Die vergangenen dreizehn Tage nutzte die zu diesem Zeitpunkt designierte Kommissionspräsidentin bereits für zahlreiche Gespräche, um am Ende die Stimmen der Mehrheit der Parlamentarier zu gewinnen. Zunächst hinter verschlossenen Türen, um sich ihr eigenes Bild von den drängenden Fragen der Europäischen Union (EU) zu machen, dann auch öffentlich, als sie im Europaparlament bei den unterschiedlichen Fraktionen vorsprach. Anschließend trug die ehemalige Verteidigungsministerin ihre europapolitischen Ideen vor, äußerte sich unter anderem zur Klimapolitik, zu Migration und zur Reform des Spitzenkandidatensystems, betonte mit Blick auf Fragen der Rechtsstaatlichkeit die Fundamente Europas und skizzierte ihre Vision einer Sozialen Marktwirtschaft. Die inhaltlich breite Themenstellung der Rede war offensichtlich darauf angelegt, möglichst viele der vielleicht noch unsicheren Parlamentarier mit ins Boot zu holen. Insofern gab es neben viel Lob und Anerkennung gemäß des politischen Spiels jedoch auch Kritik, auf die sie vorbereitet war.
Die 60-jährige war erst Anfang Juli überraschend Teil des Personalpakets der EU geworden, nachdem der Europäische Rat lange um die Nominierung eines der zuvor bestimmten Spitzenkandidaten gerungen hatte. Neben von der Leyen sollten der belgische Premierminister Charles Michel als künftiger Ratspräsident, der spanische Außenminister Josep Borrell als Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und die Französin Christine Lagarde als Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB), die führenden EU-Positionen einnehmen.
Von der Leyen begab sich während der Zeit bis zur finalen Abstimmung über ihre Person auf die Suche nach ihrem „Europäischen Weg“, stets mit dem Ziel vor Augen, eine Mehrheit von mindestens 374 Parlamentariern hinter sich zu vereinen. Genau dreizehn Tage nach dem Beginn ihrer „Zuhör-Tour“ präsentierte die Kandidatin aus Deutschland ihre politischen Leitlinien als künftige Kommissionspräsidentin vor dem gesamten Plenum in Straßburg. Sie zeigte sich einmal mehr als starke Europäerin und betonte, dass allein „ein Europäischer Weg“ die Lösung für die disruptiven Entwicklungen unserer Zeit sei. Darunter fielen unter anderem der Klimawandel, die Globalisierung und die Digitalisierung. Insbesondere im Klima-Bereich steckte von der Leyen das ehrgeizige Ziel eines klimaneutralen Kontinents bis 2050. Zudem setze sie Prioritäten im Hinblick auf eine soziale Wirtschaft, die Geschlechter-Balance der Kommission und eine Reform des gemeinsamen, europäischen Asylsystems. Das Spitzenkandidatensystem müsse überarbeitet werden, so von der Leyen, und auch für das Initiativrecht des Europäischen Parlaments würde sie sich einsetzen. Starke Worte, die mit einem starken Applaus der Abgeordneten belohnt wurden. Jedoch hielten sich die kritischen Stimmen auch nach ihrer Rede hartnäckig, sodass der Ausgang der finalen Abstimmung bis zuletzt ungewiss blieb. Hinzu kommt, dass die Abgeordneten im Europaparlament nicht durch einen Fraktionszwang gebunden sind und ihre Stimme somit ohne weiteres vom Rest der Gruppe abweichen kann. Während einige, wie die ehemals als Kommissionspräsidentin angetretene Vestager, der Präsident der Liberalen, Dacian Ciolos, und der Sozialdemokrat Frans Timmermans, von der Leyens Rede als „stark, warm und ausbalanciert“ lobten und zu ihrer Wahl aufriefen, zeigten sich andere weiterhin skeptisch. So bezeichnete der Ko-Vorsitzende der Grünen, Philippe Lamberts, von der Leyens Agenda als „zu vage“ und auch die konservative Fraktion übte starke Kritik.
Nach der Wahl ist vor der Wahl oder, wie alles begann
In den langwierigen und schwierigen Verhandlungen zur Besetzung der EU-Spitzenämter ging es vor allem um Kompromissbereitschaft. Das Verfahren sieht vor, dass dem Europäischen Parlament am Ende ein Vorschlag für den Posten des Kommissionspräsidenten vorgelegt wird, der von einer qualifizierten Mehrheit im Rat, bestehend aus 16 der 28 Mitgliedsstaaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, unterstützt wird. Der aus dem Amt scheidende Ratspräsident Donald Tusk musste als Verhandlungsführer dabei auf der Grundlage von Personalpaketen eruieren, ob diese Vielfalt der EU im Hinblick auf Geografie, Parteizugehörigkeit und Geschlecht widerspiegelten. Sobald eine dieser Personenkonstellationen aufgrund von Uneinigkeit zwischen den Staats- und Regierungschefs platzte, begannen die Konsultationen von neuem.
Bereits am ersten Abend des Sondergipfels Ende Juni stand ein Vorschlag zur Debatte, der am Rande des G-20 Gipfels in Osaka ausgehandelt wurde. EVP-Kandidat Manfred Weber war zu diesem Zeitpunkt aufgrund der unnachgiebigen Haltung Macrons bereits aus dem Rennen um Junckers Nachfolge ausgeschieden. Ein neuer Vorschlagl stand kurze Zeit später zur Debatte, der den niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans als Kommissionspräsidenten, Weber als Parlamentspräsidenten, die Weltbank-Generaldirektorin Kristalina Georgiewa (EVP) als Tusks Nachfolgerin und den belgischen Premierminister Charles Michel der Liberalen als neuen EU- Außenbeauftragten vorsah. Doch auch Timmermans stellte sich nicht als „Kompromisskandidat“ für die EU-28 heraus. Dem Sozialdemokraten mangelte es an Unterstützung der östlichen Visegrád-Staaten und Italien, die ihn aufgrund seiner Unterstützung des Rechtsstaatsverfahrens gegen Polen und seiner Ungarn-Kritik ablehnten. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán richtete sogar eine schriftliche Warnung vor einer Nominierung Timmermans an den EVP- Präsidenten Joseph Daul. Kurz nachdem das „Osaka-Paket“ auch gescheitert war, kursierten neue Namen im Rennen um die Nachfolge des Luxemburgers. Mehrfach wurde Michel Barnier, Chefunterhändler der EU- Kommission, genannt, und auch der Name der liberalen Dänin Margrethe Vestager fiel im Rahmen der Konsultationen mehrfach. Als der Sondergipfel am Morgen des nächsten Tages „mit neuer Kreativität“, um es in den Worten Merkels auszudrücken, in die Verlängerung ging, war die Personallage somit nicht weniger komplex. Den Beratungen in großer Runde ging erneut eine umfangreiche Phase bilateraler und multilateraler Gespräche voraus, und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte betonte, dass „alle möglichen Kollegen alle möglichen Positionen“ vertreten würden. Auch Xavier Bettel, Premierminister Luxemburgs, plädierte deutlich für einen Kandidaten mit dem größtmöglichen Rückhalt unter den Mitgliedsstaaten. Dem Druck des Europäischen Parlaments ausgesetzt, warfen die Ratsmitglieder dann einen weiteren Namen in den Ring.
Mit einem Kompromiss-Paket rundum die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als künftiger Kommissionspräsidentin wurde eine gänzlich neue Konstellation ins Spiel gebracht. Gemeinsam mit der CDU-Politikerin waren eine weitere Frau, die Französin und gelernte Juristin Christine Lagarde, als Chefin der EZB, der krisenerprobte belgische Premier Charles Michel als potentieller Ratspräsident und der spanische Außenminister Josep Borrell Teil der nunmehr avisierten Lösung. Darüber hinaus wurde besprochen, dass ein Sozialist für zweieinhalb Jahre das Amt des Präsidenten des Parlaments übernehmen und für die zweite Hälfte der Amtszeit von einem EVP- Kandidaten abgelöst werden könnte.
Das Personentableau steht
Mit dem Ausscheiden aller zuvor nominierten Spitzenkandidaten blieb am Ende das von der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen angeführte „Überraschungspaket“. Sie ist das Gesicht jener Personalentscheidungen, um die die Ratsmitglieder lange gerungen haben. Unterstützt wurde von der Leyen als Kandidatin insbesondere von den Baltischen Staaten und Polen, sowie Spanien, Frankreich und den Visegrád Vier. Kritisiert wurde die Entscheidung unter anderem in Deutschland, wo Grüne und Sozialdemokraten die Kandidatin ablehnten. Ohne die Unterstützung des Koalitionspartners SPD musste sich Merkel, sowie zuvor innenpolitisch festgelegt, auf dem EU-Sondergipfel als einzige Vertreterin der Abstimmung über die Nominierung enthalten. Annegret Kramp-Karrenbauer, jetzige Nachfolgerin von der Leyens als Verteidigungsministerin und Bundesvorsitzende der CDU, lobte die Ernennung ihrer Vorgängerin als „gutes Signal für die Handlungsfähigkeit von Europa“. Auch David McAllister, Mitglied des Europäischen Parlaments, appellierte an seine Amtskollegen, der langjährigen Ministerin und „überzeugten Europäerin“ eine Chance zu geben.
Auch das Parlament hat gewählt
Kurz nach der Einigung der Staats- und Regierungschefs in Brüssel hatte auch das neu zusammengesetzte Europaparlament in Straßburg einen neuen Präsidenten gewählt. Im zweiten Wahlgang wurde der Italiener David-Maria Sassoli mit 345 Stimmen zum Nachfolger des ebenfalls italienischen Antonio Tajani bestimmt. Sassoli soll das Amt für zweieinhalb Jahre übernehmen, um es anschließend für die zweite Hälfte an einen EVP-Kandidaten zu übergeben. Der tschechische Abgeordnete Jan Zahradil landete im Rennen um den Posten des Parlamentspräsidenten mit 160 Stimmen auf Platz zwei, und für Ska Keller, die deutsche Kandidatin der Grünen, votierten 119 Abgeordnete. Der neue Parlamentspräsident der italienischen Partito Democratico stand in seiner ersten Amtszeit in Brüssel ab 2009 der italienischen, sozialdemokratische Fraktion vor und war von 2014 bis 2019 einer der 14 Vizepräsidenten des EU-Parlaments. Im Rahmen seiner ersten Pressekonferenz als neu gewählter Parlamentspräsident betonte der ehemalige Fernsehjournalist: „Die Wahlen haben gezeigt, dass die Bürger an die Europäische Union, an die Demokratie glauben. Dies ist nicht belanglos wenn man bedenkt, wie viele Kräfte die Union während der letzten Wochen schwächen wollten“. Die Entscheidung für Sassoli komplettiert das übergreifende Personalpaket, das von der Leyen an der Spitze der Europäischen Kommission vorsieht.
Eine Analyse
In den vergangenen Wochen befanden sich Europas Bürger in einer Warteschleife, die zu keiner schnellen Entscheidung über die Vergabe der Top-Ämter in der EU zu führen schien. Die Institutionen wiesen sich gegenseitig die Schuld für die Uneinigkeit über die Nominierung konkreter Kandidaten beziehungsweise deren Blockade zu. Die Fraktionen im Europäischen Parlament hatten es zunächst verpasst, sich rechtzeitig hinter einen der vorab ausgewählten Spitzenkandidaten zu stellen. Dies beförderte den Ball in das Feld des Rates, der das alleinige Vorschlagsrecht für die Wahl des Kommissionspräsidenten besitzt. Unmut über die Entscheidungsfindung und die Abkehr von den Spitzenkandidaten blieben jedoch vor allem im Parlament bestehen, das es ebenso verfehlte, sich geschlossen hinter einer Person zu versammeln. Rückblickend lassen sich aus dem langen Prozess einige Schlussfolgerungen über die aktuelle Dynamik zwischen den Mitgliedsstaaten und den Institutionen ziehen, sowie über die zukünftige Handhabung des Spitzenkandidatensystems:
- Es existiert noch kein geeignetes Nominierungsverfahren für die Besetzung der EU-Institutionen, insbesondere wenn sich Europäisches Parlament und Europäischer Rat in einer konfliktiven Zuständigkeit befinden. Ob sich Amtsanwärter in Zukunft weiterhin im Wahlkampf als Spitzenkandidaten präsentieren oder ob die Personensuche ausschließlich dem Rat überlassen wird, sollte bis zur nächsten Europawahl überdacht und das System entsprechend reformiert werden. Hier könnte der Vorschlag der bisher umstrittenen transnationalen Listen als Alternative oder Ergänzung zum aktuellen Verfahren eine Rolle spielen. An erster Stelle steht in jedem Fall die Konsensfähigkeit desKandidaten. Ein Konsens, der die geographischen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Unterschiede der EU-Mitglieder widerspiegelt. Nur wenn dies gegeben ist, und der Kandidat seine legitimierte Handlungsfähigkeit durch die Institutionen erhält, kann dieser glaubwürdig an der Spitze der Kommission stehen.
- Die Reaktionen auf die Entscheidungen des Sondergipfels haben ebenfalls gezeigt, dass die Verbindung zwischen „der Basis“, Europas Bürgern, und ihren politischen Vertretern auf europäischer Ebene durchaus stark und nicht zu unterschätzen ist. Für viele Europäer ist die Verbindung zwischen ihrer Entscheidung bei der Europawahl und der anschließenden Nominierung der Topposten eine direkte. Auch die Wahlkämpfe in vielen Ländern haben diese Annahme mitgetragen, ohne dass die rechtliche Situation eindeutig bzw. die politische (Mehrheitsbildung) dem entsprach. Da die EU jedoch kein Staat ist, sondern ein Staatenverbund gilt es, ehrlicherweise auch der komplexen Struktur desselben Rechnung zu tragen: Auch der Europäische Rat hat seine institutionelle und demokratische Legitimation, und deren Mitgliedsstaaten haben eigene Interessen, unabhängig davon, ob man sie teilt oder nicht. Insofern waren die während der letzten Wochen oftmals bemühten Begrifflichkeiten „Hinterzimmerdeals“ oder „Verrat am Wählerwille“ weder hilfreich noch in der Sache berechtigt ist, wenngleich einer nachvollziehbaren Enttäuschung entsprungen.
- Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es Spannungen zwischen einzelnen Staaten und Ländergruppen innerhalb der Union gibt. Auch bei der Entscheidung über das EU- Personentableau kamen diese zum Vorschein, bis hin zur Blockade konkreter Lösungsansätze. In einem Zusammenschluss aus zahlreichen Mitgliedsstaaten gehört dies jedoch zum politischen Geschäft und könnte bereits ein Vorgeschmack auf die kommende Legislaturperiode sein. Die Überbrückung von Uneinigkeiten, Berücksichtigung der Interessen aller und eine stete Kompromisssuche stellen einige der Herausforderung der EU-Führungsspitzen dar. Um das Gemeinwohl Europas langfristig stärker in den Vordergrund zu stellen, könnte eine Stärkung des Parlaments, das für gesamteuropäische Interessen steht, erwogen werden. Durch die Übertragung des Initiativrechts an das Parlament bestünde eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass nationale Partikularinteressen und die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zukünftige Entscheidungen wie bisher dominieren.
- Es sollte hervorgehoben werden, dass trotz der mehrfachen Kritik an der Verfahrensfrage die Staats- und Regierungschefs eine Personallösung gefunden haben, die zunächst für alle Mitgliedsstaaten tragbar ist. Von der Leyen wurde nahezu einstimmig, mit nur einer Enthaltung Deutschlands nominiert. Juncker erhielt 2014 imVergleich zwei Gegenstimmen von Großbritannien und Ungarn. Zudem ist von der Leyen nun die erste Frau an der Spitze der Kommission und hat durch ihre Wahl Europa-Themen zurück in den öffentlichen Diskurs der Bürger gebracht.
Zahlreiche Medien sprachen nach Abschluss des Sondergipfels und der Abstimmung in Straßburg von Gewinnern und Verlierern des Verfahrens. Dabei scheint außer Acht, dass es vorrangig um das Wohl der EU in den kommenden fünf Jahren und nicht um den Siegeszug Einzelner geht. Verhandlungen, gerade in Personalfragen, gehen stets mit Kompromissen einher. Unter Berücksichtigung der Anliegen von 28 Mitgliedsstaaten und zwei Institutionen, war dies im Falle der Nominierung der Kandidaten für die EU-Ämter keine einfache Aufgabe. Tusk vermittelte zwischen Parteienfamilien, nationalen Regierungen und Europapolitikern gleichzeitig. Solange alle Staats- und Regierungschefs „die Kraft der Einigkeit wirklich verstehen“, so der scheidende Ratspräsident in seinem Bericht an das Parlament, können sogar in schwierigen Situationen gemeinsame Lösungen gefunden werden. Mit der Wahl von der Leyens als erster Frau an der Spitze der EU-Kommission, geht die Suche nach Kompromissen weiter. Ihre ehrgeizigen Ziele für Europa hat die ehemalige Ministerin bereits aufgezeigt, jedoch dürfen die komplexen, institutionellen Strukturen der EU nicht außer Acht gelassen werden. Mit ihrer Rede hat von der Leyen jedoch bereits deutlich gemacht, alle, die guten Willens sind, mitnehmen zu wollen. Und dies wird nur mit Kompromissen gehen.
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