Obwohl sie die größte politische Kraft im Verfassungsrat war und den Prozess der Ausarbeitung der neuen Verfassung führte, waren einige ihrer radikaleren Vertreter der Ansicht, der Entwurf enthalte zu viele “sozialistische” Elemente, weshalb sie beschlossen haben, dagegen zu stimmen und aus der Partei auszutreten, wobei es Überlegungen gibt, eine neue ultrarechte, populistische und libertäre Gruppierung zu bilden. In diesem Sinne ist es durchaus interessant hervorzuheben, dass sowohl die ultrarechten als auch die linken Kräfte auf derselben Linie – gegen die neue Verfassung – waren.
Die Regierung stand zwar für die Position des “Dagegen”, hielt sich aber aus dem Prozess heraus. Der Sieg bei diesem Plebiszit wird allerdings nicht als Sieg der Regierung gelesen, während die politische Mitte trotz des erlittenen Rückschlags daraus gestärkt hervorgehen könnte. Amarillos por Chile und Demócratas sind entstanden nach dem Ausschluss oder Austritt jener Politiker und Mitglieder der Christdemokratischen Partei (PDC), die stets Konsenspositionen vertreten und sich im politischen Spektrum in der Mitte verortet haben. Die PDC hat ihre traditionelle politische Position der Mitte seit Ende 2019 radikal geändert, um zu einer linken Positionen viel näher stehenden Partei zu werden. Obwohl sie selbst keine Vertreter im Verfassungsrat hatten, waren Amarillos por Chile und Demócratas wichtige Akteure bei der Debatte. Unter ihrem Dach versammeln sich herausragende und erfahrene Politiker, und sie haben jetzt die Möglichkeit viel Zulauf zu erhalten in einer chilenischen Bevölkerung, die traditionell zu gemäßigten und verantwortungsvollen Regierungen und politischen Positionen neigt. In diesem Sinne wäre es ein großer Fortschritt für diese neue politische Mitte, wenn beide Parteien die Möglichkeit einer stärkeren Annäherung mit dem Ziel, ein Bündnis bzw. eine Koalition zu bilden oder im besten Falle eines Zusammenschlusses beider Parteien prüfen würden, deren Positionen in vielen Fällen beinahe identisch sind.
Auf der anderen Seite stehen die traditionellen Parteien UDI und RN, die stets die konservativen Positionen der Chilenen vertreten haben, vor einer neuen Herausforderung: sie müssen sich entscheiden, ob sie sich an die rechtsaußen Partei (Partido Republicano) annähern oder mehr auf die Mitte ausgerichtete Positionen unterstützen wollen. Die Umfragen besagen, dass die wichtigste Figur der UDI, die Bürgermeisterin der Gemeinde Providencia in Santiago de Chile, Evelyn Matthei, die besten Chancen habe, die Präsidentschaftswahlen 2025 zu gewinnen. Matthei vertritt den gemäßigteren Flügel der UDI und hat die Zustimmung einer breiten Mehrheit der politischen Mitte in Chile. Noch ist es eine lange Zeit bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen, aber ab Dezember 2023 werden die Grundlagen gelegt für die Bildung von Bündnissen und Koalitionen für 2025.
Welche Herausforderungen bringt das Ergebnis mit sich?
Die ersten Schlussfolgerungen aus dem Ergebnis bestätigen, dass die anfängliche Begeisterung für den verfassungsgebenden Prozess verflogen ist und die Bürger nach zwei abgelehnten Verfassungsentwürfen zu verstehen geben, dass sie den Weg zur Lösung ihrer Probleme nicht in einer neuen Verfassung sehen. Die Politik wird dabei auch als eine der großen Verliererinnen gesehen, aufgrund der Unfähigkeit ihrer Vertreter, sich zu einigen und die Probleme der Bevölkerung zu lösen. In der Politik herrscht explizite Übereinstimmung, dass die Verfassungsdiskussion auf unbestimmte Zeit abgeschlossen ist.
Stimmen aus der politischen Mitte unterstreichen die Notwendigkeit, eine Koalition zu bilden, die die Bevölkerung, die eine gemäßigte aber effektive Alternative sucht, zu interpretieren weiß. Die politische Elite ist polarisiert, nicht unbedingt die Bevölkerung, weshalb ein Bündnis von Amarillos, Demócratas und Evópoli sehr wohl möglich und auch opportun sein könnte.
Die Analyse der Ergebnisse von diesem Sonntag birgt aber noch weitere Herausforderungen. So stellt zum Beispiel das Ergebnis Chile Vamos, das Bündnis der traditionellen konservativen und Mitte-rechts-Parteien (RN, UDI und Evópoli) vor eine große Herausforderung angesichts des Vormarsches von Parteien aus dem rechtsaußen Spektrum. Des Weiteren wird auch eingehender zu analysieren sein, wie die Chilenen abgestimmt haben, die sich mit konservativen Positionen identifizieren. In neun von den zehn Gemeinden, die historisch immer “konservativ” gestimmt haben, war das Ergebnis mehrheitlich gegen den Verfassungsentwurf. Vor dem Hintergrund dieser Zeichen, unterstreichen Analysten die Notwendigkeit, das politische System zu reformieren und eine 5%-Schwelle für eine Vertretung im Parlament festzulegen, und zumindest im Diskurs wird von der Notwendigkeit gesprochen, der Demokratie aus der Sackgasse zu helfen und größere Einigung zu erzielen.
Proporcionado por
Oficina de la Fundación Chile
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Sobre esta serie
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