Reportajes internacionales
Militär- und Polizeibeamte, die für die Spiele eigens nach Rio de Janeiro versetzt worden waren, sind abgerückt (insgesamt waren während Olympia 85 Tausend Sicherheitskräfte in Rio de Janeiro im Einsatz). Der Bundesstaat Rio de Janeiro ist bankrott. Polizisten bekommen teilweise kein Gehalt mehr. Dass sich die Situation verschlechtert, wird besonders in Rio de Janeiro deutlich. Das Militär musste kurzzeitig eine der größten Armenviertel in Rio de Janeiro besetzen, um die Sicherheit der Bürger in den sowieso schon schwierigen Lebensverhältnissen gewährleisten zu können. Raubüberfälle mit Schusswaffen im großen sowie im kleinen Stil und Konflikte zwischen kriminellen Banden der Favelas stehen in Rio de Janeiro auf der Tagesordnung – und die Zivilbevölkerung kann sich ihnen kaum entziehen. Es kann immer und überall passieren – beim Einkaufen, beim Überqueren der Straße, beim Bummeln oder auf dem Weg zum Flughafen, eine „bala perdida“, eine „verlorene“ Kugel, die aus dem Drogenkrieg oder sonstigen gewaltsamen Auseinandersetzungen querschlägt, kennt weder Tageszeit noch klare Ortsangaben. Das Problem von Gewalt ist jedoch ein landesweites Geschwür – und bei weitem kein neues. Zwischen 2001 und 2015 verzeichnete Brasilien mehr Tote durch Gewalt als alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im gleichen Zeitraum zusammen. Aktuelle Vergleichszahlen zeigen ein erschreckendes Bild der Gewaltsituation im Lande, die einem Kriegsgeschehen gleicht:
Zwischen 2001 und 2015 registrierte Brasilien durchschnittlich alle 10 Minuten ein neues Todesopfer, 6 pro Stunde, 143 pro Tag. Insgesamt 786 Tausend Menschen starben in diesem Zeitraum einen gewaltsamen Tod in Brasilien – eineinhalbmal so viel wie die Einwohnerzahl Lissabons (506 Tausend) und mehr als die Einwohnerzahl Frankfurts (701 Tausend). Im gleichen Zeitraum starben in Syrien 331 Tausend, im Irak 268 Tausend sowie durch terroristische Attentate 238 Tausend Menschen einen gewaltsamen Tod. Brasilien verzeichnet somit mehr Todesopfer durch Gewalt als die größten Kriege der 2000er-Jahre!
70% der Todesfälle im Zeitraum 2001 bis 2015 in Brasilien wurden durch Schusswaffen hervorgerufen, 442 Tausend Opfer waren gerade einmal zwischen 0 und 29 Jahre alt (56% der Todesfälle), darunter 1.300 Babys. Die Kriminalität hat in Brasilien eine Dimension erreicht, in der die Frequenz der Todesopfer durch Gewalt höher ist als das Bevölkerungswachstum (23% vs. 18,6% Wachstum zwischen 2001 und 2015).
Die Hälfte der 50 gewalttätigsten Städte der Welt liegt in Brasilien. In den 25 brasilianischen Stadtgebieten kommen jährlich über 40 gewaltsame Todesfälle auf 100.000 Einwohner. Gleich an erster Stelle der Top-10 Städte stehen São Paulo (44.335 Todesfälle) und Rio de Janeiro (36.483) gefolgt von Salvador (20.009), Fortaleza (17.984) und Recife (16.601). Zwar konnten São Paulo und Rio de Janeiro die gewaltsamen Todesfälle in absoluten Zahlen von 2015 im Vergleich zu 2001 reduzieren, jedoch liegen sie mit der Gesamtzahl der Todesopfer im Zeitraum 2001 bis 2015 klar vorn.
Schockierende Zahlen und Fakten, welche die brutale Realität abbilden. Ein Grund für die erschreckende Gewaltsituation in Brasilien sind fehlende Maßnahmen der Regierung auf Bundesebene zur Vorbeugung von Gewalt, insbesondere von Gewalt, die von Gefängnissen und den zahlreichen Drogenbanden ausgeht, sowie die Langsamkeit der Justiz. Bis es zu einer Verurteilung eines Mörders kommt, können bis zu 10 Jahre vergehen. Zudem steht das Thema „Öffentliche Sicherheit“ nicht an erster Stelle der Regierungsagenda. Zwar wurde zu Beginn des Jahres vom Justizministerium ein „Nationaler Plan zur Öffentlichen Sicherheit“ als Reaktion auf tödliche Auseinandersetzungen in mehreren Gefängnissen im Norden des Landes verabschiedet, jedoch wurde dieser bisher nur in vereinzelten Bundesstaaten umgesetzt. In Santa Catarina wurde beispielsweise eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, welche die Aktivitäten der Drogenbanden überwacht und so Kriminalität kontrolliert vorbeugen möchte – ein Gebilde, das in allen Bundesstaaten vorgesehen ist, jedoch noch nicht umgesetzt wurde. Der Bau von fünf zusätzlichen Gefängnissen, die im Nationalen Plan vorgesehen sind, befindet sich zumindest in der Anfangsphase der Umsetzung.
Den Städten kommt in der Lösung des Gewaltproblems eine tragende Rolle zu: Sie können die Reduzierung von gewaltsamen Todesfällen als Priorität im Bereich der öffentlichen Sicherheit definieren und die Bevölkerung dadurch direkt profitieren. Gewalt ballt sich üblicherweise in bestimmten Regionen der Kommunen. Dort können Stadt-verwaltungen mit sozialen und wirtschaftlichen Politikmaßnahmen ansetzen und Gewalt lokal vorbeugen. Beispielsweise können Schulabgänger, die ein potentiell höheres Gewalt-Risiko aufweisen, aktiv aufgesucht und in Programme aufgenommen werden. Ebenso fallen Straßenbeleuchtung, die Schaffung von sicheren Gemeinschaftsplätzen, Bewachung durch „guardas municipais“ (eine Art brasilianische Ordnungshüter) und öffentlicher Personennahverkehr in den Verantwortungsbereich der Kommunen.
Es gibt erste vielversprechende Lösungsansätze auf Kommunalebene, die von den Städten ausgehen: Die lateinamerikanische Kampagne „Instinto de Vida“ (dt. Lebensinstinkt) vereinigt 55 NGOs, die Stadtverwaltungen einen Maßnahmenplan zur Verbesserung der öffentlichen Sicherheit näher bringt. Einige brasilianische Städte haben sich der Initiative bereits angeschlossen und haben sich damit dazu verpflichtet erklärt, eine Sicherheitsstrategie auf Kommunalebene zu erarbeiten und umzusetzen, mit dem Ziel, die Mordrate innerhalb von 10 Jahren zu halbieren.
Es sind lokale Aktivitäten einzelner Bundesstaaten, die versuchen, der Gewaltprävention aktiv zu begegnen. Das Problem als eine strukturierte landesweite Aufgabe anzugehen, ist jedoch von grundlegender Bedeutung, um die strukturelle Kriminalität und Sicherheitsprobleme des Landes nachhaltig zu lösen. Brasilien hat noch einen weiten Weg vor sich.
Quelle: O Globo, S. 1 und 7-9, vom 12.12.2017