Rechtliche Grundlagen für die Volksbefragung in Mexiko
Im Zuge der Verfassungsreform im Jahre 2012 wurde Artikel 35 Absatz VIII abgeändert, wodurch ein bis dahin nicht existierender Mechanismus zur direkten Beteiligung der mexikanischen Bürgerinnen und Bürger entstand: die sogenannte consulta popular. Auf der Grundlage dieser Reform wurde 2014 das Bundesgesetz zur Volksbefragung verabschiedet, in dem der genaue Ablauf dieser Befragungen geregelt wird.
Kraft Gesetz kann eine solche Volksbefragung von jeder der beiden Kammern des mexikanischen Kongresses (bei mindestens 33% Zustimmung der Abgeordneten oder Senatoren), vom Staatspräsidenten oder von den Bürgerinnen und Bürgern selbst (mittels einer Unterschriftensammlung von mindestens 2% der namentlich erfassten stimmberechtigten Wähler) beantragt werden. Zwar gelten für diese drei Modelle unterschiedliche Anforderungen. Wenn diese jedoch erfüllt sind, geht der Antrag auf Abhaltung einer Volksbefragung in jedem dieser Fälle automatisch zum Obersten Gerichtshof (Suprema Corte de Justicia de la Nación - SCJN), der ihn auf Verfassungsmäßigkeit überprüfen muss. Wenn der SCJN die Befragung für verfassungsmäßig erklärt, ist die Bundeswahlbehörde INE (Instituto Nacional Electoral) damit beauftragt, diese Volksbefragung zu organisieren, bekannt zu machen, durchzuführen, auszuzählen sowie die Ergebnisse zu validieren und zu veröffentlichen.
Das Gesetz sieht aber auch Beschränkungen für diese Befragungen vor. Dabei sind besonders die Einschränkungen der Themen wichtig, die Gegenstand einer Volksbefragung sein dürfen. So darf beispielsweise über folgende Fragen nicht abgestimmt werden:
1) Einschränkungen der Menschenrechte, 2) Schutzrechte, 3) Prinzipien im Hinblick auf die Republik, die Demokratie, den Laizismus (Trennung von Kirche und Staat) oder den Föderalismus, 4) Amtsentlassung von Beamtinnen und Beamten, 5) wahltechnische Fragen, 6) Themen im Zusammenhang mit dem Finanzwesen oder dem Bundeshaushalt, 7) laufende Infrastrukturprojekte und 8) Fragen der nationalen Sicherheit.
Außerdem gelten für die spezifische Frage, über die abgestimmt werden soll, ganz besondere Kriterien: Sie darf nicht tendenziös sein, sie muss in verständlicher und neutraler Sprache abgefasst und so formuliert sein, dass sie nur mit ja oder nein beantwortet werden kann.
Die Politik und das Thema Volksbefragung
Um die nun anstehende Volksbefragung politisch einzuordnen, muss man sich kurz den politischen Werdegang und das politische Selbstverständnis des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) vergegenwärtigen, da er mit dezidiertem persönlichen Einsatz dieses Instrument nun zum ersten Mal anwendet.
Seine politische Laufbahn begann er in der PRI (Partido Revolucionario Institucional), um dann in die linksgerichtete PRD (Partido de la Revolución Democrática) zu wechseln und schließlich seine eigene Partei MORENA (Movimiento de Regeneración Nacional) zu gründen, mit der er 2018 im dritten Anlauf schließlich in den Präsidentenpalast einzog. Schon als Bürgermeister von Mexiko-Stadt (2000-2005, damals noch für die PRD) konzentrierte sich sein politischer Diskurs gegen den „Neoliberalismus“ und die „mafia del poder“ (Mafia der Macht), zu denen er die Vorgängerregierungen der PRI und der PAN (Partido Acción Nacional) aber auch Unternehmer und ihm nicht wohlgesonnene Medien zählt. Seit seinem Amtstritt als Präsident 2018 hat sich dieser Diskurs verfestigt und wurde durch die Definition seines politischen Projektes der „4. Transformation“ ergänzt. Die in diesem Kontext zugespitzte Polarisierung in Politik und Gesellschaft wird von AMLO gezielt befeuert, in dem er Freund und Feind klar identifiziert und auch tituliert. Ebenso einfach und eindeutig ist auch seine Begründung für die Entwicklungsdefizite im Land: Schuld sind sämtliche Vorgängerregierungen und die nach seiner Überzeugung korrupten Institutionen (Parteien, autonome Institutionen, etc.). Sein Konzept beinhaltet von daher die Vorstellung, möglichst viele Elemente einer direkten Demokratie und eine Schwächung der intermediären Institutionen umzusetzen: Das „gute und weise Volk“ (el pueblo sabio y bueno) soll so in direktem Austausch mit ihm als Landesvater stehen.
Die von ihm nun eingebrachte Volksbefragung passt von daher sehr präzise in dieses politische Konzept, da es ihm erlaubt, komplexe politische Sachverhalte auf eine simple Frage zu reduzieren und dem Volk dazu die Entscheidungshoheit direkt in die Hand zu geben. Allerdings kam es in diesem konkreten Fall dann doch zu einigen Verwerfungen.
In der ursprünglichen Fassung dieser von Präsident Andrés Manuel López Obrador eingebrachten Volksbefragung sollten die Bürgerinnen und Bürger darüber abstimmen, ob sie damit einverstanden seien, dass die Behörden (in Einhaltung der Gesetze) ermitteln und ggf. die ehemaligen Präsidenten Carlos Salinas de Gortari, Ernesto Zedillo, Vicente Fox, Felipe Calderón und Enrique Peña Nieto wegen vermeintlicher in ihren Amtszeiten begangener Straftaten vor Gericht stellen sollten.
Diese Formulierung warf jedoch erhebliche Bedenken auf, da sich selbst dem juristisch nicht geschulten Betrachter die Frage stellte, ob ein solches Verfahren mit Grundprinzipien des Rechtsstaates zu vereinbaren ist. In jedem Rechtsstaat – auch in Mexiko – obliegt es den dafür vorgesehenen Behörden und Instanzen (Staatsanwaltschaft, Gerichte, etc.) unter Berücksichtigung der bestehenden Gesetze und Bestimmungen bei Straftaten zu ermitteln, sie zu verfolgen und dafür Strafen zu verhängen. Das kann und sollte nicht Gegenstand einer Volksbefragung sein. So formulierte es auch Javier Laynez, Bundesrichter des Obersten Gerichtshofs, treffend: “Die Justiz wird nicht befragt.”
Entsprechend der oben erwähnten gesetzlichen Vorgaben hatte dann die SCJN letztes Jahr die wichtige und politisch delikate Aufgabe, sich zur Verfassungsmäßigkeit von AMLOs Vorschlag zu äußern. Es gab in diesem Zusammenhang auch zahlreiche Debatten und Diskussionen von renommierten Juristen und Rechtsexperten, die die Diskussion innerhalb des SCJN kritisch begleiteten und mehrheitlich monierten, dass sich das Oberste mexikanische Gericht mit einer gewissen Oberflächlichkeit zur Materie äußerte. Es kam letztlich zu einem geteilten Urteil, bei dem eine knappe Mehrheit ohne eine abgestimmte Argumentation die Frage grundsätzlich für verfassungsmäßig einstufte, allerdings eine Umformulierung der Frage anordnete und abschließend wie folgt genehmigte:
“Sind Sie damit einverstanden oder nicht, dass in Übereinstimmung mit dem gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Rahmen angemessene Maßnahmen ergriffen werden, um einen Prozess zur Klärung der in vergangenen Jahren von politischen Akteuren getroffenen politischen Entscheidungen einzuleiten, der darauf abzielt, Gerechtigkeit und die Rechte der möglichen Opfer zu gewährleisten?”
Im Gegensatz zur ursprünglichen Fassung sind somit die Expräsidenten nicht mehr namentlich erwähnt. Hinzu kommt, dass entgegen der eingangs erwähnten klaren Bedingungen für eine solche Frage hier sehr schwammige Formulierungen Eingang finden.
So fragen sich zahlreiche Experten heute, über was das Volk nun genau abstimmen soll. Was genau ist mit „angemessenen Maβnahmen“ gemeint? Welche Behörden sollen diese Maßnahmen einleiten? Was ist ein Prozess zur Klärung politischer Entscheidungen? Um welche vergangenen Jahre geht es? Sind auch politische Akteure aus der gegenwärtigen Amtszeit gemeint?
Das sind nur einige Fragen und Unklarheiten, die sich aus der neuen Formulierung ergeben und auf die es bis dato keine Antwort oder Erklärungen gibt. Eine tiefgreifende juristische Analyse dürfte noch weitere komplexe verfassungsrechtlich und strafrechtliche Fragen und Kontroversen aufwerfen.
Trotz dieser Bedenken und Unklarheiten wird die Volksbefragung aber am 1. August stattfinden. Die Bundeswahlbehörde INE ist nun gemäß ihres gesetzlichen Auftrags damit befasst, die Befragung durchzuführen und wird die abgegebenen Stimmen auszählen sowie das Ergebnis bekanntgeben.
Was kommt nach der Volksbefragung?
Kraft Gesetz müssen mindestens 40% der namentlich erfassten Stimmberechtigten ihre Stimme abgeben, damit das Ergebnis der Volksbefragung verbindlich ist, d.h. damit “angemessene Maßnahmen” ergriffen werden können. Damit die Befragung gültig wird, müssen also ca. 37,5 Millionen Wählerinnen und Wähler zur Abstimmung gehen. Sollte diese Zahl nicht erreicht werden, hat die Volksbefragung keine offizielle Gültigkeit. Ebenso muss zur Einleitung der “angemessenen Maßnahmen” das “ja” eine einfache Mehrheit dieser abgegebenen Stimmen erhalten. Zum Vergleich: Bei den letzten Wahlen, den umfangreichsten in der Geschichte des Landes, betrug die Wahlbeteiligung 52% bei einer Wählerschaft von etwas über 93 Millionen Menschen.
Schließlich liegt die Gefahr darin, dass selbst bei zustimmendem und somit verpflichtendem Ausgang der Befragung noch viele rechtliche Punkte ungeklärt wären, die willkürlich ausgelegt werden könnten. Dadurch könnten Rechte, gesetzliche Bestimmungen und sogar die institutionelle Ordnung verletzt werden.
Damit sind eigentlich zu viele Frage offen, als dass man dieser Abstimmung eine reale politische Bedeutung beimessen könnte. Es sollte aber nicht unterschätzt werden, dass diese Volksbefragung wie eingangs beschrieben ein weiteres Element in der von AMLO betriebenen 4. Transformation ist, die er geschickt als direkte Demokratie verkauft und die sein unmittelbares politisches Handeln weiter legitimieren soll. Bisher ist diese Rechnung aufgegangen. Nach wie vor wird sein politischer Kurs von einer Mehrheit der Mexikaner mitgetragen. Diese Initiative trägt sicher weiter dazu bei, sein Konzept der Volksnähe zu stützen und intermediäre Institutionen und Verfahren zu schwächen.
Sollte das Experiment gelingen und die Volksbefragung die erforderlichen Mehrheiten bekommen, kann man sich in Mexiko mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Fortsetzung dieses Instruments einstellen.