Am 3. Juli 2023 widerrief der irakische Präsident Abdul Latif Raschid ein Dekret aus dem Jahr 2013, das Patriarch Louis Sako als Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Kirche im Irak anerkennt. Seit der Zeit der Abbasiden wird die Autorität der Patriarchen im Irak und anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens durch entsprechende Dekrete von staatlicher Seite offiziell anerkannt. Raschid begründete den Bruch mit dieser Tradition mit der fehlenden gesetzlichen und verfassungsgemäßen Grundlage: Da es sich bei Kardinal Sako um einen religiösen Führer und nicht um einen Staatsangestellten handele, sei der Heilige Stuhl für dessen Ernennung und Abberufung zuständig. Der religiöse und rechtliche Status des Patriarchen werde laut Raschid durch den Widerruf des Dekrets daher nicht gefährdet.
Das chaldäische Patriarchat reagierte dennoch überrascht und bezeichnet in einer Stellungnahme den Widerruf des Dekrets als „beispiellos in der Geschichte des Irak“[1]. Trotz der Erklärungsversuche des Präsidenten fürchtet die chaldäische Kirche den Verlust weitreichender Befugnisse zur Verwaltung ihres Eigentums und Vermögens. Im Irak hat jede religiöse Gruppe ihre eigene Kommission zur Verwaltung der sogenannten Stiftungsgelder (waqf). Das nun widerrufene Dekret sicherte Patriarch Sako die Aufsicht über das Stiftungsvermögen der chaldäischen Kirche zu. Ob der Widerruf des Dekrets den rechtlichen Status des Patriarchen tatsächlich unberührt lässt, ist rechtlich unklar und umstritten. Der Kardinal hat aufgrund des Vorfalls seinen Amtssitz in Bagdad verlassen und leitet die kirchlichen Angelegenheiten vorübergehend aus einem Kloster in der autonomen Region Kurdistan-Irak.
Die Aufhebung des Dekrets durch den irakischen Präsidenten stellt den bisherigen Höhenpunkt einer Auseinandersetzung dar, die seit Monaten schwelt. Hierbei handelt es sich um einen Konflikt im christlichen Lager zwischen Kardinal Sako und dem Anführer der christlichen Babylon-Bewegung, Rayan al-Kildani, der zunehmend zu einer Spaltung der christlichen Gemeinde im Irak führt. Dabei geht es um die Frage, wer der legitime Vertreter der christlichen Gemeinschaft im Irak ist.
Spaltung im christlichen Lager
Al-Kildani, selbst ein chaldäischer Christ, machte sich zunächst als Kommandeur der Babylon-Brigade einen Namen. Im Zuge des unerwartet schnellen Vormarschs des IS auf Mossul formierten sich im Sommer 2014 die sogenannten Volkmobilisierungseinheiten (arabisch: al-Haschd asch-Schaʿbi) – ein loser Dachverband von 40 bis 60 Milizen - zur Bekämpfung der Terrororganisation. Als 50. Brigade der Volksmobilisierungseinheiten beteiligte sich die Babylon-Brigade unter der Führung al-Kildanis an diesem Kampf und gab dabei an, christliche Interessen zu vertreten. Dies hat zu einem umstrittenen Verhältnis mit der chaldäisch-katholischen Kirche geführt, die mit rund 200.000 Mitgliedern die größte christliche Gemeinde im Irak stellt. Das chaldäische Patriarchat und Kardinal Sako haben sich wiederholt von al-Kildani und seiner Brigade distanziert und scharfe Kritik geäußert. Ihrer Meinung nach müssen sich die Christen für einen nachhaltigen Frieden im Irak von bewaffneten Gruppierungen und Milizen wie der Babylon-Brigade abgrenzen. Stattdessen sollen sie sich den regulären irakischen Streitkräften anschließen.
Das U.S. Finanzministerium verhängte 2019 Sanktionen gegen al-Kildani aufgrund schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen. Laut der U.S. Behörde stellt seine Babylon-Brigade das Haupthindernis für die Rückkehr von christlichen Binnenvertriebenen in die Ninive-Ebene im Nordirak dar.[2] Hinzu kommt aus amerikanischer Sicht al-Kildanis Nähe zum Iran und insbesondere zu den Quds-Kräften der iranischen Revolutionsgarden. Die enge Verbindung zur selbsternannten Schutzmacht der Schiiten zeige sich auch in der religiösen Zusammensetzung der Miliz: Trotz der christlichen Fassade bestehe sie überwiegend aus schiitischen Muslimen aus dem Süden des Irak.[3] Die Babylon-Miliz soll aus US-Sicht darüber hinaus an der illegalen Beschlagnahmung von christlichem Land in der Ninive-Ebene und dessen Verkauf beteiligt gewesen sein. Von amerikanischer Seite wird kritisiert, dass die Babylon-Brigade damit im direkten Interesse des Irans handle, der versuche, einen ethnisch-konfessionellen Wandel in der christlich geprägten Region voranzutreiben.[4]
Vor diesem Hintergrund warf Kardinal Sako, der selber im christlichen Lager nicht unumstritten ist, dem Anführer der Babylon-Brigade wiederholt vor, nicht die Interessen der Christen zu vertreten. Al-Kildani wiederum beschuldigte den Patriarchen, sich während der Herrschaft des IS aus der Verantwortung gezogen und sich nicht ausreichend für den Schutz der Christen im Irak eingesetzt zu haben. Beide bezichtigen sich darüber hinaus gegenseitig der Korruption und Veruntreuung von öffentlichen Geldern.
Wer repräsentiert die Christen im Irak?
Der Konflikt zwischen Patriarch Sako und al-Kildani hat längst eine politische Dimension erreicht. Im Kern geht es um die Frage, wer die Christen im Irak auf politischer Ebene vertritt. Wie viele andere Milizen der Volksmobilisierungseinheiten hat sich auch die Babylon-Brigade als politische Partei etabliert. Die sogenannte Babylon-Bewegung wird ebenfalls von Rayan al-Kildani geführt und konnte in der Vergangenheit politische Erfolge verzeichnen. Bei den Parlamentswahlen 2021 gewann sie vier der fünf für Christen reservierten Sitze im irakischen Parlament.
Für Patriarch Sako ist das Wahlergebnis jedoch nicht der Ausdruck politischer Legitimität, sondern das Resultat eines unfairen Wettbewerbs: Wie die Basis der Miliz bestehe auch die Wählerschaft der Babylon-Bewegung zu einem beachtlichen Anteil aus schiitischen Muslimen.[5] Kardinal Sako hatte sich deshalb bereits kurz nach der Wahl in der Diskussion um die Funktionalität entsprechender Quoten für Minderheiten im irakischen Parlament zu Wort gemeldet. Er forderte die irakische Regierung dazu auf, entsprechende Maßnahmen gegen die Babylon-Bewegung zu ergreifen, da sonst christliche Interessen im Parlament nur noch unzureichend vertreten werden würden.
Wie groß die Unterstützung unter den irakischen Christen für al-Kildani aber auch für Patriarch Sako in Wahrheit ist, lässt sich kaum sagen. Al-Kildani ist jedenfalls davon überzeugt, dass das Wahlergebnis die wahre Unterstützung für seine Bewegung an der Basis widerspiegelt.[6] Grundsätzlich genießen die am erfolgreichen Kampf gegen den IS beteiligten Milizen – darunter auch die Babylon-Miliz – eine große Popularität in der irakischen Bevölkerung. Aufbauend auf dieser Annahme nimmt al-Kildani zunehmend selbstbewusst die Rolle des Vertreters der chaldäischen Christen im Irak ein. Durch den Widerruf des Dekrets steht nun die Frage im Raum, ob dem Anführer der Babylon-Bewegung auch die Vermögensverwaltung der chaldäischen Kirche übertragen werden könnte. Inwieweit dies aufgrund der Tatsache, dass al-Kildani kein kirchlicher Würdenträger ist, überhaupt möglich ist, bleibt offen.
Das Dilemma der Minderheiten im Irak
Die irakische Verfassung garantiert religiösen Minderheiten besonderen Schutz. Im Parlament sind ihnen gemäß ihrer Größe deshalb eine bestimmte Anzahl an Sitzen vorbehalten. Dennoch ist die Frage nach der rechtmäßigen Repräsentanz in einem Land mit sich überlagernden religiösen und ethnischen Identitäten wie dem Irak eine besonders schwierige. Darüber hinaus versuchen externe Akteure immer wieder Einfluss auf lokale Gruppen zu nehmen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Dies führt nicht selten dazu, dass sich innerhalb von religiösen und ethnischen Gemeinschaften im Widerspruch zueinanderstehende Interessengruppen bilden.
Der innerchristliche Konflikt ist Ausdruck dieses Dilemmas: Auf der einen Seite ist Patriarch Sako als religiöser Führer der katholisch-chaldäischen Kirche das anerkannte Sprachrohr aller christlichen Konfessionen im Irak. Nichtsdestotrotz ist er im engeren Sinne keine politische Person, die durch Wahlen legitimiert wurde oder direkten Einfluss auf die Entscheidungen des Parlaments nehmen kann. Al-Kildani und seine Babylon-Bewegung sind wiederum durch die Parlamentswahlen 2021 politisch legitimiert.
Die Tatsache, dass die Babylon-Bewegung bei den letzten Wahlen eine konfessionsübergreifende Wählerschaft mobilisieren konnte, führt Al-Kildani als Beleg für den gesamtirakischen Charakter seiner Bewegung an. Für Patriarch Sako hingegen kommt al-Kildanis Wahlerfolg mithilfe schiitischer Stimmen einem Ausverkauf christlicher Interessen gleich. Diese grundverschiedenen Auffassungen verdeutlichen, wie sensibel das Thema der politischen Repräsentanz ist: Die religiös und ethnisch aufgeladenen, gewaltsamen Konflikte der jüngsten Vergangenheit und die Gräueltaten des IS haben tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis irakischer Minderheiten hinterlassen. Dies erschwert maßgeblich den Aufbau von gegenseitigem Vertrauen sowie die Überwindung religiöser und ethnischer Spaltungen.
Die Existenz von konkurrierenden Führungsansprüchen innerhalb von Minderheiten und die damit einhergehenden Herausforderungen für deren politische Repräsentanz ist bei Weitem kein rein christliches Problem im Irak. Auch die Jesiden sind politisch gespalten. Mit dem Erstarken des IS haben sich unter dem Dach der Volksmobilisierungseinheiten jesidische Milizen gebildet. Diese stellten bei den letzten Parlamentswahlen eigene Kandidaten auf, welche mit den Kandidaten der traditionellen Parteien um die Stimmen der Jesiden konkurrierten. Seitdem kommt es immer wieder zu Beschwerden, dass die Regierung in Bagdad vornehmlich mit jenen jesidischen Milizen kooperiere und die Interessen anderer Teile der jesidischen Minderheit vernachlässige. Die Frage der rechtmäßigen Repräsentanz bleibt auch in diesem Fall unbeantwortet. Deutlich wird hingegen, dass die interne Spaltung der Jesiden - ebenso wie der Konflikt im christlichen Lager - die Position der jeweiligen Minderheit im irakischen Machtgefüge schwächt und ihre Vulnerabilität für externe Faktoren erhöht.
Deutschland setzt sich für den Schutz von Minderheiten im Irak ein. Bei dem viertägigen Aufenthalt von Außenministerin Annalena Baerbock im Irak im März 2023 stand die Zukunft der jesidischen Gemeinde ganz oben auf der Agenda. Auch der Besuch des Beauftragten der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Irak, Frank Schwabe, hat wichtige Impulse gebracht. Dieses Engagement sollte Deutschland fortsetzen und dabei insbesondere auch die christliche Minderheit in den Blick nehmen. Es geht darum, darauf zu drängen, die staatlichen Rahmenbedingungen für religiöse Minderheiten wie die irakischen Christen zu stärken. Der Irak gehört zu den Ländern, die zur Wiege der Christenheit zählen und die Religionsgemeinschaft ist seit Jahrtausenden im Zweistromland verwurzelt. Folglich kommt ihr eine besondere Rolle zu, die auch in Zukunft geschützt werden sollte.
[1] Chaldean Patriachate 2023: Statement on Withdrawing of the Chaldean Patriarch’s Republican Decree, abgerufen am 03.08.2023 unter: https://chaldeanpatriarchate.com/2023/07/09/statement-on-withdrawal-of-the-chaldean-patriarchs-republican-decree/.
[2] Vgl. U.S. Department of the Treasury 2019: Treasury sanctions persons associated with serious human rights abuse and corrupt actors in Iraq, abgerufen am 03.08.2023 unter: https://home.treasury.gov/news/press-releases/sm735.
[3] Vgl. Knights, Michael/Beth-Addai, Yaqoub 2023: Profile: Kataib Babiliyoun, The Washington Institute, abgerufen am 01.08.2023 unter: https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/profile-kataib-babiliyoun-50th-pmf-brigade.
[4] Vgl. Lucente, Adam 2023: Inside Iraq’s Chaldean Catholic church battle with Iran-backed Christian group, Al-Monitor, abgerufen am 01.08.2023 unter: https://www.al-monitor.com/originals/2023/07/inside-iraqs-chaldean-catholic-church-battle-iran-backed-christian-group.
[5] Vgl. Mansour, Renad 2021: Networks of Power, Chatham House, abgerufen am 08.08.2023 unter: https://www.chathamhouse.org/2021/02/networks-power/04-pmf-networks-and-iraqi-state.
[6] Vgl. Dawod, Saman 2021: Interview: Babylon Movement elbows our Iraq’s established Christian parties, Amwaj Media, abgerufen am 03.08.2023 unter: https://amwaj.media/article/interview-ryan-al-kildani.
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