Hyperpräsidentialismus vs. Gewaltenteilung
Das politische System Mexikos ist gekennzeichnet von einer außerordentlich starken Position des Staatspräsidenten. Wenn dies noch mit einer hohen Zustimmungsrate aus der Bevölkerung wie derzeit bei AMLO der Fall (konstant bei rund 60%) und einer Dominanz seiner Regierungspartei MORENA in beiden Kammern des Parlaments zusammenfällt, stellt sich durchaus die Frage, welche demokratisch legitimierten Gegenkräfte noch bestehen, die ein gesundes „checks and balances“ ermöglichen. Grundsätzlich ist das durch die auch in der mexikanischen Verfassung verankerte Gewaltenteilung und die seit der Ablösung der Alleinherrschaft der PRI nach dem Jahr 2000 geschaffenen sogenannten „autonomen Institutionen (z.B. Wahlinstitut Instituto Nacional Electoral – INE, Informationsbehörde INAI – Instituto Nacional de Transparencia, Acceso a la Informacion y Protección de Datos Personales, u.a.) gegeben.
Von daher war es nicht verwunderlich, dass die jüngste mehrtägige Abwesenheit AMLOs von den Regierungsgeschäften fast zu einer Staatskrise mutierte. Ob es tatsächlich „nur“ eine erneute COVID-19 Erkrankung war oder doch eine ernsthaftere gesundheitliche Beeinträchtigung (Herzanfall), blieb angesichts der diffusen und völlig intransparenten Informationspolitik der Regierung im Dunklen.
Derzeit gibt es aber eine ganze Reihe besorgniserregender Entwicklungen, die man durchaus in ihrer Gesamtheit als demokratische Regression bewerten kann. Zum einen werden diese autonomen Institutionen ausgehebelt, drangsaliert und in ihren Kompetenzen beschnitten, was insbesondere derzeit beim INAI erkennbar ist: Durch das Veto des Präsidenten können derzeit drei der fünf „consejeros“ nicht nachbesetzt werden, wodurch das INAI de facto entscheidungsunfähig ist und damit jegliche Anfragen oder Nachforschungen bezüglich Zugang zu Information bei staatlichen Behörden oder Instanzen auf Eis liegen. Damit besteht derzeit beispielsweise ein hohes Maß an Intransparenz bei einer ganzen Reihe von staatlichen Großaufträgen. Ein weiteres Beispiel ist der Oberste Gerichtshof SCJN (Suprema Corte de Justicia de la Nación). Nach dem Wechsel beim Vorsitz Anfang des Jahres vom AMLO-affinen Arturo Zaldivar zur dezidiert unabhängigen Norma Piña wird der Gerichtshof und insbesondere ihre Vorsitzende von AMLO bei seinen „mañaneras“ bei jeder Entscheidung aufs Schärfste kritisiert und zum Teil persönlich angegriffen. Besonders eklatant war dies bei der jüngsten Entscheidung der SCJN, die von der Regierung beschlossene Unterstellung der Guardia Nacional beim Verteidigungsministerium als verfassungswidrig abzulehnen. Ähnliches dürfte der auf parlamentarischer Ebene beschlossenen Wahlrechtsreform und den jüngst im Eilverfahren beschlossenen zahlreichen Gesetzesänderungen bevorstehen, die mehrheitlich offensichtlich Verfahrensdefizite und offen verfassungswidrige Elemente enthalten. AMLOs schon legendärer Ausspruch „no me vengan a mi que a ley es la ley (sagen Sie mir nicht, dass das Gesetz das Gesetz ist)“ vor rund einem Jahr spiegelt wohl am besten sein Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit von Verfassungsorganen wieder. Das dritte Beispiel ist das Ende April durch beide Kammern (Abgeordnetenhaus und Senat) regelrecht „gepeitschte“ Paket unterschiedlichster Gesetzesinitiativen. In beiden Kammern stellt die MORENA-Regierungskoalition die einfache Mehrheit und hat dieses Gesetzespaket unter Aushebelung aller parlamentarischer Verfahren, ohne Diskussionen in den entsprechenden Ausschüssen und ohne Aussprache im Plenum – sowie zum Teil in Nachtsitzungen und im Falle des Senats sogar außerhalb des Senatsgebäudes selbst – verabschiedet. Die Opposition hat bereits auf breiter Front Verfassungsbeschwerde angekündigt, um auf diesem Weg die mitunter einschneidenden Veränderungen zu stoppen. Hierzu gehören: Eine drastische Veränderung des Bergbaugesetzes mit Eingriff in bestehende Konzessionen, die de-facto-Abschaffung des Forschungsnetzwerkes CONACYT, die Auflösung des erst 2019 von dieser Regierung geschaffenen Gesundheitssystems INSABI mit enormen finanziellen Verlusten, die Abschaffung der ländlichen Entwicklungsbank Financiera Nacional de Desarrollo Agrario, eine weitere Übertragung von Kompetenzen und finanziellen Mitteln an die Streitkräfte (unbefristetes Management des „Tren Maya“, zusätzliche Einnahmen aus dem Tourismussektor, Kontrolle des Luftraumes). All diese Gesetze wurden von MORENA unter dem Vorwand der Dringlichkeit in Senat und Abgeordnetenkammer eingebracht, um somit die gesetzlich vorgeschrieben und in den parlamentarischen Vorschriften verankerten Abläufe zu umgehen. Der angesehene politische Analyst Jesus Silva Herzog bezeichnete dies treffend als „legislación impulsiva (impulsive Gesetzgebung)“, die die Handlungsmöglichkeiten einer Nachfolgeregierung deutlich konditionieren wird.
Kurzum: eine Demonstration von Parlamentarismus mit der Dampfwalze gegen eine fast ohnmächtig wirkende Opposition.
Korruptionsvorwürfe auf beiden Seiten
In diesem Kontext ist es wenig verwunderlich, dass auf beiden Seiten des politischen Spektrums auch handfeste Korruptionsvorwürfe als Mittel der politischen Auseinandersetzung lauter werden. Auf Seiten der größten Oppositionspartei Partido Acción Nacional (PAN) traf das im Hauptstadtbezirk Benito Juarez zunächst den ehemaligen Stadtrat Bernardo von Roehrich, der beim Versuch, sich dem mexikanischen Haftbefehl zu entziehen und sich in die USA abzusetzen, an der Grenze verhaftet wurde. Inzwischen gehen die Vorwürfe aber auch in Richtung des Fraktionsvorsitzenden im Abgeordnetenhaus Jorge Romero und des amtierenden Distriktbürgermeisters Santiago Taboada, denen dubiose Geschäfte im Kontext von Immobilienkonzessionen vorgeworfen werden. Dass die Staatsanwaltschaft der Hauptstadt dies mit besonderer Intensität und Verbreitung in der Öffentlichkeit betreibt, ist aber auch Teil der politisch motivierten Auseinandersetzung im Vorfeld der anstehenden Wahl des Oberbürgermeisters der Ciudad de México im Jahr 2024 bei der sich die Opposition aus PAN, PRI und PRD durchaus Chancen ausrechnet, was die amtierende Regierungschefin und potentielle Präsidentschaftskandidatin Claudia Scheinbaum und AMLO selbst natürlich um jeden Preis verhindern wollen.
Auf der anderen Seite steht (wieder) das unmittelbare familiäre Umfeld des Präsidenten im (Korruptions)Scheinwerferlicht. Wie ein Journalistenteam des Portals LATINUS am 3. Mai veröffentlichte, besteht offenbar ein ganzes Geflecht von (Schein)Firmen, die erheblich von der Beendigung des ehemaligen Flughafenprojektes in Texcoco (NAIM) mit entsprechenden Zahlungen profitierten, in deren Mittelpunkt der Präsidentensohn Andres López Beltrán steht. Das Informationsportal LATINUS mit seinem leitendem Journalist Carlos Loret de Mola, welches diese Hintergründe recherchiert hat, hat bereits im vergangenen Jahr durch Investigativberichte mögliche Verflechtungen von AMLOs Sohn Jose Ramón López Beltran im Erdölgeschäft und daraus resultierenden Vorteilen um dessen Wohnsitz in Houston aufgedeckt. Somit sind in AMLOs Augen sowohl LATINUS als auch de Mola mittlerweile deklarierte Erzfeinde und meistgenannten Gegner bei AMLOs „mañaneras“.
Mexiko und die USA – der immerwährende Konflikt
Die Beziehungen Mexikos zu den USA sind von herausragender Bedeutung. Das unterstreichen die intensiven wirtschaftlichen Verflechtungen ebenso wie die geografische Nähe und die gemeinsame Präsenz im nordamerikanischen Freihandelsabkommen T-MEC. Der US-amerikanische Botschafter ist ein regelmäßiger Gesprächspartner AMLOs im Regierungspalast und die gegenseitigen Besuche in den USA und Mexiko von Regierungsdelegationen auf beiden Seiten sind Teil des intensiven politischen Dialogs. Allerdings scheint die Geduld auf US-amerikanischer Seite zu schwinden, zu offensichtlich sind die Reibungsverluste bei entscheidenden Themen wie Migration, organisierte Kriminalität und Drogenhandel, ganz zu schweigen von außenpolitischen Dissonanzen wie der Weigerung der mexikanischen Regierung, die russische Invasion in der Ukraine dezidiert zu verurteilen oder die konstanten Attacken gegen OAS und Vereinte Nationen sowie die schon provokante Annäherungan Kuba mit dem entsprechenden Hofieren des dortigen Regimes durch AMLO.
Zwar ist man in Washington immer wieder bereit, mit stillen Tönen auf die eher lautstarken Äußerungen aus Mexiko zu reagieren, wohl wissend, dass es in beiderseitigem Interesse ist, die Beziehungen konstruktiv zu gestalten. Aber Joe Biden wird nicht vergessen haben, dass AMLO sich sehr viel Zeit ließ, ihn nach seinem Wahlsieg zu beglückwünschen. Auch die Behandlung der beiden Staatschefs aus den USA und Kanada beim Gipfeltreffen in Mexiko im Jahr 2022 ließ doch sehr an diplomatischer Finesse vermissen.
Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein, wie die US-Administration auf den erneuten Protest AMLOS gegen die finanzielle Unterstützung mexikanischer NGO wie Mexico Evalúa, Article 19 und MCCI (Mexicanos contra la Corrupción e Impunidad) aus Mitteln des USAID regieren wird, die AMLO in einem (öffentlich gemachten) Schreiben an Joe Biden als „Einmischung in innere mexikanische Angelegenheiten“ verurteilte. Bereits im Juni 2021 war ein Vorwurf AMLOs mit einem ähnlich lautenden Brief aus Washington unbeantwortet geblieben.
Regionalwahlen 2023 und Kandidantenschau 2024
Zwar liegt der unmittelbare Wahlfokus noch auf den Gouverneurswahlen in Coahuila und Estado de México am 4. Juni2023. Dabei deutet alles darauf hin, dass die Oppositionskoalition mit einem PRI-Kandidaten an der Spitze die Wahl in Coahuila gewinnen kann. Im wesentlich wichtigeren und bevölkerungsreichsten Bundestaat Estado de México liegt allerdings die MORENA-Kandidatin und ehemalige Erziehungsministerien Delfina Gomez deutlich vor ihrer Konkurrentin der Oppositionskoalition Alejandra del Moral (PRI), der Abstand beträgt je nach Umfragen 10-20% und scheint kaum einholbar zu sein. Dies dürfte einerseits im Falle einer Niederlage die Oppositionskoalition vor die Frage stellen, wie tragfähig dieses Bündnis mit Blick auf 2024 ist und andererseits MORENA den erhofften Schub für das Wahljahr 2024 verleihen.
Aber eben dieses Wahljahr 2024 wirft längst seine Schatten voraus, v.a. wegen der sich zuspitzenden Diskussion über die möglichen Spitzenkandidaten auf beiden Seiten. Angesichts der bestehenden Umfragen, die derzeit alle einen klaren Wahlsieg eines MORENA-Kandidaten vorhersagen, ist die eigentlich spannende Frage nicht, ob Regierung oder Opposition gewinnen, sondern welcher der Regierungskandidaten das Rennen für sich entscheiden kann und wer dabei die Sympathie des amtierenden Präsidenten genießt. Die sog. „corcholatas“ sind die amtierende Regierungschefin der Hauptstadt Ciudad de México, Claudia Scheinbaum, der Außenminister Marcelo Ebrard, der Innenminister Adán Augusto Lopez und der MORENA-Fraktionsvorsitzende im Senat, Ricardo Monreal. Die Umfragen sehen die beiden erst genannten in einem Kopf-an-Kopf-Rennen vorne, die anderen beiden etwas abgeschlagen dahinter. Unklar ist aber noch das genaue Verfahren (voraussichtlich eine noch näher zu definierende Umfrage) und vor allem der zeitliche Ablauf. Vor allem Ebrard drängt auf eine rasche Entscheidung und hat bereits personelle Konsequenzen gezogen, seine Staatssekretärin im Außenministerium Martha Delgado freigestellt und zu seiner Wahlkampfleiterin bestellt. Ebenso drängt er alle Konkurrenten darauf, von ihren aktuellen Ämtern zurückzutreten, um so gleichberechtige Bedingungen zu schaffen, was insbesondere Claudia Scheinbaum nicht gelegen kommt, da sie mit der personellen und finanziellen Ausstattung ihres Amtes große Spielräume besitzt, die sie auch bereits weidlich zu umfangreichen Wahlkampfauftritten im gesamten Land nutzt.
Wer auch immer sich auf Seiten MORENAs durchsetzt, wird auch daran gemessen werden, inwieweit und mit welcher Intensität er/sie das Erbe AMLOs tatsächlich fortsetzen wird oder auch modifizierende (und wie viele hoffen: moderierende) Akzente setzen wird. Am ehesten wird das Ebrard zugetraut, AMLOs Präferenzen scheinen derzeit aber eher bei Scheinbaum zu liegen.
Während dieses Personaltableau auf Seiten der Regierung noch vergleichsweise überschaubar ist, sind die Probleme auf Seiten der Opposition wesentlich komplexer und diffuser. Hier gilt es, zwischen den Koalitionspartnern PAN und PRI (mit Abstrichen auch PRD) auszutarieren. Darüber hinaus steht die weitere Oppositionspartei außerhalb der Koalition, nämlich Movimiento Ciudadano, mit eigenen Kandidaten im Raum. Alle bisher selbst ernannten oder von anderen vorgeschlagenen Kandidaten liegen aber im einstelligen Prozentbereich, was vor allem der enormen Dispersion zuzuschreiben ist. Solang hier kein Prozess der Entscheidungsfindung eingeleitet wird, dürfte dies so bleiben und den Eindruck erhärten, dass die Opposition mangels eines eindeutigen Spitzenkandidaten zumindest bei der Präsidentschaftswahl 2024 kaum realistische Chancen hat. Sollte sich aber das Personaltableau auf beiden Seiten klären, könnte diese Frage noch einmal spannender werden: Zum einen, weil dann die jeweils gegeneinander antretenden Konkurrenten im unmittelbaren Vergleich stehen und sich die Streuung der Wählerpräferenzen (vor allem auf Seiten der Opposition) dann auf eine Person konzentrieren. Zum anderen aber auch, weil dann klar würde, ob sich die unterlegenen Kandidaten ganz in den Dienst des „Frontrunners“ stellen oder ggf. mit ihrer Anhängerschaft noch die Seiten wechseln.
Ausblick
Was derzeit auffällt, ist ein durchaus bemerkenswerter Kontrast zwischen einer ungewissen bis bedenklichen innenpolitischen Lage auf der einen Seite durch die anstehenden Wahlen 2024, die zunehmende Schwächung demokratischer Institutionen und Machtkonzentration sowie anhaltende Versuche, die Rechtsstaatlichkeit in Mexiko zu untergraben, v.a. aber auch durch die weiter zunehmende Ausbreitung der organisierten Kriminalität mit einer ständig steigenden Quote von Gewaltverbrechen. Auf der anderen Seite ist eine deutliche Verbesserung des wirtschaftlichen Klimas festzustellen. Die Prognosen der Wirtschaft selbst (Umfragen bei Unternehmen) und die „Bonanza-Stimmung“ im Kontext der nearshoring-Diskussion, von der Mexiko allem Anschein nach erheblich profitieren kann, aber auch Investitionsvorhaben wie die neue TESLA-Fabrik in Monterrey, sind wesentlich für diese positive Stimmung verantwortlich, von der zumindest Teile Mexikos profitieren werden. Inwieweit die politische Entwicklung mit diesem Optimismus Schritt halten und diesen gar befördern kann, wird sich zeigen. Die nächsten Monate versprechen diesbezüglich spannend zu werden.