206 Tage im Wartezimmer
Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 3. April 2022 hatten die Machtverhältnisse der letzten Jahre in Serbien im Großen und Ganzen reproduziert. Präsident Aleksandar Vučić wurde damals bei den Präsidentschaftswahlen mit 58,59 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt. Bei den Parlamentswahlen erhielt die von der SNS geführte Liste „Aleksandar Vučić Gemeinsam können wir alles schaffen" (Ujedinjeni možemo sve) insgesamt 42,4 Prozent der Stimmen. Vor dem Hintergrund der großen außenpolitischen Herausforderungen, wie der Suche nach einem Kompromiss bei der Normalisierung mit dem Kosovo oder der Frage nach den Russland-Sanktionen wegen des Krieges in der Ukraine wollte Präsident Vučić eine möglichst breite Koalition der Einheit schaffen. Präsident Vučić führte sogar kurz nach den Wahlen Gespräche mit Dragan Đilas, dem ehemaligen Bürgermeister von Belgrad und heutigen Vorsitzenden der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (SSP). Dragan Đilas ist der stärkste politische Wettbewerber von Präsident Vučić.
In einem kleinen südserbischen Dorf Veliki Trnovac wurden die Parlamentswahlen insgesamt 5 Mal wegen Unregelmäßigkeiten wiederholt, sodass das Parlament erst am 1. August konstituiert wurde. Laut Verfassung muss innerhalb 90 Tagen der Prozess zur Regierungsbildung abgeschlossen sein. Fast vier Wochen später, Ende August, verkündete Präsident Vučić, dass die vorherige Premierministerin Ana Brnabić auch zukünftig die Geschicke des Landes steuern werde. Weitere Namen der zukünftigen Regierung bis auf den Koalitionspartner Ivica Dačić, den bisherigen Bürgermeister von Novi Sad Miloš Vučević und den bisherigen Finanzminister Siniša Mali wurden nicht genannt. Im Nachgang sind fast zwei weitere Monate vergangen bis alle weiteren Namen der zukünftigen Regierung am 23. Oktober bei einer Sitzung des SNS-Parteivorstands veröffentlicht wurden.
Drei Tage später hat Ana Brnabić mit ihrem 76 Seiten umfassenden Exposé die sechs Prioritäten der neuen Regierung vorgestellt. Dieser werden neben der Premierministerin insgesamt 25 Mitglieder angehören. Zusätzlich werden drei Minister ohne Portfolio mitwirken. Die vorherige Regierung Brnabić bestand noch aus 21 Ministerinnen und Ministern. Bei ihren Ausführungen würdigte die alte und neue Premierministerin die Erfolge der vergangenen Regierung im Kampf gegen die COVID-19 Pandemie, umfassende Infrastrukturmaßnahmen im ganzen Land und zahlreiche Direktinvestitionen aus dem Ausland. Auch betonte die Premierministerin Erfolge bei der Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit und im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität. Im Hinblick auf die Kosovo-Frage wurden klare Erwartungen an die Regierung des Kosovo und die EU gerichtet, die in Brüssel vertraglich vereinbarte Gründung der serbischen Gemeinden im Kosovo endlich umzusetzen.
Neue Gesichter - alte Politik?
Der Vorsitzende der Sozialisten Ivica Dačić bekleidet wieder das Amt des Außenministers, was er schon einmal zwischen 2014 und 2020 tat. Dačić gilt als einer der erfahrensten Politiker auf dem serbischen politischen Parkett und verfügt über langjährige Kontakte sowohl Richtung Westen als auch nach Osten. Mit dieser Personalie möchte Präsident Vučić eine große Mehrheit hinter sich wissen, sollte es zum politischen Schwur in Belgrad kommen. Der Vorgänger von Dačić, Nikola Selaković gilt als enger Vertrauter des Präsidenten und wird sich zukünftig um die Sozialpolitik kümmern. Europaministerin ist Tanja Miščević, die in den vergangenen Jahren das EU-Verhandlungsteam Serbiens geleitet hat. Sie gilt in Fachkreisen als Expertin und hatte auch schon unter sozialdemokratischen Regierungen politische Verantwortung. Eine weitere positive Überraschung ist, dass mit Tomislav Žigmanov zum ersten Mal ein Vertreter der kroatischen Minderheit in Serbien der Regierung angehören wird. Žigmanov kommt aus der Region Vojvodina und wird sich um das Thema Menschen- und Minderheitenrechte kümmern. Diese Personalie ist ein wichtiges Zeichen der Versöhnung an die kroatische Regierung. Die Seiteneinsteigerin Dubravka Đedović Negre wird mit dem Energieportfolio einen der herausforderndsten Politikbereiche übernehmen. Sie verfügt über 16 Jahre Erfahrung im internationalen Bankensektor und gilt als politischer Neuling.
Gründe für das Wartezimmer
Der Grund für die ungewöhnlich lange Zeit der Regierungsbildung trotz der klaren parlamentarischen Machtverhältnisse zugunsten der SNS liegt wohl in der Frage der Umsetzung der Russland-Sanktionen. Serbien hat sich bisher geweigert, das mittlerweile 381 Seiten umfassende Kompendium an Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland umzusetzen. Dies wird mit den traditionell besonderen Beziehungen zu Russland und den eigenen schlechten Erfahrungen mit Sanktionen im Zuge der Jugoslawienkriege begründet. Während die geschäftsführende Regierung im Amt war, sollten keine derartig tiefgreifenden Entscheidungen über die Umsetzung von Sanktionen gefällt werden. Dieser Umstand ist nach der Regierungsbildung nun nicht mehr gegeben und die EU, ihre Mitgliedstaaten und die USA werden politische Signale aus Belgrad einfordern. Der Großteil der serbischen Bevölkerung ist gegen die Einführung von Sanktionen gegen Russland. Letzte Umfragen von Demostat zeigen, dass 80 Prozent der serbischen Bevölkerung gegen die Einführung von Sanktionen sind. Es ist dabei wichtig zu wissen, dass die Orientierung in Richtung Russland nicht so stark ist, wie die Antipathie gegenüber den USA und dem „Westen“. Im Auge der serbischen Gesellschaft sind diese verantwortlich für die vielen hundert zivilen Opfer während des NATO-Bombardements gegen das damalige Jugoslawien 1999, was letztlich im Jahr 2008 die Unabhängigkeit des Kosovo zur Folge hatte.
Der rechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine hat massive Auswirkungen auf Serbiens Politik. Die Europäische Union und die USA möchten, dass Serbien sich den Sanktionen gegen Russland anschließt und somit auch realpolitisch das strategische Ziel des EU-Beitritts untermauert. Gleichwohl will der Westen auch, dass Serbien endlich mehr Zugeständnisse mit Blick auf die Kosovo-Frage macht. Diese würde eine Normalisierung der Beziehungen nach sich ziehen. Daher wird der Spielraum für die neue serbische Regierung kleiner werden.
Die Rechten
Unabhängig davon, ob die neue Regierung unter Ana Brnabić konkrete Zugeständnisse bei der Kosovo- oder der Sanktionsfrage macht, so oder so wäre ein Rechtsruck in der Gesellschaft zu erwarten. Am 5. Oktober unterzeichneten fünfzig Vertreter der Volkspartei, der NADA-Koalition, der Dveri- und Zavetnici-Bewegung, Professoren und Akademiker, darunter 41 Abgeordnete des serbischen Parlaments, eine Resolution zur Wiedereingliederung des Kosovo in Serbien. Hier besteht nach wie vor viel Konfliktpotenzial in der Gesellschaft. Dieses könnte im Falle eines kurzfristigen Politikwechsels der Regierung von rechtsradikalen Kräften zur Mobilisierung genutzt werden. Daher ist es wichtig, dass sich der Präsident und die Regierung in diesen Fragen inkrementell vorarbeiten. In beiden Fragen braucht es zeitnah politische Signale aus Belgrad, damit die westlichen Partner nicht ihre Geduld verlieren.
Wirtschaftliche Herausforderungen
Im Schatten der großen außenpolitischen Fragen, die seit Monaten fast zu 100 Prozent die mediale Berichterstattung dominieren, tun sich auch ernstzunehmende wirtschafts- und finanzpolitische Herausforderungen auf. Anfang Oktober verkündete Präsident Vučić, dass die Vereinigten Arabischen Emirate Serbien einen Kredit in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar zur Verfügung stellen würden. Damit sollte die Liquidität Serbiens in den kommenden Monaten sichergestellt werden. Von der medialen Berichterstattung weitestgehend vernachlässigt, besuchte eine Delegation des Internationalen Währungsfonds kürzlich Belgrad. Auch hier wurden mit der Belgrader Regierung Verhandlungen über neue Kreditlinien geführt. Es ist zu erwarten, dass große staatliche Unternehmen, wie das dauerhaft defizitäre Energieversorgungsunternehmen EPS oder die Telekom, umstrukturiert werden müssen. Zudem ist zu erwarten, dass der IMF die Verschlankung der staatlichen Verwaltungsstrukturen einfordern wird. In beiden Fällen können die EU und ihre Mitgliedstaaten diese Prozesse begleiten. Besonders in Zeiten des geopolitischen Wettbewerbs auf dem Westbalkan wäre das von großer Bedeutung.
Wie weiter?
Die neue serbische Regierung sollte sich in Zusammenarbeit mit den Partnern in der EU und den USA Stück für Stück vorarbeiten im Sinne einer Kompromisslösung für den Kosovo und der graduellen Umsetzung der Sanktionen gegenüber Russland. Sollte dies nicht der Fall sein, wäre eine jahrelange Stagnation der EU-Verhandlungen und damit einhergehend eine zunehmende außenpolitische Isolation und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit die Folge. Dies ist weder im Interesse Serbiens noch der westlichen Partner.
Proporcionado por
Auslandsbüro Serbien / Montenegro
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Sobre esta serie
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